Chapter 10

Der Moment währte nur kurz. Dann hatte Josh die Tür erreicht und Sophie zurückgeschoben. Schon spürte ich, wie Marvin den Kopf hob und neugierig über meine Schulter spähte und auch ich drehte mich um, sah jedoch nur noch die Tür zuknallen.

„Wenn du noch einmal deine Nase reinsteckst, wirst du es bereuen, so viel ist sicher“, drang Joshs Stimme gedämpft durch die Tür. Langsam ließ ich Marvin wieder los und trollte mich zurück. Aron empfing mich mit einem unverschämt breiten Grinsen, als ich mich neben ihm niederließ, aber ich ignorierte es einfach.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte Dennis.

„Dabei, dass keiner von uns Ahnung hat, was wir jetzt eigentlich machen müssen.“

„Genau“, pflichtete ich Aron bei.

Du hast vielleicht keinen Plan, wir hingegen schon“, warf Marvin ein.

„Ach ja?“

„Allerdings. Wir wissen, dass die Männer in Schwarz, also wir, so’n reiches Haus überfallen müssen. Und noch so’n anderes reiches Haus, in dem eine Tanzveranstaltung stattfindet.“

„Das klingst ja mal wieder prima“, raunzte ich. „Wie schwer kann es schon sein, diese Häuser zu finden, in dieser winzigen Stadt?“

„Josh hat das Buch auch gelesen. Frag doch ihn.“ Marvin zuckte mit den Schultern und wollte gerade aufstehen, als ein Schlag und das Geräusch von splitterndem Holz zu hören war.

„Was treibt Josh da?“, wunderte Marvin sich und stand nun ebenfalls auf.

„Jetzt hab ich dich! Tja, Chance verspielt. Gibst du auf?“, fragte Josh.

Dennis runzelte die Stirn. „Besser, ich hole ihn da weg. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er das wirklich tun sollte. Ich wette, er ist mal wieder nicht gemein genug. Was soll das Mädchen von uns denken?“

„Pah! Noch hast du mich nicht!“, rief Sophie trotzig. Langsam wurde ich neugierig, was da drüben vor sich ging, aber Dennis scheuchte mich zurück, als ich zur Tür eilen wollte.

„Ach, glaubst du? Rechst? Links? Zu spät!“ Ein Rums, gefolgt von einem Schrei. Sophie! Schon stürzte ich wieder auf die Tür zu, als ich sie lachen hörte.

„Jetzt reicht‘s.“ Schwungvoll riss Dennis die Tür auf und nun konnte auch ich Josh und Sophie sehen. Obwohl Sophie zusammengekrümmt auf dem Boden lag, wurde ich den Verdacht nicht los, dass Josh sie Sekunden vorher noch durchgekitzelt hatte.

Dieselbe Vermutung schien auch Dennis zu haben, denn er schickte Josh schleunigst ins Besprechungszimmer zurück.

„Ich fessel Sophie, du kümmerst dich besser um Dora und ihren lästigen Freund“, ordnete er in einem Ton an, der jeden Gangsterboss neidisch gemacht hätte.

„Die Stuhlreste können wir ja später fürs Feuer benutzen“, schlug Aron vor, worauf Marvin ihn verschwörerisch angrinste.

„Von dem Moment an, in dem wir die Schrottteile gefunden haben, waren wir sowieso der Ansicht, dass sie nur noch fürs Feuerholz taugen“, raunte Marvin mir zu. Um ehrlich zu sein: Den Eindruck hatte ich auch gehabt.

„Wegen den Stühlen müssen wir uns auch noch mal unterhalten … Josh“, versprach Dennis mit einer Stimme, die langsam auf frostige -30° fiel.

Besorgt sah Sophie auf, senkte jedoch schnell wieder den Blick, als Dennis mit seinem schwarzen Gangsterstiefel die Tür zutrat und sie fortschleifte.

Josh wusste, was zu tun war. Zumindest grob.

„Wir müssen in Sophies Haus und ein bisschen Geld klauen. Heute Nacht“, erklärte er. „Besser, wir quetschen sie vorher noch ein bisschen aus.“

„Das kannst du ja übernehmen“, grinste Marvin, und wäre Dennis nicht in diesem Moment zurückgekommen, wären die beiden wahrscheinlich übereinander hergefallen.

„Und, schon eine Lösung gefunden?“, fragte unser neuer Gangsterboss. Zwei Sätze, und er war eingeweiht, aber Dennis schien nicht ganz glücklich darüber zu sein.

