Kapitel 1

Lorenzo

Jeder erlebt irgendwann in seinem Leben etwas, was man nie wieder vergisst. Etwas, was einen so großen Eindruck hinterlässt, dass man nachher die Welt mit anderen Augen betrachtet. Die Prioritäten frisch anordnet. Neue Dinge als wichtig erachtet. Etwas, was so heftig ist, dass man plötzlich ein anderer Mensch wird. Vielleicht nicht für Außenstehende sichtbar, nur man selbst spürt es.

Irgendwie hatte ich immer erwartet, dass dieses bedeutungsvolle Erlebnis erst später in meinem Leben eintreffen würde. Wenn ich schon Enkelkinder und eine steile Karriere als Arzt hinter mir hatte und in einem riesigen Haus mit drei Autos in der Garage wohnen würde.

Dass ich dann, nach all den Jahren, verstehen würde, dass mein Streben nach Reichtum und Erfolg sinnlos gewesen war. Dass andere Dinge im Leben wichtiger waren, so wie die Familie, die Gesundheit und das eigene Glück.

Doch dieser alles entscheidende Moment kam, als ich gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt war. Jahrzehnte früher als erwartet. Zu früh, zu überraschend und doch zur richtigen Zeit.

Der Moment kam, als ich Jules Hyatt traf.

Wunderschön und engelsgleich lag sie in dem weißen Bett in dem noch weißeren Krankenhauszimmer der neurologischen Intensivstation. Ihre braunen Haare auf dem Kissen ausgebreitet, ihre makellosen Gesichtszüge entspannt und gelassen. Sie sah so friedvoll aus, wären da nicht die ganzen Schläuche und Maschinen gewesen, an denen sie hing. Der Verband um ihren Kopf. Der dunkle Bluterguss an der Seite ihres Gesichts.

Ihre Schönheit raubte mir im ersten Moment den Atem. Ihre Geschichte dagegen zerstörte etwas in mir.

»Jules Hyatt, siebzehn, wurde heute Nacht nach einem missglückten Suizidversuch eingeliefert und nach erfolgter Trepanation ins künstliche Koma versetzt«, erklärte Dr. Ronson neben mir mit gleichgültiger Stimme, während ich mit zwei weiteren Mitstudenten auf das Mädchen vor uns starrte.

Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Sah sie an, verstand nicht, dass dieses Leben vielleicht nur durch Glück und Zufall noch existierte.

»Wie ...?«, fragte Mona neben mir leise. Mein Blick blieb an der Hirndrucksonde hängen, die von ihrem Kopf wegführte.

»Sie ist von der Kings Bridge in den Fluss gesprungen. Sie war leicht unterkühlt, hatte eine Kopfverletzung und war nicht bei Bewusstsein, als sie aus dem Wasser gezogen wurde. Sie hat ein Schädelhirntrauma mit einer Gehirnschwellung als Folge erlitten«, antwortete Dr. Ronson in seiner gewohnt zackigen Art. »Wie ist normalerweise der weitere Verlauf?«, fragte er dann an mich gewandt.

Ich verdrängte die Bilder von diesem Mädchen, das allein im kalten, dunklen Wasser darum kämpfte, endlich ihren Frieden zu bekommen. Ich schluckte.

»Das Koma soll so lange wie nötig, aber so kurz wie möglich gehalten werden. Abgesehen von den Vitalwerten, soll auch der Hirndruck überwacht werden, und erst wenn die Schwellung deutlich zurückgegangen ist, kann das Koma beendet und die Öffnung des Schädels wieder geschlossen werden«, sagte ich leise, als könnte ich sie wecken, falls ich zu laut sprach.

Dr. Ronson nickte knapp. »Der Rest steht in der Akte.«

Seth, der neben Mona stand, fuhr sich nervös durch die Haare. Das war das erste Mal für uns alle drei, dass wir persönlich mit einer Selbstmordkandidatin Bekanntschaft machten.

Wie ging man mit so etwas um?

Dr. Ronson sah sich einige Werte in der digitalen Patientenakte an, als wären es gleichgültige Zahlen, und wandte sich daraufhin zum Gehen. Mona und Seth folgten relativ schnell, verließen fast schon fluchtartig den Raum.

Ich blieb noch einige Sekunden regungslos stehen.

Was hatte dieses Mädchen dazu gebracht, diesen Schritt zu gehen?

Wieso hatte sie nicht mehr leben wollen? War ihr alles aussichtslos erschienen? War dies ein Hilferuf? Oder hatte sie tatsächlich nichts gehabt, wofür es sich zu leben gelohnt hatte?

Als ich realisierte, dass ich im Zimmer nur mit meinen Gedanken allein war, beeilte ich mich, hinter den anderen herzukommen. Versuchte Jules für einen kurzen Moment zu vergessen, um mich auf die nächsten Patienten konzentrieren zu können.

Seit zweieinhalb Wochen war ich auf der neurochirurgischen Intensivstation als Teil meines Medizinstudiums tätig. Dies war meine zweite Famulatur hintereinander. Davor war ich in der Allgemeinchirurgie gewesen. Die Tage waren lang, hart, anspruchsvoll. Wenn ich nach meinen Schichten nach Hause kam, taten mir die Füße und der Rücken weh. Mein Kopf summte, und die Müdigkeit vereinnahmte meinen ganzen Körper.

Ich lernte, hörte zu, saugte Wissen in mich auf, arbeitete, lernte und schlief. Verarbeitete das Gesehene ziemlich schnell.

Doch bei Jules war es anders.

Als wir nach einer weiteren halben Stunde unsere Visite beendet hatten, zog es mich fast wie magnetisch zu ihrem Zimmer zurück. Ich war für gewöhnlich nicht der sentimentale Typ. Vielleicht war ich das auch jetzt nicht.

Aber ich war neugierig.

Als ich mich dem Zimmer näherte, hörte ich von innen Schluchzen und leises Flüstern. Ich sah einen Mann und eine Frau, eng umschlungen, vereint in ihrer Trauer.

Es mussten Jules' Eltern sein.

Ich konnte mir gar nicht ausmalen, wie es ihnen jetzt wohl ging. Sie machten sich Sorgen, keine Frage.

