Chapter 19
Josh hatte wirklich nicht gehungert, und auch wir hatten immerhin ein Frühstück gehabt, was jedoch nicht verhinderte, dass wir alle einen riesigen Appetit hatten, als das Essen endlich fertig war.
Gut gelaunt nahmen wir unser Festmahl im Besprechungsraum ein, ungerührt vom gelegentlichen Türgeklapper, wenn mal wieder einer unserer Nachbarn versuchte, einzudringen.
„Lasst sie. Durch diese Tür kommt keiner mehr“, meinte Dennis zufrieden und verputze seine dritte Portion. Langsam waren wir so satt, dass wir unsere Gedanken wieder auf anderes, nicht mehr aufs Essen, richten konnten.
„Morgen ist ein großer Tag“, begann Dennis, wurde jedoch von Josh unterbrochen.
„Wie ihr vielleicht schon erraten habt, wollen wir uns auf den Ball vom Grafen von Hochfelden schmuggeln. Um nicht aufzufallen, müssen wir natürlich auch angemessen gekleidet sein, und nicht in diesen Lumpen rumrennen.“ Er zupfte an seinen ziemlich mitgenommen aussehenden schwarzen Klamotten herum und warf einen erwartungsvollen Blick in die Runde. Aber keiner schien zu wissen, was er wollte, bis auf Aron, der schließlich fragte: „Soll das etwa heißen, wir klauen uns feine Anzüge und ein paar schicke Kleider?“
„Aber nein. Wir kaufen sie“, erklärte Josh, worauf Aron nur noch ungläubiger dreinsah.
„Was? Für dieses … hässliche Zeug auch noch Geld ausgeben?? In sowas kriegen mich keine zehn Pferde rein!“
„Das habe ich auch immer gesagt, aber natürlich hat niemand auf mich gehört“, pflichtete Sophie ihm bei, was ihr reichlich komische Blicke von Josh und Dennis einbrachte. Nur Aron legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schulter, wurde jedoch sofort von Josh weggepflückt.
„Vergesst es, ihr zwei. Alle kriegen die richtigen Klamotten für den Ball, damit wir ausgerüstet sind. Wenn du Glück hast, Aron, bleibst du mit Marvin hier. Sophie hat jedoch keine Wahl.“
„Das ist unfair!“, protestierte Sophie.
„Ich will auch kein Ballkleid. Dieses hier ist schon unpraktisch genug“, beschwerte ich mich.
„Das Kleid“, kritisch zupfte Marvin an meinen Ärmeln, „kannst du wohl kaum anziehen. Das sieht ja aus, als wärest du damit durch den Dreck gekrochen.“
„Ist sie ja auch“, warf Josh amüsiert aus dem Hintergrund ein, aber da war ich schon über Marvin hergefallen und drückte ihn mit finsterem Blick gegen die Wand.
„Noch so ein Spruch, und du siehst aus wie einmal durch den Dreck gekrochen!“, drohte ich spielerisch, aber Marvin lachte nur, machte zwei Bewegungen, so schnell, dass ich sie kaum sehen konnte, und schon drückte er mich gegen die Wand und nicht mehr umgekehrt.
„Das ist unfair!“, lachte ich, worauf Marvin mir die Haare durchstrubbelte und die Flucht ergriff.
„Aufhören, ihr beiden!“, befahl Dennis und hielt mich mit einem Arm fest, während Marvin mir Grimassen schnitt.
„Das Problem ist folgendes“, fuhr er fort, ohne auf mich zu achten, egal wie heftig ich mich in seinem Griff wandte. „Leute wie wir – verschmutzt, halb verfilzte Haare, zerrissene Klamotten – kommen nicht einfach in einen schnöselig feinen Laden und kaufen sich teuere Kleider. Das wäre äußerst verdächtig.“
„Das bedeutet“, fuhr Josh fort. „Wir machen uns chic.“
„Oh nein“, stöhnte Aron ergeben. „Ich hatte mich schon so an meine Dreckschicht gewöhnt.“
Aber das half ihm natürlich nichts. Kurz darauf verschwanden alle Jungs bzw. Männer, um sich in den Kanälen zu waschen (mir taten die Leute, die später ihr „Frischwasser“ trinken würden, jetzt schon leid) und kehrten kurz darauf bibbernd und mit alten Decken umhüllt zurück.
„Ihr seht gut aus“, spottete ich, bevor ich mit Decke zum Wasser befördert wurde.
Kurz darauf badeten Sophie und ich, wobei ich überrascht war, wie viel Dreck bereits an mir gehaftet hatte.
„Ich wusste nicht, dass Waschen so gut tun kann“, sagte Sophie leise, als sie sich in ihre Decke hüllte und ihre ausgewaschenen Klamotten nahm.
„Wohl war“, stimmte ich ihr zu und gemeinsam liefen wir zurück ins (Geheim)Versteck, wo Dennis bereits ein paar Kordeln zusammengebunden und als Wäscheleine durch den Raum gespannt hatte.
Kurz darauf hingen alle Klamotten zum Trocknen, ein gemütliches Feuer prasselte und alle saßen im Kreis.
„Jetzt die Haare“, ordnete Dennis an. „Wenn wir fertig sind, möchte ich keine Knoten und keine abstehenden Strähnen mehr sehen!“
Also begann ich, Marvins Haare zu entknoten, was gar nicht so einfach war, wie gedacht, während Marvin sich um Josh kümmerte. Der wiederum kämpfte mit Sophies langen Haaren, die Dennis Haare bearbeitete (was gar nicht so einfach für sie war aufgrund der unterschiedlichen Größe).