„Du musst vorsichtig sein, Josh“, sagte er. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du mit Sophie so umgehen darfst. Das ist gefährlich, und ich kann mich nicht erinnern, von einer solchen Beziehung gelesen zu haben.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du überhaupt gelesen hast“, antwortete Josh trotzig.

„Stand denn diesbezüglich etwas drinnen?“

„Keine Ahnung. Ich habe mich eher auf die Einbrüche spezialisiert, damit wir wissen, wann wir wo nicht sein sollten.“

„Oder eben jetzt doch sein sollten“, seufzte Aron.

„Genau.“ Marvin gähnte und streckte sich. „Erpressen wir jetzt Sophie ein bisschen?“, fragte er in dem Moment, in dem die Tür aufging.

„Ich hatte sie in der hintersten Ecke gefesselt! Wie zum Teufel entkommt sie jedes Mal?“, fluchte Dennis, der Marvin beinahe instinktiv an der Kehle gepackt hatte. Ich wurde von Josh festgehalten, sodass wir wohl eine gute Erpresserszene abgaben, zumindest für Sophie, die einen Moment lang in der Tür erstarrte und dann losrannte.

„Na, na, nicht so eilig.“ Mit einem Haifischlächeln trat Aron ihr in den Weg und stellte ihr ein Bein, als sie versuchte, ihm auszuweichen. Obwohl Sophie stolperte, fing sie sich noch im Fall und rollte geschickt wieder auf die Füße. Stolperte noch einen Schritt nach vorne und stieß heftig mit Dennis zusammen, der sofort zum Angriff überging. Nur ein leises Fluchen war zu hören, als Marvin ihm entwischte, und die Gelegenheit nutzend, begann ich mich gegen Josh aufzulehnen.

Plötzlich, ich hatte mich gerade losgerissen, schrie Sophie auf. Als ich zu ihr blickte, sah ich, dass Dennis inzwischen wieder stand, Sophie am Bauch fest umschlungen und an sich gedrückt hatte. Er hielt sie jedoch falsch herum, sodass das Mädchen kopfüber in seinem Griff zappelte und versuchte, ihm die Nase einzutreten. Zumindest so lange, bis Dennis sagte: „Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn ich dich jetzt loslasse und du mit dem Kopf auf den Steinboden fällst.“

Das kann er doch nicht machen!, schoss es durch meinen Kopf, wobei ich sofort loslief, ohne auch nur daran zu denken, dass Dennis ja überhaupt kein richtiger, böser Gangster war.

Trotzdem kam ich nicht weit, denn ich stieß auf halber Strecke mit Marvin zusammen, der erst erschrocken aufsah, mir dann jedoch einen Kuss auf die Wange gab, und mich umarmte, als hätte er sich seit Wochen und Monaten nichts mehr gewünscht.

Ob ich ihm die Haare durchwuscheln darf?, wunderte sich ein Gedanke, der jedoch nicht weiter beachtet wurde, zumal Josh und Aron uns sowieso wieder auseinander pflückten.

Dann standen wir da, Aron hielt mich fest, Josh hatte Marvin behutsam die Arme auf den Rücken gedreht und Sophie hing immer noch mit gebleckten Zähnen kopfüber.

„Ich habe den Eindruck, hier sind ein paar Gefangene unausgelastet“, sagte Dennis seelenruhig. „Aber keine Sorge; ich hätte da eine Aufgabe für dich, Mädchen.“ Das richtete sich an Sophie.

„Kannst du kochen?“, fragte Dennis, und noch bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu. „Aber nein, ihr reiche Kinder habt ja für alles und jedes eine Magd oder einen Knecht. Sag, weißt du, wie ein Kochlöffel aussieht?“

„Sag, weißt du, wie ein Mann mit eingetretener Nase aussieht? Weil, wenn ja, brauchst du gleich keinen Spiegel, um dir deine Visage auszumalen“, schnappte Sophie zurück.

„Die Kleine gefällt mir. Sie hat Temperament“, grinste Dennis.

„Ich bin nicht klein!“, fluchte Sophie, jedoch schon wieder etwas ruhiger gestimmt.