Und sie machten sich bestimmt auch Vorwürfe.

Was hatten sie übersehen? Was hatten sie nicht verstanden? Wo hatten sie versagt?

Und vor allem: Warum?

Ich drehte mich wieder um und ließ die beiden mit ihrer Trauer allein.

***

Stunden später ging ich mit müden Schritten in die Cafeteria, holte mir ein Sandwich und setzte mich allein an einen Tisch in der Ecke.

Die älteren Ärzte, mit denen ich schon zusammengearbeitet hatte, und die Dozenten an der Uni hatten uns oft vorgewarnt. Wir würden es nicht schaffen, uns gefühlsmäßig nicht zu involvieren. Es würde uns unter die Haut gehen. Wir würden die Schicksale der Menschen, mit denen wir zu tun hatten, mit nach Hause nehmen.

Ich hatte ihnen nie geglaubt.

Bis jetzt.

Seth kam mit einem Salat zu mir, setzte sich neben mich, begann wortlos zu essen.

»Ganz schön krass, das mit dem Mädchen da«, meinte er dann. Er würde es nicht zugeben, aber ich war mir sicher, dass er das Bedürfnis verspürte, über Jules zu reden, um das Gehörte so zu verarbeiten.

»Wieso macht man so was?«, quatschte er weiter. »Die hat eindeutig einen an der Klatsche.«

Bei seinen Worten zog sich alles in mir zusammen.

»Das weißt du doch gar nicht«, sagte ich ruhig und bestimmt. »Sie hat bestimmt ihre Gründe gehabt. Aus Spaß macht man so was ganz sicher nicht.«

Ich rechtfertigte die Tat eines Mädchens, das ich gar nicht kannte. Es fühlte sich richtig an.

»Wie auch immer.« Seth zuckte mit den Schultern, tat so verdammt gleichgültig. Irritiert betrachtete ich ihn, während er Salat in seinen Mund schaufelte.

Mir war klar, dass das Thema Selbstmord immer ziemlich ambivalente Gefühle hervorrief. Trotzdem ging mir seine verurteilende und voreingenommene Einstellung gewaltig gegen den Strich.

Und erinnerte mich daran, wieso ich nie mit in die Bar ging, wenn er mich auf ein Bier einlud.

In Schweigen aß ich zu Ende. In Gedanken bei diesem einen Mädchen, das mich mehr beeinflussen würde, als ich zu dem Zeitpunkt ahnen konnte.

***

Meine Wohnung war klein und spartanisch eingerichtet, nur die nötigsten Möbel und Gegenstände waren vorzufinden. Von Schnickschnack keine Spur.

Ich verbrachte eh nie viel Zeit zu Hause.

Und sollte mir die Wohnung doch zu eng werden, kletterte ich einfach über die Feuerleiter aufs Dach, von wo aus es eine hervorragende Aussicht über die Stadt gab. Dort oben war ich allein. Es gab nur mich, meine Gedanken und, so wie jetzt, die Sterne am tiefschwarzen Himmel.

Ich lag auf dem Rücken, die Hände unter meinem Kopf verschränkt, und starrte in die Nacht. So viele Gefühle tobten in meinem Innern, dass es beruhigend war, auf die unendliche Weite des Universums zu blicken.

Ich bekam Jules einfach nicht aus dem Kopf.

Ich bekam ihre Geschichte nicht aus dem Kopf.

Was brachte einen Menschen dazu, sich das eigene Leben zu nehmen?

Ich hatte noch nie Selbstmordgedanken gehabt. Nie hatte ich überlegt, meiner Existenz ein Ende zu setzen. Ich schätzte das Leben samt seinen Überraschungen zu sehr.

Natürlich hatte ich auch schon Tiefphasen gehabt.

Zum Beispiel, als Ilaria vor einem Jahr mit mir Schluss gemacht hatte. Sie hatte mir das Herz gebrochen, und ich verlor für einige Wochen die Lust an allem. Aber sogar da war alles nicht so schlimm, grau und trist gewesen, dass der Tod für mich eine Erleichterung dargestellt hätte.

Ich seufzte.

Wie es Jules wohl gehen würde, wenn sie irgendwann langsam aufwachte?

Würde sie physische, bleibende Schäden davontragen? Vielleicht sogar gravierende?

Und wie würde es mit ihrem psychischen Wohlbefinden aussehen?

Würde sie traurig sein? Enttäuscht? Wütend sogar?

Oder wäre ein kleiner Teil in ihr vielleicht erleichtert, dass sie noch am Leben war?

Ich schloss die Augen.

Ich sollte mir wirklich nicht so viele Gedanken über sie machen. Ich konnte ihr im Moment eh nicht helfen. Sie lag im Koma, bekam nichts von alldem um sie herum mit. Sie wusste nicht einmal, dass ich an sie dachte.

Doch ich konnte einfach nicht anders. Irgendetwas an ihr ließ mich nicht wieder los.

Ich kramte mein Handy aus der Hosentasche und sah auf das Display. Halb zwölf.

Stöhnend erhob ich mich und kletterte langsam die Feuertreppe nach unten und durch mein Wohnzimmerfenster. Morgen würde der Tag genauso lang und hart werden wie der heutige. Und abends wäre ich noch bei meinen Eltern. Meine überfürsorgliche Mutter hatte mich seit zwei Wochen nicht gesehen und hatte deswegen angerufen, um mich einzuladen. Sie machte sich wie immer Sorgen.

Doch dazu gab es nun wirklich keinen Grund.

***

Wie erwartet, war ich am nächsten Morgen müde. Das war inzwischen fast ein Dauerzustand. Das Medizinstudium und vor allem auch die Famulaturen waren einfach kein Zuckerschlecken, aber ich wollte es so sehr, dass ich den Stress, den dieses Studium und alles, was dazugehörte, mit sich brachte, einfach in Kauf nahm.

Ich wollte Menschen helfen. Sie gesund machen. Ich wollte in dieser Welt etwas bewirken.

Mit einem Thermobecher randvoll mit heißer Schokolade in der Hand machte ich mich auf den Weg zum Krankenhaus. Und ja, dass das ein Mädchengetränk war, hatte ich schon oft genug gehört. Trotzdem half mir nun mal Zucker fast besser als Koffein, auch wenn ich gern mal einen Kaffee trank.