„Kann einer von euch zufälligerweise nähen?“, fragte Dennis, der gerade mit einem besonders widerspenstigen Knoten in Arons Haaren kämpfte.
„Nö“, kam aus allen Richtungen, selbst Sophie meinte, sie habe es nur einmal versucht, aber aufgegeben, als sie die Nadel häufiger in ihrer Haut als im Stoff vorgefunden hatte.
„Dann müssen wir wohl alle ran – autsch – und jemand muss noch Nadel und Faden besorgen. Schließlich haben wir jetzt ja genug Geld für alles. Dank unserer Nachbarn.“
„Ist euch aufgefallen, dass sie inzwischen Ruhe gegeben haben?“, fragte Aron und kämmte mit den Fingern durch die ersten Strähnen, die er entknotet hatte. Zugegeben, meine Haare stellten eine gewisse Herausforderung dar, auch wenn sie nicht so lang waren wie Sophies.
„Ist mir aufgefallen“, antwortete Marvin. „Und ich genieße die Stille.“
Lachend und plaudernd entwurschtelten wir weiter unsere Haare, bis Dennis, dessen Frisur als Erstes wieder hergestellt war, losging, um Nadeln und Faden zu besorgen.
„Sei vorsichtig“, sagte Sophie und sah im nächsten Moment so aus, als wisse sie nicht, wie diese Worte jemals ihrem Mund entweichen konnten. Doch dann lächelte sie leicht verlegen und setzte sich so, dass sie sich um Arons Haare kümmern konnte. Nun war der Kreis etwas enger, trotzdem redeten wir nicht mehr ganz so oft, vor allem nicht Sophie, die große Probleme hatte, aus Arons Locken eine vernünftige Frisur zu machen.
„Darf ich deine Haare flechten?“, fragte Josh eine Viertelstunde später Sophie, als er endlich ihre Haare glatt und glänzend gebürstet hatte.
„Gerne“, antwortete Sophie und tunkte ihre Finger in eine Wasserschale, um eine besonders widerspenstige Locke glatt zu streichen.
„Wenn du fertig bist, sehe ich garantiert aus, wie ein so’n feiner Kerl mit glattgestriegelten, gegeelten Haaren!“, beschwerte Aron sich, aber Sophie lachte nur.
„So schlecht finde ich das gar nicht“, sagte ich, wandte mich jedoch schnell wieder ab, als ich Arons tödlichen Blick auffing.
„Sei getröstet, Aron“, sagte Marvin. „Ich sehe sicher genauso scheiße aus.“
„Hey! Willst du damit sagen, dass ich meine Arbeit nicht gut mache?“, beschwerte ich mich. „Also, ich finde es top.“ Grinsend klopfte ich Marvin auf den Kopf und begutachtete mein Werk. Na gut, mit wild verwuschelten Haaren sah Marvin zwar besser aus, aber das hatte doch auch etwas …
„Gut, dass wir hier keinen Spiegel haben“, grinste Josh, der jedoch überhaupt keinen Grund hatte, sich zu beschweren. Er sah super aus mit seiner neuen Frisur.
Auch Sophie sah hübsch aus mit ihrem Zopf, obwohl schon nach fünf Minuten eine Menge Haare wieder in ihrem Gesicht hingen.
„Kein Problem. Ich schneide sie ab“, sagte Josh und jagte Sophie so lange durchs Zimmer, bis Dennis wieder da war.
Da weder Marvin noch Aron und ich erst recht nicht an sportlicher Betätigung interessiert waren, spielten wir Karten. Zumindest, bis wir anfangen mussten, zu nähen.
„Autsch!“, war von da an das Wort des Tages, das mindestens einmal in der Minute fiel. Immerhin sahen unsere Klamotten danach wieder akzeptabel aus und Dennis erlaubte uns endlich, schlafen zu gehen.
Müde ließ ich mich auf unser Lager vorm Feuer sinken, und war überrascht zu sehen, wie Sophie sich an Dennis drückte. Hier lagen wir, wie eine große Familie, glücklich beisammen, Marvin küsste mich sogar auf die Stirn, bevor er sich zusammenrollte.
So glücklich war ich schon lange nicht mehr gewesen, so glücklich, dass aus dem schrecklichen Abenteuer ein so wundervoller Tag werden konnte.
Da hatte Sophie echt glück gehabt, von uns und nicht von den Männern in Schwarz erwischt worden zu sein. Da hätte sie mit Sicherheit die Nacht in einer eisigen Ecke verbracht und den Tag ihrer Freiheit ersehnt. Bei den Männern in Schwarz hätte sie sich bestimmt nicht an einen der Gangster gedrückt und wäre glücklich eingeschlafen. Sicher nicht.
Und genau das machte mir Sorgen.
Wie lange würde es wohl noch dauern, bis wir die Geschichte so verfälschten, dass das Geschriebene nicht mehr passte? Wie lange hatten wir noch?
Noch dachten unsere Eltern, wir würden bei Marvin übernachten. Hatten sie schon herausgefunden, dass wir gar nicht dort waren? Und was würde sein, wenn wir nie wieder zurückkamen?
„Mach dir nicht so viele Sorgen“, sagte Aron leise, der mir meine Gedanken mal wieder von der Stirn abgelesen hatte. „Und runzel deine Stirn nicht. Das gibt Falten.“ Lächelnd legte er sich hin und nahm wieder meine Hand. Erst dann konnte ich einschlafen, und alle meine Sorgen wurden von meinen Träumen fortgetragen.
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