Chapter 3
Puh!, dachte ich mir und wischte imaginäre Schweißtropfen von meiner Stirn. Erst jetzt merkte ich, dass meine Hände leicht zitterten und ich ständig auf meiner Unterlippe rumkaute. Keine guten Zeichen.
Marvin war misstrauisch geworden. Zwei Mal versuchte er, meine Tasche zu angeln, und zwei Mal warf ich mich vom Stuhl, um sie zu retten. Zwei Mal bekam ich natürlich den Anschiss dafür, und als ich schließlich nur noch so tat, als würde ich mitschreiben, um meine Tasche unentwegt im Blick zu haben, wurde ich natürlich sofort erwischt.
„Dora, schreibst du etwa gerade den Tisch voll?“, mahnte der Lehrer.
„Was? Wie? Wo? Wer?“ Als ich meinen Namen hörte, fiel ich vor Schreck beinahe wieder vom Stuhl, konnte mich aber gerade noch an der Tischkante festhalten.
„Wenn du schon nicht wirklich mitschreibst, dann bewege deinen Stift besser überm Heft als über deinem Tisch.“ Der Lehrer warf mir noch einen finsteren Blick zu, dann fuhr er mit dem Unterricht fort.
Zwar wagte ich es nicht, mich umzudrehen, da ich den Zorn des Lehrers fürchtete, aber die Geräusche hinter mir beunruhigten mich schon. Klang es nur so, oder telefonierte Marvin tatsächlich? Und wenn ja, mit wem? Einfach nur mit einem Freund, oder alarmierte er etwa gerade seine Gangsterkumpel?
Was trieb Mike eigentlich gerade? Manchmal klapperte und klirrte es verdächtig, und kurz vor der zweiten Pause bekam ich das Endprodukt seiner Bastelarbeit zu sehen.
Erst hörte ich nur leises Getuschel von hinten, dann schoss ein provisorischer Haken, befestigt an einem Seil, das unter anderem aus einem Gürtel bestand, nach vorne und blieb an meiner Tasche hängen. Ich warf mich beinahe instinktiv nach vorne, landete jedoch auf dem bloßen Fußboden.
„Schnell!“, raunte Mike, während er geschwind seine Angel einholte. „Ich hab sie!“
In diesem Moment wirbelte der Lehrer wütend herum und Aron schoss wie ein Pfeil von seinem Platz.
„Mike hat meine Tasche entführt!“, beschwerte ich mich, Aron hingegen hielt sich nicht mit Worten auf. Mit einem Satz war er über meinen Tisch gesprungen und landete mit einem Rums vor Mike. Der hatte gerade mal den Reißverschluss geöffnet, als Aron meine Tasche zu fassen bekam und sie Mike aus den Fingern riss. Dabei landete das Weltentor mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden.
Marvins Augen wurden tellergroß, ich wurde schneeweiß und Aron landete prompt auf dem Buch, noch bevor Mike es mit einem Fuß angeln konnte.
„Habt ihr’s jetzt endlich?“ Missgelaunt kam der Lehrer nach hinten und zog Aron samt Buch und Tasche auf die Beine.
Unter Marvins durchdringendem Blick trollten wir uns auf unsere Plätze zurück, und selbst als ich wieder saß und der Unterricht weiter ging, spürte ich sein Starren im Rücken.
Wenigstens würde er jetzt nicht mehr die Tasche bekommen. Die befand sich nämlich sicher auf meinem Schoß.
Je näher die zweite Pause rückte, desto nervöser und unaufmerksamer wurde ich, falls das überhaupt noch ging.
„Geht’s dir gut?“, fragte Marina mich einmal, antwortete sich jedoch selbst mit einem „Nein“, als ich schon bei dem bloßen Klang ihrer Stimme zusammenfuhr und meine Tasche erschrocken an mich drückte. Der zweite Gong löste noch schlimmere Angstsymptome bei mir und Aron aus. Während Aron mitsamt seinem Stuhl einmal um die eigene Achse wirbelte, kippte ich einfach rückwärts um.
Mikes amüsiertes Lächeln gefiel mir gar nicht, trotzdem setzte ich mich ohne ein Wort wieder hin und stopfte meine Schulsachen extra langsam in die Tasche, bevor ich als Letzte den Raum verließ.
Marvin wartete an der Tür auf mich und begleitete mich auf den Schulhof.
„Ähm. Ich gehe dann mal zu Aron.“ Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen und wollte schon loslaufen, als Marvin mich festhielt.