Ich ignorierte also die belustigten Kommentare meiner Mitmenschen und schlürfte einfach weiterhin meinen Kakao. Sollten sie doch denken, was sie wollten.

Im Grand General University Hospital angekommen, begab ich mich wie jeden Morgen in die Personalschleuse der Intensivstation, wo ich mir meinen blauen Kasack und die dazugehörige Hose anzog. An manchen Tagen fühlte es sich so an, als würde man sich mit der Krankenhauskleidung auch einen mentalen Schutz anziehen. Als müsste man sich vor dem bevorstehenden Tag wappnen.

Ich begab mich zum Stationsstützpunkt, begrüßte auf dem Weg einige Ärzte und Pfleger und sah mir dann den Dienstplan an. Die Schicht heute hatte ich unter anderem zusammen mit Larissa und Paul, zwei erfahrene Intensivpfleger, die von uns Studenten oft als Mentoren angesehen wurden. Damit konnte ich leben. Um neun würde ich wie immer bei der Visite des Stationsarztes zugegen sein. Obwohl ich schon ein paar Wochen hier arbeitete, durfte ich nur wenige Tätigkeiten allein – oder teilweise unter Aufsicht – erledigen.

Als Famulant durfte ich keine Diagnosen stellen, natürlich auch nicht selbst operieren und auch keine Medikamente verabreichen. Deshalb galt es, so viel Wissen wie möglich übers Beobachten aufzusaugen. Und auf einer Intensivstation musste man sich schon arg konzentrieren, weil das Tempo einfach höher war.

Blutabnehmen war jedoch eine der Disziplinen, die wir Medizinstudenten schon früh zu beherrschen lernten. In der ersten Woche meiner Famulatur hatte man mir dabei noch über die Schulter gesehen, mittlerweile durfte ich es allein durchführen. Als Erstes würde ich deswegen meine Liste mit den Patienten durchgehen, die eine tägliche Blutabnahme benötigten. Dann würde auch schon die Visite anstehen.

Und ich würde Jules wiedersehen.

Schnell verbannte ich diesen Gedanken wieder. Was hatte dieses Mädchen nur an sich, dass sie mir nicht aus dem Kopf ging?

Ich hatte hier auf der Intensivstation während meines Praktikums schon einige schwere Schicksale miterlebt, aber Jules' hatte sich in mein Inneres eingebrannt.

Vielleicht, weil sie noch so jung war. Vielleicht, weil sie in dem Krankenhausbett so unschuldig aussah, so friedlich. Vielleicht, weil sie ihr Leid bewusst verschuldet hatte.

»Hey, Lorenzo! Na, schon wieder am Faulenzen?«, begrüßte mich in dem Moment Paul und schlug mir so unerwartet auf den Rücken, dass er mir vor Schreck beinahe einen Herzinfarkt verpasst hätte.

»Mann, wenn du so was noch mal machst, dann kannst du mich gleich in das nächste Bett legen und persönlich gesund pflegen«, meinte ich lachend und war froh, dass er mich aus meinen doch eher trübsinnigen Gedanken gerissen hatte.

Ich mochte Paul, er war mir hier eigentlich sogar einer der liebsten Mitarbeiter, und wir verstanden uns einfach gut. Er war schon seit über einem Jahr hier Pfleger, und sowohl Patienten als auch Ärzte liebten ihn. Er brachte einfach überall gute Laune hin, was vor allem in diesem Bereich wichtig war, begegnete man doch jeden Tag den schlimmsten Schicksalen.

»Kommst du nach den Blutabnahmen zu mir?«, fragte er, während ich mir einen Wagen schnappte und überprüfte, ob er richtig bestückt war.

»Gern«, gab ich gut gelaunt zurück und packte noch ein paar zusätzliche Kanülen in meine Nierenschale, bevor ich noch einmal einen Blick auf meine Liste warf, damit ich keinen Patienten vergaß. Paul war schon ins nächste Patientenzimmer verschwunden. Er war immer nur zwei bis drei Patienten zugeteilt, da die engmaschige Überwachung einfach nicht genügend Raum ließ, noch mehr Menschen gleichzeitig zu versorgen. Vor allem bei schweren Fällen konnte man sich kaum eine Pause erlauben, da es konstant etwas zu tun gab.

Die nächste halbe Stunde erlaubte ich mir bei den wenigen wachen Patienten den einen oder anderen passenden, aber humorvollen Kommentar, füllte gefühlt zehn Liter Blut in kleine Entnahmeröhrchen und bereitete die Proben für den Transport ins Labor vor.

»Doch wieder mit den Patienten geflirtet?«, ärgerte mich Paul, als ich ihn endlich am Stationsstützpunkt traf.

»Das sind die beiden Patienten, die ich heute betreue«, erklärte er mir und zeigte auf die Übersicht, die an dem Whiteboard hing, für jeden Mitarbeiter auf der Station gut sichtbar. Ich warf einen kurzen Blick auf die Namen. Myrna Irgendwas-nicht-Aussprechbares und Jules Hyatt.

»Dann lass uns loslegen«, meinte Paul hypermotiviert wie immer, während ich noch in meiner kleinen Starre dastand und nur daran denken konnte, dass ich Jules gleich wiedersehen würde.

Und ich verstand nicht einmal genau, warum mich dieser Gedanke so mitnahm.

»Zu wem gehen wir zuerst?«, wollte ich von Paul wissen.

»Erst Myrna, dann Jules. Myrna hatte aufgrund eines gerissenen Hirnaneurysmas eine Hirnblutung, ist jetzt halbseitig gelähmt, und da noch das Risiko einer Hirnschwellung besteht, ist sie bei uns unter Beobachtung. Wir müssen zusehen, dass wir ihr wieder zurück ins Leben helfen«, fasste Paul kurz für mich zusammen, während wir uns auf den Weg zu Zimmer 211 machten.

Zurück ins Leben helfen. So wie Jules.

Aber hatten wir ihr überhaupt geholfen? Oder hatten wir sie in ein Leben zurückgeholt, in dem sie nicht mehr sein wollte? In dem sie vielleicht ab jetzt mit körperlichen Einschränkungen zurechtkommen müsste?

