Chapter 7
Die Straßen waren still und verlassen, als wir uns auf den Weg machten, aber sie blieben es nicht lange. Hätte ich nicht die ganze Zeit darauf gewartet, wären mir die leisen Schritte sicher entgangen, aber so bemerkte ich sie und ein eisiges Gefühl machte sich in mir breit.
Was sollte ich tun? Verstecken, oder besser so tun, als hätte ich nichts gehört? Was ich jetzt tun würde, entschied darüber, ob die Geschichte ins Chaos stürzte oder nicht. Fifty-Fifty-Chance. Zu fünfzig Prozent tot. Das hörte sich gar nicht gut an.
„Na wen haben wir denn da?“ Die Stimme ließ mich erschaudern, als würde jemand einen Eimer Eiswasser über meinen Rücken gießen. Jetzt musste ich keine Entscheidung mehr fällen, das Spiel war aus. Trotzdem alles andere als erleichtert wirbelte ich in einer geschmeidigen Bewegung herum, gefasst auf den bevorstehenden Kampf. Da gab es nur einen Haken: Hinter mir stand keiner. Die Straße war wie leergefegt.
„Da ist jemand! Ich habe es genau gehört!“, wisperte Sophie und krallte sich in meinen Ärmel. „Wir müssen uns verstecken!“
„Oder wegrennen“, murmelte ich, doch eine Bewegung am anderen Ende der Straße überzeugte mich eines Besseren. Wie in Zeitlupe ließ ich mich zu Boden sinken, zog Sophie mit mir. Dann krochen wir auf die nächste Hauswand zu und pressten uns in die schützende Dunkelheit.
„Keine hastigen Bewegungen, oder sie sehen uns“, wisperte ich, um professionell zu klingen, verstummte jedoch, als eine männliche Stimme ganz in unserer Nähe zu hören war.
„Wegrennen ist zwecklos. Und leg das Messer weg, oder wir schießen deinen Arm ab.“ Der Mann musste gleich hinter der nächsten Hausecke sein, und wir konnten von Glück reden, dass wir nicht weitergegangen waren. Ein weiterer Schritt, und wir wären geliefert gewesen.
„So ist gut. Jetzt Hände auf den Rücken.“
„Vergiss es!“ Die Stimme klang wütend und verzweifelt, wahrscheinlich noch ein Kind, dessen Stimme von den vielen Echos der Straße unkenntlich gemacht wurde. Konnte das Aron sein? Niemals! Hoffentlich nicht! Bitte nicht! Wenn er das ist …
Langsam wurde mir klar, dass niemand uns bedrohte, sondern dass wir viel mehr unbeteiligte Beobachter, die sich unglücklicherweise nur eine Straße entfernt vom Verbrechen befanden, waren. Und wenn das Verbrechen darin bestand, Aron zu entführen, würde ich sicher nicht lange ein unbeteiligter Beobachter bleiben.
Ich merkte erst, dass ich auf die Füße gesprungen war, als das reiche Mädchen mich festhielt und gegen die Wand drückte.
„Nicht. Es sind zu viele.“
In diesem Moment zerriss ein Schrei die Stille der Nacht wie ein dünnes Tuch, dann wurde es wieder still. Eine bleierne Stille, die die Sekunden in die Länge zu ziehen schien.
Trotz des verzweifelten Schreis wurde kein Fenster geöffnet, die Straßen blieben still. Unwillkürlich erschauderte ich.
„Wer war das?“, wisperte Sophie und ich wusste sofort, wen sie meinte.
„Hoffentlich kein Freund von mir“, antwortete ich, immer noch befangen von der Kälte, die mein Herz umschloss.
„Wir müssen weiter. Hier dürfen wir nicht bleiben.“ Wenigstens Sophie bewahrte einen kühlen Kopf, während ich ihr unachtsam, mit den Gedanken weit fort, folgte.
Die Männer waren bereits weg, trotzdem war ich mir sicher, dass es die Männer in Schwarz gewesen waren, die mich mit irgendwem verwechselt hatten. Egal war es gewesen war, am Liebsten wäre ich ihnen hinterher gerannt, um sicherzugehen, dass der Schrei nicht Arons gewesen war. Aber das war natürlich sinnlos. Ich würde bloß ebenfalls gefangen werden, und das würde unsere Situation nicht sonderlich verbessern.
„Wen sehe ich denn da? Ich traue meinen Augen nicht!“ Reichlich unsanft riss die Stimme mich aus meinen Gedanken, mein Blick schoss hoch und fiel genau auf vier Gestalten, die keine zehn Meter vor Sophie und mir standen.
„Was du nicht sagst! Mir geht das Herz auf. Da haben wir ja das kleine Biest.“ Das Echo verzerrte die Stimmen so stark, dass ich nicht einmal sagen konnte, ob der Tonfall ironisch, spöttisch oder einfach nur belustigt war. Sicher war jedoch, dass der Moment gekommen war. Die Verbrecher waren hier, und zwar diesmal richtig.