„Können wir kurz reden?“ Sanft, aber bestimmt, zog Marvin mich über den Schulhof, ich folgte ihm, leicht verwundert, was er von mir wollte.
„Ich wollte … gestern, als wir weggefahren sind“, begann Marvin unsicher und hielt inne. Inzwischen hatten wir den Rand des Schulhofs erreicht, wo hohe Bäume und wuchernde Sträucher uns weitgehend verdeckten. „Also, ähm, Josh … er … ach ich weiß nicht.“ Er seufzte leise und sah mich an.
„Was ist?“, fragte ich nervös. Was in aller Welt wollte er von mir? Ich hatte erwartet, wegen des Buches erpresst zu werden, aber …
„Tut dein Kopf noch sehr weh?“, erkundigte Marvin sich.
„Hä?“ Endgültig verwirrt starrte ich ihn an.
„Du bist gerade eben mit deinem Stuhl umgefallen. Das sah ziemlich übel aus.“
„Ach was“, beruhigte ich ihn und ignorierte meine Beule, die das Gegenteil behauptete.
„Nicht mal eine Beule?“, fragte Marvin und streckte die Hand nach meinem Kopf aus, als …
„Da seid ihr ja, ihr zwei. Na, wie geht’s?“ Ein breites Lächeln auf dem Gesicht trat Josh hinter einem Baum hervor und strahlte uns an wie die Sonne höchstpersönlich. „Du hattest mich angerufen, Marvin?“
„Josh!“, beklagte Marvin sich.
„Was ist, kleiner Bruder?“
„Ach, nichts“, nuschelte Marvin und blickte weg. Ich, immer noch völlig überrascht, stolperte von einer Situation, mit der ich nichts anfangen konnte, in die nächste.
„Ich habe gehört, dir geht es nicht so gut, Dora?“, fragte Josh, und als ich nicht reagierte, drehte er mich so, dass ich ihm in die Augen sehen musste.
„Hm?“, fragte ich und kam langsam wieder zu mir.
„Ich habe gehört, du leidest heute unter extremer Nervosität“, fuhr Josh ungerührt fort. „Sehr gefährliche Anzeichen diverser Krankheiten wie zum Beispiel Schizophrenie.“
„Ah.“ Mäßig interessiert blickte ich ihn an, wohl wissend, dass er den wahren Grund meiner Unruhe bereits kannte.
„Hattest du vielleicht … unglückliche oder bedrohliche Erlebnisse in den letzten Tagen?“, fragte Josh mit seiner fürsorglichen Psychiater-Stimme.
„Allerdings. Die Begegnung mit drei Verbrechern war wohl zu viel für mich.“ Meine Stimme troff von Ironie, aber Josh ließ sich nichts anmerken.
„So etwas Schreckliches aber auch. Was haben sie denn mit dir gemacht?“, wollte er besorgt wissen. Ich rollte die Augen.
„Spuck’s aus, Josh. Was wollt ihr diesmal von mir?“ Unwillkürlich wurde ich daran erinnert, wie Josh mich das letzte Mal auf dem Schulhof „erpresst“ hatte. Im Endeffekt war ich so nervös geworden, dass ich unwillkürlich alles gestanden hatte. Aber diesmal kannte ich Josh und Marvin bereits viel zu gut. Was wollte er diesmal von mir?
Leicht genervt und beunruhigt drehte ich mich um, in der Erwartung, einen breit grinsenden Marvin hinter mir stehen zu haben, aber da war niemand. Erst jetzt begriff ich, und ich begriff ziemlich schnell.
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken flitzte ich los, leider startete auch Josh keine Sekunde später durch. Wie ein geölter Blitz schoss ich über den Schulhof, wobei ich so gut es ging auf die Schultür zuhielt. Die stand gottseidank offen und so konnte ich nur allzu gut sehen, wie Marvin gerade von einem Lehrer unseren Klassenraum aufgeschlossen bekam.
Plötzlich bemerkte ich, dass eigentlich jeder mich anglotzte und ich fragte mich, wie diese Situation wohl gerade einem Außenstehenden erscheinen mochte.
Wahrscheinlich etwa so: Potenzieller Oberstufenschüler (Josh) verfolgt junges Mädchen (mich). Na toll!
Gerade wich ich einem Mädchen aus, das mir beinahe eifersüchtig hinterher starrte, als ich unglücklicherweise auf einen Stein trat, der unter meinem Fuß wegrutschte, und schon segelte ich durch die Luft, bedrohlich schnell dem gepflasterten Schulhof entgegen.