Mir war vollkommen bewusst, unter welchen Umständen man in ein künstliches Koma versetzt wurde. Und das waren definitiv keine gemütlichen Umstände. Wie es bei Jules der Fall war, konnte es zum Beispiel eine Einblutung ins Gehirn sein, die beim Aufprall auf dem Wasser entstanden war. Damit sich dieses Hämatom zurückbilden kann, wird eine Entlastungstrepanation durchgeführt. Hierbei wird die Schädeldecke zur Druckentlastung chirurgisch eröffnet und der Patient anschließend in ein künstliches Koma versetzt. Sobald sich das Hämatom zurückgebildet hat, wird die Schädeldecke wieder geschlossen und die Aufwachphase beginnt. Diese kann ein paar Tage oder auch einige Wochen dauern, erst dann kann man genau feststellen, ob bleibende Schäden vorhanden sind.

Auch wenn alles gut verlief und sie wieder aufgeweckt werden konnte, kaum bleibende Schäden vorhanden wären, war ihr Genesungsweg noch lange nicht zu Ende.

Erst einmal hieß es dann für sie, noch viele Tage im Krankenhaus unter Beobachtung zu stehen, anschließend käme sie für mehrere Wochen zur Rehabilitation.

Und das stellte ich mir für eine Siebzehnjährige sterbenslangweilig vor.

»Lorenzo? Hey!« Paul fuchtelte vor meinem Gesicht herum, und ich musste ein paarmal blinzeln, um wieder in der Gegenwart anzukommen. »Du warst grad meilenweit weg, meine Güte«, meinte Paul amüsiert.

»Entschuldige, jetzt bin ich wieder voll da.« Vor Jules hatte ich nie derartige Aussetzer gehabt. Ich hatte jede Silbe in mich aufgesogen, die einer der Pfleger oder Ärzte von sich gegeben hatte, war nicht eine Sekunde abgelenkt gewesen.

Und jetzt kreisten meine Gedanken permanent um ein suizidgefährdetes Mädchen.

Obwohl suizidgefährdet wohl nicht mehr der richtige Ausdruck war, da sie ja bereits einen Suizidversuch hinter sich hatte. Andererseits war sie noch immer gefährdet. Sie würde auf jeden Fall psychologische Betreuung erhalten. Aber gut, im Koma brauchte sie die natürlich noch nicht wirklich.

»Guten Tag, Myrna, wie geht es dir heute?« Paul war offensichtlich mit der Patientin schon per Du. Oder er wusste auch nicht, wie ihr Nachname ausgesprochen wurde.

Die Patientin befand sich wie Jules in der Oberkörperhochlagerung, um allein schon dadurch zu verhindern, dass der Hirndruck anstieg. Sie war wach und lächelte uns mit einem schiefen Grinsen müde zu. Eine kleine Kopfbewegung diente als Gruß ihrerseits.

Jetzt reiß dich zusammen und lern was!, ermahnte ich mich und verbannte Jules völlig aus meinen Gedanken, um mich auf Paul zu konzentrieren und mir zu merken, wie er an die Pflege heranging und welche Bewegungen er mit Myrnas Arm und Bein vollführte. Üblicherweise kamen Physiotherapeuten oder Krankengymnasten, um diese Form der Therapie durchzuführen, den meisten Pflegern waren die Vorgänge aber gezeigt worden.

Die nächsten zwanzig Minuten bewegte Paul ihre Gliedmaßen, um die Blutzirkulation und die Muskeln anzuregen. Langsam spürte sie sogar schon wieder ein bisschen was, und er gab ihr einen kleinen Ball, den sie mit der Hand zu kneten versuchen sollte, jeden Tag so oft und so fest wie möglich.

Myrna tat sich noch schwer mit dem Sprechen, die Augen der etwa Fünfzigjährigen strahlten Paul jedoch freundlich an. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn Paul mit seinen braunblonden Haaren und Grübchen hatte eine spitzbübische und extrem freundliche Ausstrahlung, die solche Reaktionen vonseiten der Patienten fast schon zwingend hervorrief.

Und genau das war es, was ich wollte.

Die Menschen, die ich behandelte, sollten wieder glücklich werden und ihre Lebensqualität zurückerhalten.

»So, dann sehen wir uns morgen wieder«, verabschiedete sich Paul, und mir schoss dabei der völlig unpassende Kommentar Bloß nicht davonlaufen! durch den Kopf. Gut, dass ich das nicht laut ausgesprochen hatte.

»Ich hoffe, du hast gut aufgepasst. Wir gehen jetzt nämlich zu Jules, und da wir bei ihr den gesamten Körper anregen müssen, übernimmst du die eine Seite und ich die andere.«

Ich war dankbar dafür, dass ich mithelfen durfte. Ich sollte ja etwas lernen, und wie lernte man besser als direkt in der Praxis und unter anfänglicher Beaufsichtigung.

»Geht klar«, sagte ich also nur und spielte in Gedanken noch mal die Abläufe ab, die ich gerade eben gesehen hatte. Gut, dass ich doch aufgepasst hatte. Und ein wenig konnte ich mich auch an das Gelernte aus meinem Krankenpflegerpraktikum in meinen allerersten Semesterferien erinnern, aber es war wirklich erschreckend, wie schnell man vergaß.

Als wir uns Jules' Zimmer näherten, spürte ich, wie sich mein Herzschlag ein wenig beschleunigte. Jules war so anders als alle anderen Patienten hier. Das sagte ich mir zumindest selbst, denn eigentlich hatte ich keine Beweise, dass es sich so verhielt. Trotzdem löste Jules' Schicksal etwas in mir aus.

Paul öffnete die Tür und ich vernahm gleich eine kleine Veränderung.

Jules' Eltern hatten in der Zwischenzeit einige von ihren persönlichen Gegenständen mitgebracht, auch wenn auf einer Intensivstation nicht viele Dinge erlaubt waren. Am Fußende des Bettes saß ein Stofftier, das so aussah, als hätte es schon einige Jahre mit Jules erlebt, und daneben lag ein flauschig aussehendes Kissen mit Patchworkmuster.