Soso. Die Männer in Schwarz sind also gekommen, um mich zu holen, dachte ich, zu meiner Überraschung überhaupt nicht verängstigt. Im Gegenteil, ich wollte ihnen den Hals umdrehen, weil sie Aron vielleicht wehgetan hatten, und gefangen nehmen würden sie mich sowieso. Da konnte man das alles doch ruhig mit Würde angehen. Jawoll. „Sollen sie doch kommen.“
Erst, als Sophie mich verwundert anstarrte, realisierte ich, dass ich den letzten Satz laut gesagt hatte, und ich lächelte schwermütig.
„Jetzt ist der letzte Moment, wegzulaufen. Du kannst entkommen. Ich nicht“, sagte ich zu ihr, hoffte so stark, dass sie weglief, hoffte so stark, dass sie blieb. Aber was für eine Wahl hatte sie schon?
„Ich bin dir noch etwas schuldig“, meinte das Rattenmädchen. „Ich bleibe.“
„Du gehst, sofort!“, fauchte ich, ohne zu wissen, warum. Aber es war sowieso schon zu spät, die Männer hatten uns umzingelt und lächelten uns bösartig zu.
„Ich nehme die Kleine“, sagte einer mit funkelnden Augen. Seine Kameraden blickten ihn an, dann lachte einer leise und spöttisch.
„Welche von beiden?“
Dann griffen sie an, zwei von vorne, zwei von hinten. Es war absolut unfair, und doch wollte ich nicht aufgeben. Wollte die Gelegenheit nutzen, wenigstens noch ein paar Tritte auszuteilen, bevor ich überwältigt wurde.
Voller Elan holte ich aus, bemerkte jedoch zu spät, dass mir im selben Moment das andere Bein weggezogen wurde. Erstaunlicherweise klatschte ich jedoch nicht der Länge nach auf die Nase, wie erwartet, sondern rollte mich geschickt ab. Einen Wimpernschlag später stand ich wieder auf den Beinen und wirbelte herum, sah, wie ein besonders großer Mann auf mich zugesprungen kam. Es war zu spät. Mir blieb keine Zeit mehr, zu reagieren, aber kurz bevor er mich erreichte, sprang Sophie dazwischen, krachte mit dem Mann zusammen und ging mit ihm zu Boden.
Für einen kurzen Moment blieben sie liegen, dann packte der große Mann blitzschnell das Rattenmädchen und zog sie zu sich heran.
„Das hat wehgetan“, sagte er. Bedrohlich. Spielend, aber durchaus Angst einflößend.
„Dora!“, rief Sophie und versuchte sich zu befreien, was kläglich misslang.
„Tu ihr nicht weh, klar?!“, fuhr ich den Mann an, und spürte, wie sich zwei kräftige Hände auf meine Schultern legten.
„Dora, Dora. Was hast du nur getan?“, nuschelte jemand mehr in mein Ohr, als dass er raunte, da die Stimme nur sehr schwer durch die Maske drang.
Verärgert trat ich nach hinten, aber mein Angriff ging ins Leere.
„Hups“, sagte der Mann hinter mir und fing meinen Arm, als ich herumwirbelte. „Wie hast du auch nur eine Stunde in den Straßen überlebt?“
„Pfoten weg von ihr!“, fuhr ein weiterer Mann dazwischen, und zog mich weg.
„Ruhig, Jungs, nicht alle auf einmal!“ Der Sprecher wirkte ein bisschen wie der Boss, so wie er dastand und die Lage überblickte. O-K. Der zuerst!, dachte ich mir, riss mich los und wollte mich schon auf ihn stürzen, als mir einfiel, dass Sophie ja immer noch am Boden lag.
Also stürzte ich mich im wahrsten Sinne des Wortes Hals über Kopf über den großen Mann und löste seinen Griff.
„Lauf!“, rief ich, aber Sophie stolperte bloß in die Arme des nächsten Mannes, während ich gepackt und mit einem Karate-ähnlichen Griff über den Großen und auf den Boden geworfen wurde.
Der Kampf wurde nicht aussichtsreicher. In weniger als einer Minute wurden Sophie und mir die Arme auf dem Rücken zusammengebunden und die Männer in Schwarz warfen sich triumphierende Blicke zu.
„Zum Versteck. Wir haben keine Zeit zu verlieren“, bestimmte der Anführer.
Obwohl wir schnell und ohne erhebliche Zwischenfälle durchkamen, wurde ich den Eindruck einfach nicht los, dass die Männer in Schwarz nicht halb so gefährlich waren, wie gedacht. Zwar überwältigten sie den Wachtposten, der die Straße blockierte, bevor der sie überhaupt bemerkt hatte, aber sie machten keine Anstalten mir wehzutun. Selbst das reiche Mädchen, das eigentlich nur mitgenommen wurde, damit es nicht bei der Stadtwache plaudern konnte, wurde äußerst schonend behandelt.
„Seid vorsichtig. Schließlich ist Arzt nicht unser Zweitname“, war alles, was der Boss sagte, als ich stolperte und fluchend auf den Steinen landete.
Verglichen mit der letzten Geschichte, in der ich gewesen war, schien das hier wirklich der Schondurchgang zu sein. Noch.
Wer wusste schon, wie sich das Blatt wenden würde, wenn ich nicht mehr von Nutzen war?
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