Autsch!, dachte ich schon mal provisorisch, als mich gerade noch rechtzeitig kräftige Arme auffingen. Erschrocken sah ich nach oben und erkannte erleichtert, dass es Josh und nicht irgendein wildfremder Junge war. Dann realisierte ich entsetzt, dass es Josh war, und hätte am liebsten das Weite gesucht.
„Du kannst mir nicht entkommen“, sagte Josh in einem Ton, der die meisten Mädchen wohl zum Schmelzen gebracht hätte. „Dein Herz weiß, wo es hinwill.“
„Du brauchst hier keinen auf Schnulze zu machen!“, raunte ich ihm ärgerlich zu. Das war ja abgrundtief peinlich! Mal ganz zu Schweigen davon, dass ich auf diese Schule noch ein paar Jahre gehen musste und uns gerade jeder anstarrte.
„Du willst doch nicht, dass ich vom Schulhof geschleppt werde, wegen Missbrauch von jüngeren Schülerinnen, oder?“, wisperte Josh mir zu. Langsam wandten sich die neugierigen Schüler wieder von uns ab, wohl weil der erhoffte Kuss nicht stattgefunden hatte, und die Attraktion vorbei war.
„Hm. Eigentlich wäre das gar keine so schlechte Idee …“, überlegte ich, verstummt jedoch, als ich Joshs Blick sah.
„Glaub mir, das würdest du nicht wollen.“ In seiner Stimme schwang eine gewisse Drohung mit, die mich sehr schnell überzeugte.
„Hähä, vielleicht doch nicht.“ Ich grinste ihn an und Josh grinste zurück.
„Eigentlich sollten Verbrecher das nicht sagen, aber ich bin froh, zurück zu sein.“ Immer noch lächelnd stellte er mich wieder auf meine eigenen Füße. „Ich hoffe, für euch ist es nicht allzu tragisch, dass wir wieder da sind.“
„Aaaaaaach, im Gegenteil“, grinste ich. „Bis später, Josh. Ich habe noch was zu tun!“ Fröhlich winkte ich ihm und schon flitzte ich wieder los, Richtung Klassenzimmer.
Josh dicht auf den Fersen erreichte ich mein Ziel, erstarrte jedoch, sobald ich hineingekommen war. Leider war das ein Fehler, denn Josh bremste nicht so schnell wie ich und so fielen wir übereinander und kamen erst am nächsten Tisch zum Stillstand.
„Was ist hier heute eigentlich los?“, beklagte sich der Lehrer, und ich verstand sofort, was er meinte. Vor seinen Füßen lagen Aron und Marvin, wobei Aron meine Tasche umklammerte und Marvin Arons Bein umklammerte, und beide dachten nicht im Entferntesten daran, loszulassen. Zumindest bis Josh sich aufrichtete und einen beinahe professionellen Räusperer hören ließ.
„Schön dich wiederzusehen, Marvin. Hach, lang, lang ist’s her. Lass dich drücken, Cousin!“ Mit einem überzeugend freundlichen Lächeln kam er auf Marvin zu, der prompt Arons Bein losließ, und drückte ihn.
„Du bist ja schon so früh da! Wolltest mich in der Schule überraschen, was?“, sagte Marvin. Seine perfekten Schauspielkünste und seine spontane Kreativität erstaunten mich. „Da kann ich dir ja gleich meine neuen Freunde vorstellen.“ Immer noch beinahe süßlich falsch lächelnd zeigte er auf Aron. „Das ist Aron. Und das hier“, er deutete auf Josh, „ist mein Cousin aus Amerika. Er bleibt die ganzen Ferien.“
„Aha.“ Nur zögerlich ließ Aron meine Tasche los und umarmte Josh. Immer noch völlig durch den Wind, stand der Lehrer einfach nur da, schüttelte Josh einmal kurz die Hand und stand wieder nur da. Er schien nicht zu verstehen, was gerade vor sich ging, und auch ich war mir nicht ganz sicher, was die beiden mit ihrer falschen Geschichte bezwecken wollten.
Jedenfalls standen wir kurz darauf nebeneinander und taten so, als wären wir „Best Friends“, als die restliche Klasse hineinkam, nicht ohne mir und Josh ein paar komische Blicke zuzuwerfen. Dann ging Marvins großer Bruder.
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