»Ich habe gehört, dass ihre Eltern gestern mit einer halben Wagenladung von Jules' persönlichen Sachen aufgetaucht sind. Sie wollten Blumen, eine Tagesdecke und Bücher hierlassen und hatten sogar ein Wandbild dabei.« Paul schüttelte den Kopf. »Die Nachtschicht hatte wohl ein wenig Mühe, ihnen zu erklären, dass sie nur ein paar wenige Dinge hierlassen dürfen.«

Ich trat näher an das Bett heran und betrachtete die Habseligkeiten genauer, als könnten sie mir direkt etwas über Jules erzählen. Ich war so in meinen Gedanken versunken, sah Jules in ihrem eigenen Bett zu Hause liegen, in ihrem Zimmer, mit ihren persönlichen Gegenständen, dass der ganze Raum auf mich plötzlich nicht mehr so kalt und steril wirkte.

Bis das kontinuierliche Piepen der Geräte, an denen Jules angeschlossen war, wieder in mein Bewusstsein drang und ich mit einem Mal auch all die Dinge wahrnahm, die mir mehr als deutlich zeigten, dass dies hier mit Sicherheit nicht Jules' Zimmer war.

Der Verband an ihrem Kopf. Der Bluterguss in ihrem Gesicht. All die Schläuche, die von ihrem Körper ausgingen, unter anderem der Beatmungsschlauch und die Katheter. Die absolut weißen Krankenhauswände. Und der Geruch.

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es bei Jules zu Hause nach Desinfektionsmittel roch.

»So, meine liebe Jules, hier sind wir. Wir werden dich jetzt ein wenig bewegen, damit das Blut in deinem Körper schön zirkuliert und du dich nicht mit eingeschlafenen Beinen herumschlagen musst. Das ist doch immer so lästig, wenn dann die Ameisen anfangen, dort rumzukriechen«, plauderte Paul mit ruhiger Stimme los, als könnte Jules jedes Wort verstehen.

Vielleicht tat sie das ja sogar. Es hieß ja, dass man mit Komapatienten unbedingt reden, ihnen Musik oder Hörspielkassetten vorspielen und sie auch berühren, streicheln, liebkosen sollte, weil sie das vermutlich unterbewusst alles aufnahmen und dies sogar ihren Heilungsprozess günstig beeinflussen konnte.

Und gerade Jules konnte Positives in ihrer Situation mit Sicherheit gut gebrauchen.

»Meinst du, sie spürt das hier? Die Anwesenheit ihrer persönlichen Dinge?«, fragte ich ihn leise.

Paul überlegte kurz und bestätigte dann: »Ja, natürlich nicht so direkt wie unsere Berührungen oder wie wenn sie die vertrauten Stimmen ihrer Eltern hört. Aber ich denke, dass diese Geborgenheit, die ihre persönlichen Dinge ausstrahlen, sich auf uns übertragen und wir das Jules so weitergeben können«, meinte er zuversichtlich.

Der Gedanke gefiel mir. Auch wenn wir uns ja eigentlich nicht sicher sein konnten, dass ihre Sachen für sie Geborgenheit darstellten.

»Gut, dann machen wir uns jetzt lieber an die Arbeit.« Paul ging voller Tatendrang, jedoch mit bedachten und ruhigen Bewegungen zu Jules und sah abwartend zu mir. Ich rappelte mich auf und stellte mich auf die andere Seite.

Ich sah zu Paul und kopierte seine Bewegungen und Übungen, damit ich alles so richtig wie möglich machte, während er Jules jeden einzelnen Schritt erklärte, damit wir auch nichts taten, ohne dass sie vorher Bescheid wusste. Theoretisch zumindest.

Vorsichtig griff ich nach Jules' Arm und spürte ein immenses Kribbeln, das durch meine Finger schoss, als ich sie berührte. Unwillkürlich begann ich schwerer zu atmen, als ich sie auch mit meiner anderen Hand anfasste.

Was zum Teufel war mit mir los?

Durch die ganzen Anschlüsse konnten wir Jules nicht so wie zum Beispiel Myrna bewegen und mussten sie deswegen an manchen Stellen eher massieren. Es erforderte einiges an Konzentration und Geduld.

Als wir bei Jules' Beinen angelangt waren, wurde mir auf einmal bewusst, wie nah wir ihr eigentlich waren. Sie schlief, und wir fassten sie an Stellen an, die wir unter normalen Umständen nie berühren würden.

Dass dies unsere Pflicht war, wusste ich. Mir war auch klar, dass das hier zu ihrem eigenen Besten war. Trotzdem musste ich einmal schwer schlucken, weil wir mit Sicherheit eine persönliche Grenze überschritten, ohne dass Jules sich dagegen wehren konnte.

»Lorenzo, alles klar?« Pauls Stimme drang plötzlich zu mir durch.

»Äh, ja klar«, meinte ich und räusperte mich, versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

»Dir ist es doch nicht unangenehm, weil sie ...?«, fragte Paul leise, ließ den letzten Teil seiner Frage unausgesprochen. Ich hob den Blick.

»Was? Nein! Überhaupt nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nur ...«

Nur was?

Dass mich ein fremdes Mädchen im Koma allein durch ihre Existenz so durcheinanderbrachte, dass ich kaum wusste wohin mit mir?

Das würde ich definitiv nicht so sagen.

»Woher weiß man überhaupt, dass sie das wollte?«, fragte ich stattdessen. »Es könnte doch auch ein Unfall gewesen sein.«

»Es gab Zeugen. Das waren auch die, die sie aus dem Wasser gezogen haben.«

Ich blieb stumm, während ich weiterarbeitete. Ich merkte, wie mich diese neue Information enttäuschte. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass das alles hier irgendwie ein Missverständnis war.

Einige Zeit später waren wir fertig, und ich atmete erleichtert aus.

»So, genau rechtzeitig zur Visite«, sagte Paul lächelnd und verschwand durch die Tür. Ich tat es ihm gleich, blieb dabei aber irgendwie an der Decke hängen, sodass der Teddybär und das Kissen vom Bett herunterfielen. Ich bückte mich erst nach dem Teddybären und setzte ihn lieber auf den Tisch, damit er nicht störte, und hob dann das Kissen auf. Verwundert betrachtete ich das ungewöhnlich harte Kissen in meiner Hand. War da etwa ...? Ich konnte Kanten innerhalb des Kissens ertasten. Ich drehte das Kissen, öffnete den Reißverschluss und zog ein in schwarzes Leder eingebundenes Buch heraus, das einem Kalender glich. Ich strich mit meinen Fingern darüber, als sich ein unmöglicher Gedanke in mein Gehirn schlich.

Ich sah kurz über die Schulter, dann öffnete ich langsam das Buch, schlug es auf der ersten Seite auf, wo sich Jules' feminine Schrift über das Blatt schnörkelte. Mein Herz begann hart in meiner Brust zu schlagen.

Das hier war nicht ihr Kalender.

Das hier war ihr Tagebuch.

Kurz starrte ich auf die Seite, die ich aufgeschlagen hatte. Ich nahm keins der dort geschriebenen Worte wirklich wahr, sah nur ihre Schrift an.

»Wo bleibst du denn, Mann? Die Visite beginnt jetzt, und du weißt, dass wir pünktlich sein müssen!« Pauls Stimme riss mich aus meiner Starre und ich klappte das Buch zu.

»Ich komme!« Schnell versteckte ich das Buch wieder an seinem Platz, legte das Kissen zurück aufs Bett und lief dann eilig hinter Paul her, sodass wir gerade noch rechtzeitig ankamen, bevor Dr. Ronson die Visite begann, zig Augenpaare der Ärzte und Pfleger auf ihn gerichtet.

»Gesellen sich die Herren auch noch zu uns?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, die sein Missfallen ausdrückte.

»Wir haben soeben noch die Krankengymnastik bei Jules Hyatt beendet«, erklärte Paul, und der Arzt wirkte ein wenig besänftigt. Immerhin hatten wir nicht irgendwo ein Kaffeekränzchen abgehalten, sondern nur unseren Job gemacht.

Mein Herz pochte noch immer wie wild, aber ich wusste nicht genau, ob es daran lag, dass ich fast zu spät bei der Visite erschienen war, oder daran, dass ich Jules' Tagebuch in Händen gehalten hatte.

Das Tagebuch, in dem vielleicht der Grund stand, weshalb Jules sich das Leben hatte nehmen wollen.

Oder die Gründe, besser gesagt.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine einzige Sache das Leben eines Menschen so sehr aus der Bahn werfen konnte, dass er keinen Sinn mehr darin sah.

Es musste mehrere Gründe dafür gegeben haben, die Jules immer weiter in den Abgrund gezogen hatten, bis sie schließlich das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr erkennen konnte.

Denn das gab es. Immer.

Ich war mir ganz sicher, dass man aus jeder Situation – und sollte sie noch so ausweglos erscheinen – auch wieder einen Weg ans Licht fand.

Man konnte mit jeder Situation zurechtkommen, man musste nur den richtigen Weg für sich selbst finden und eventuell auch Hilfe von anderen annehmen.

Wie lange Jules wohl schon keinen Ausweg mehr gesehen hatte? Wie lange sie schon mit dem Gedanken gespielt hatte, allem ein Ende zu setzen?

Von der Visite bekam ich kaum ein Wort mit. Ich war zwar körperlich anwesend und registrierte auch, was Dr. Ronson sagte, nur dass alles zum einen Ohr rein- und beim anderen gleich wieder rausging.

Nur Jules nicht.

Auch ihr statteten wir einen Besuch ab, standen um ihr Bett herum und begutachteten sie wie ein Tier im Käfig.

Das alles kam mir so falsch vor.

Sie sollte hier nicht liegen und sich von uns anstarren lassen müssen.

Jules sollte jetzt irgendwo mit ihren Freunden draußen sein, lachen, Blödsinn machen. Ihr Leben genießen.

Stattdessen lag sie hier, und ich fragte mich warum.

Mein Blick huschte wie magisch angezogen wieder zu dem Kissen, in dem sich das kleine lederne Büchlein verbarg, in dem Jules' Gedanken, Ängste, Wünsche, Sehnsüchte standen.

Und vielleicht die Antwort auf mein Warum.

Beziehungsweise eines meiner Warums.

Wie hatten Jules' Eltern das Tagebuch übersehen können, als sie das Kissen hergebracht hatten? Ich hatte es nur kurz aufgehoben und war sofort stutzig über die Unförmigkeit geworden. Sie sollten jetzt zu Hause sitzen und jede einzelne Silbe darin analysieren und bewerten. Bei dem Gedanken daran, dass Paul, Dr. Ronson oder sogar Seth ihr Tagebuch an meiner Stelle gefunden hätten und lasen, wurde mir fast schlecht. Kurz überlegte ich, das Tagebuch später zu holen und in meinen Spind zu sperren, doch ich verwarf die Idee gleich wieder. Das wäre einfach nicht richtig.

»Lorenzo, hey, komm jetzt, verdammt!«

Paul schlug mich in die Seite, und ich fuhr erschrocken hoch. Die anderen hatten schon den Raum verlassen.

»Alter, was ist los mit dir? Hast du heute Nacht nicht geschlafen, oder was?«

»Ich ... Äh ...« Schnell folgte ich ihm aus dem Zimmer, und wir schlossen zu den anderen auf.

»Konzentrier dich einfach, okay?« Paul sah mich vielsagend an und ich nickte. Ich wusste, dass er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, weil ich normalerweise nie so durcheinander und abgelenkt war. Trotzdem erwartete er von mir, wie von allen anderen Studenten, dass ich mein Bestes gab.

»Kommst du nach Feierabend noch mit auf ein Bier?«, fragte er mich, als die Visite zu Ende war, und mir wurde klar, dass zwischen uns noch alles im Lot war.

»Tut mir leid, meine Mama will mich sehen«, entschuldigte ich mich halbwegs, weil ich genau wusste, wie sich das anhörte.

»Du bist also tatsächlich das typisch italienische Klischee. Nicht nur verdammt gut aussehend, sondern auch voll das Muttersöhnchen«, ärgerte er mich.

»Wenigstens kriege ich heute Abend eine ordentliche Mahlzeit anstatt der Tiefkühlpizzen, die du dir immer machst, um sie dann mutterseelenallein in deiner Wohnung zu essen«, feuerte ich zurück, ohne ihn anzusehen, und konnte mir dabei nur schwer das Zucken um meine Mundwinkel verkneifen.

Allein nicht mehr in einem Raum mit Jules zu sein half mir, meine innere Ruhe wiederzufinden. Wieder ich selbst zu sein. Sie ein wenig auf Abstand zu halten, weil sie sonst jeden Teil von mir vereinnahmen würde.

»Alles klar, das habe ich wohl verdient.« Paul räusperte sich und verschränkte die Arme vor der Brust, tat so, als würde er Dr. Ronson konzentriert zuhören, der noch irgendwelche Bemerkungen äußerte.

»Also, falls du dich nach ein wenig mütterlicher Zuneigung sehnst, bin ich mir sicher, dass ich dich gern mitbringen darf.«

»Hast du denn eine heiße Schwester, dass sich so ein Besuch lohnen würde?«

»Ich habe eine heiße Schwester, aber ob sie heute auch da ist, weiß ich nicht.«

»Dann warte ich lieber auf eine Einladung, wo ich mir sicher bin, dass sie auch kommt.«

»Der Tag wird vielleicht niemals kommen. Willst du nicht diese womöglich einmalige Chance ergreifen und dein Glück versuchen?«

Dass meine große Schwester Cara schon seit zwei Jahren verheiratet war, sagte ich ihm natürlich nicht. Denn ich wollte wirklich, dass er mitkam.

Einige Sekunden lang schwieg Paul neben mir. Dann seufzte er. »Wann fährst du?«

***

Kurz nach acht trafen wir bei meinen Eltern ein. Mama war in der Küche und begrüßte uns überschwänglich, und es war, als würde sie sich über Pauls Besuch fast mehr freuen als über das Wiedersehen mit mir. Ich nahm es ihr nicht übel, denn ich wusste, dass sie es einfach liebte, Gäste in ihrem Haus zu empfangen.

»Lorenzo, du bist so dünn geworden!«, sagte sie, nachdem sie mich einige Sekunden lang in Augenschein genommen hatte, während sie am Herd in einem Topf rührte.

»Äh, nicht wirklich, Mama«, antwortete ich lachend und sah zu Paul, der mir zuzwinkerte, bevor er sich umsah. Die Küche war schon immer das Zentrum dieses Hauses gewesen. Sie war mittlerweile alt und abgenutzt, dabei gleichzeitig immer noch so verdammt gemütlich.

Mama hatte immer einen riesigen Korb mit Tomaten, Knoblauch, Auberginen und diversen anderen Lebensmitteln auf der Küchentheke stehen. Im Fensterrahmen standen kleine Töpfe mit frischem Basilikum, Salbei und Oregano. Ich brauchte gar nicht im Kühlschrank und den Schränken nachzusehen, um zu wissen, dass ich Ricotta, Parmesan und Olivenöl in großen Mengen vorfinden würde.

In der Ecke stand ein massiver Eichentisch, umrundet von Stühlen und einer Eckbank. Viel Platz war da eigentlich nicht, aber wenn ich daran dachte, mit wie vielen wir teilweise darum gesessen hatten, stieg unwillkürlich Freude in mir auf.

»Wo ist Papa?«, fragte ich, hörte in dem Moment auch schon den Fernseher im Wohnzimmer.

»Wo glaubst du denn?«, bekam ich als Antwort die Gegenfrage und gab Paul mit einem Zeichen zu verstehen, dass er mir folgen sollte.

»Ciao, Papa.«

Mein Vater saß in seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher und sah sich ein Spiel der Serie A an, in der Hand hielt er eine Flasche Bier, in der anderen die Fernbedienung. Nach Feierabend war er eigentlich immer so vorzufinden, und so würde ich ihn gewiss auch nach seinem Tod immer in Erinnerung behalten.

»Ciao, Lorenzo. Wen hast du uns mitgebracht?«, fragte mein Papa, ohne den Blick vom Fußballspiel zu nehmen.

»Mein Name ist Paul, ich arbeite ebenfalls im Krankenhaus.«

Paul störte es nicht, dass mein Vater nicht aufstand oder ihm die Hand reichte, um ihn zu begrüßen. Mit seinen knapp dreißig Jahren musste schon mehr her, um ihn aus der Fassung zu bringen.

»Freut mich«, murmelte Papa, als in dem Moment die Haustür aufging.

»Ciaaaoooo, Mama! Papa!«, rief meine Schwester durch das ganze Haus, und ich bemerkte erfreut, wie Pauls Augenbrauen in die Höhe schossen und er sich halb fragend, aber offensichtlich hocherfreut zu mir drehte.

Die kommende Enthüllung sollte mich noch wochenlang zum Lachen bringen.

Wir gingen zurück in die Küche, wo Cara gerade Mama umarmte, kurz bevor sie auch uns bemerkte.

Armer Paul.

Meine Schwester hatte sich heute in Schale geworfen. Ihre kastanienbraunen Haare hatte sie gelockt, sie hatte mal wieder eine halbe Tonne Make-up im Gesicht und ihr Shirt hätte auch nicht enger sein können.

Ein kurzer Seitenblick zu Paul genügte mir.

Er war ganz hin und weg.

»Hey, ich bin Cara, Lorenzos Schwester«, stellte sie sich vor und reichte Paul die Hand, der das erste Mal in seinem Leben sprachlos war.

Im gleichen Moment betrat mein Schwager die Küche.

»Oh, und das ist mein Mann, Federico.« Cara strahlte und Pauls Gesichtszüge entgleisten.

»Hi, freut mich«, meinte Federico lächelnd und streckte Paul seine Hand hin, die dieser ergriff.

»Mich auch.« Er riss sich noch zusammen, aber als die beiden sich Mama zuwandten, warf er mir einen Blick zu, der unmissverständlich war. Dafür würde er mich später noch töten.

Die Situation war einfach zu komisch, deswegen grinste ich nur breit und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Ups.

»So, da wir alle da sind, können wir ja endlich essen!«, sagte meine Mama in dem Moment so laut, dass auch Papa es im Wohnzimmer trotz des Lärms vom Fernseher hören konnte. Normalerweise hätte sie ihm das Essen auf einem Teller gebracht; wenn jedoch Besuch da war, hatte er doch Anstand genug, mit uns anderen zu essen.

Paul sah immer noch ziemlich genervt aus, als wir uns um den Tisch in der Küche quetschten, entspannte sich jedoch sichtlich, als er das Essen vor sich betrachtete.

»Standest du schon wieder den ganzen Tag in der Küche?«, fragte Cara unsere Mama, als sie sich mit einem Seufzen niederließ.

»Das Los einer Frau«, bemerkte sie schulterzuckend.

»Ach, wirklich?«, warf Federico lachend ein. »Dann ist Cara keine richtige Frau. Wenn wir nicht zweimal wöchentlich hier essen würden, wäre ich bestimmt schon längst verhungert!«

Er traf damit den Nagel auf den Kopf. Meine Schwester war eine ziemlich verwöhnte und dazu noch faule Zicke. Obwohl ich mit der italienischen Kultur aufgewachsen war, wollte ich nicht, dass meine Frau einmal später genauso ackerte wie meine Mutter. Aber Caras Einsatz rein haushaltstechnisch war einfach eine Zumutung.

Ich sah kurz zu Paul, dessen Blick einen Tick weniger bewundernd auf Cara weilte.

»Sie hat eine zu freie Erziehung genossen«, kommentierte mein Vater schmunzelnd, der sich gar nicht zu beschweren brauchte. Denn er hatte nie auch nur eine Sekunde damit verschwendet, meine Schwester und mich zu erziehen.

»Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung«, ärgerte ich ihn deshalb, was vor allem meine Mama zum Lachen brachte.

»So, jetzt greift zu. Paul, bitte bediene dich!« Mama begann Schüsseln und Teller zu Paul rüberzuschieben, und dankend begann er, seinen Teller mit den Köstlichkeiten zu füllen, während Cara ununterbrochen von ihrem Tag erzählte.

Ich schaltete automatisch auf Durchzug und widmete mich den Gerichten vor mir. Während ich mir Auberginenlasagne, mit Ricotta und gebratenem Radicchio gefüllte Teigtaschen, Tomaten-Mozzarella-Salat und Melone in Parmaschinken gewickelt auf meinen Teller lud, musste ich wieder an Jules denken.

Meine Familie war nicht perfekt – bei Weitem nicht –, aber ich liebte meine Eltern und meine Schwester. Ich verstand mich gut mit meinem Schwager. Und obwohl mein Vater ein Patriarch, meine Schwester ein Nichtsnutz und meine Mutter total unterdrückt war, waren wir eine Familie. Und uns allen gefiel unsere Familie mit ihren Fehlern und Schwächen. Denn wir konnten uns immer aufeinander verlassen.

Wie war es Jules in ihrer Familie ergangen?

Hatte sie sich gut mit ihren Eltern verstanden?

Hatte sie Geschwister?

Hatte sie sich geborgen gefühlt?

Wieso hatte sie nicht bei ihrer Familie Hilfe gesucht?

Hätte ich meine Familie um Hilfe gebeten?

Hatte sie darüber etwas in ihrem Tagebuch geschrieben?

»Erde an Lorenzo!«

»Hm?« Erschrocken sah ich zu meiner Schwester, die mit ihren perfekt manikürten Händen vor meinem Gesicht hin und her wedelte. Gedanklich war ich noch bei Jules' schöner Schrift.

»Was ist los mit dir?«, wollte sie wissen.

»Er ist schon den ganzen Tag neben der Spur«, meldete Paul sich zu Wort. »Ich glaube, er ist verliebt.«

»Was? In wen? Wieso hast du nichts gesagt?«

»Halt! Moment! Stopp!«, rief ich und warf Paul erst einen genervten Blick zu, der mir kläglich misslang, weil ich eh wusste, dass Paul nur gerade versuchte mir eins auszuwischen, und sah dann zu Cara.

»Ich bin nicht verliebt. Außer in mein Bett. Ich bin einfach müde.«

»Oh, ist das Studium zu viel für dich?«, neckte sie mich und klimperte mit ihren Wimpern. Die bestimmt auch künstlich waren. Im Ernst, so lange Wimpern hatte doch kein Mensch!

Und wieso war meine Schwester eigentlich nicht ein wenig natürlicher?

»Es ist einfach anstrengend. Fragt Paul. Er ist schon längst ausgebildet, aber auch ihn laugen die Tage im Krankenhaus manchmal aus.«

Ich sah zu ihm, wartete auf seine Unterstützung.

»Hm, eigentlich nicht wirklich«, meinte er gelassen, und meine Familie lachte.

»Danke«, sagte ich tonlos und eindeutig sarkastisch zu meinem Kumpel, bevor ich weiteraß.

»Paul, erzähl doch etwas über dich«, forderte ihn mein Schwager daraufhin interessiert auf, und er fing an zu erzählen.

Ich war ehrlich gespannt, später von Paul zu erfahren, was er denn über meine Familie dachte. Und ob er den Abend doch genoss, trotz des Umstandes, dass meine Schwester nicht mehr zu haben war.

Obwohl ich mir sicher war, dass Paul eher auf natürliche Mädchen stand.

So wie ich.

So wie Jules eines war.

Ich verdrängte den Gedanken sofort. Schlug mir innerlich selbst gegen den Kopf.

Ich wusste rein gar nichts über Jules. Vielleicht lief sie jeden Tag auch mit jeder Menge Make-up herum. Vielleicht hatte sie Extensions. Woher sollte ich das wissen? Und was fiel mir ein, überhaupt so an ein Mädchen zu denken, das nichts von meiner Existenz wusste?

Ich war doch dabei, komplett die Besinnung zu verlieren und mich schon wie ein Besessener zu verhalten.

Um nicht völlig in Gedanken zu versinken, schnappte ich mir einen Weizenpfannkuchen, der mit grünem Spargel, Mozzarella und Parmaschinken gefüllt war, und mischte mich wieder ins Gespräch. Wenn ich nicht gleich mit unangenehmen Fragen bombardiert werden wollte, sollte ich lieber schleunigst anfangen, mich normal zu benehmen, anstatt an Jules und ihr Tagebuch zu denken.

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