„Auf was ich eigentlich hinaus wollte …“ Vorsichtig legte Dennis Sophie auf den Boden. „… Ist Folgendes: Mein Magen sagt mir, es ist Zeit fürs Frühstück. Josh, holst du Eier und Milch? Ich wette, der Milchmann hat uns ein paar Flaschen vor die Tür gestellt.“

„Ich wette, der Milchmann hat unseren Nachbarn ein paar Flaschen vor die Tür gestellt“, korrigierte Josh, und verschwand mit einem leisen Lachen in den Raum, in dem Sophie gefesselt gewesen war. Nachdem etliche Schlösser geöffnet und wieder geschlossen worden waren, verschwand Josh schließlich nach draußen.

„Worauf wartet ihr noch?“, fragte Dennis, der wieder seine Gangsterbossstimme aufgelegt hatte. „Erst kochen wir, und dann bringen wir Sophie bei, was Kooperation und Vertrauen bedeutet.“

„Obwohl“, sagte Aron, als er Sophie und mir ein Messer reichte. „Besser wir klären sie jetzt schon über den Punkt Vertrauen auf.“

„Wohl war“, stimmte Dennis mit Gefrierschrankstimme zu. „Es ist ganz einfach. Wir vertrauen darauf, dass du in den nächsten Wochen tust, was wir dir sagen, und du vertraust darauf, dass deiner Familie in den nächsten Wochen nichts passiert. Verstanden?“

Sophie verstand. Sie schüttete auch keine Muskatnuss mehr ins Essen, nachdem Dennis ihr erzählt hatte, dass Gäste bei ihnen prinzipiell zuerst aßen. Zwar bezweifelte ich, dass man uns unter „Gäste“, zählen konnte, aber Dennis widersprach man nicht mehr, nachdem man einmal von seinen frostigen Augen angeblitzt wurde. Ehrlich gesagt bewunderte ich ihn um seine Schauspielkünste, gegen die mein Getue reichlich fade ausfiel. Aron hingegen machte sich sogar ziemlich gut, wie er gelegentlich sein Messer polierte oder mit der neutralsten Stimme der Welt sagte: „Der Fleischspieß gehört ins Hähnchen, nicht in den Boss.“ Daraufhin senkte Sophie ertappt den Blick und wandte sich schnell wieder dem Hähnchen zu.

Ich gewöhnte mich langsam daran, dass Dennis nur noch „der Boss“ genannt wurde, denn Dennis klang, wie er fand, nicht gefährlich genug für einen gemeinen Gangster.

„Dora, nimm das Messer weg. Der Boss braucht kein Messer am Hals. Aber die Kartoffeln müssen noch fertig geschnitten werden“, sagte Aron, als wäre es das normalste der Welt, dass ich mit zusammengebissenen Zähnen und funkelnden Augen ein Messer an Dennis Hals drückte.

„Sollen die Kartoffeln doch verschimmeln“, murrte ich. „Ich glaube, ich gehe jetzt. Ich hab genug vom Kartoffelschälen.“

„Ich glaube nicht, dass du gehst“, widersprach Aron und plötzlich spürte ich eine kalte Klinge im Nacken. Wie schnell er hinter mich gelangt war! Ärgerlich verzog ich das Gesicht und fragte mich, wie ich nur so unachtsam sein konnte. Ich gab echt eine klägliche Leibwächterin ab!

Mein Herz begann schneller zu schlagen und meine Gedanken verwischten zu einem undefinierbaren Brei. Im Nacken ein Messer zu haben war ein scheußliches Gefühl, das mir alle Haare zu Berge stehen ließ. Gelichzeitig fühlte ich mich komisch, verwirrt wie noch nie. Es war als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit und als würde ich zwischendurch vergessen, wer ich war und die Leibwächterin aus dem Buch werden. Warum hatte ich Dennis auch das Messer an den Hals gelegt? Ich würde ihm niemals wehtun, genauso wenig wie ich von Aron etwas zu befürchten hatte. Und doch bekam ich schreckliche Angst, mein Herz schlug so wild, als wolle es aus meinem Brustkorb ausbrechen, die Fessel sprengen.

„Lauft!“, rief ich Marvin und Sophie zu, wobei meine Stimme ein wenig zitterte. „Lauft! Sie brauchen mich noch, sie werden mir nichts tun!“

Nun begann mein ganzer Körper zu zittern und irgendwie war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich unversehrt bleiben würde. Die kalte Klinge auf meiner Haut war eine stille Drohung, ließ mich durchdrehen.

Plötzlich war ich unberechenbar, etwas Fremdes machte sich in meinem Gehirn breit, und dann war es ich. Ich war ich. Wütend, wild, verängstigt. Aber ich hatte keine Angst um mich, ich hatte Angst um Marvin, hatte Angst um Sophie, das kleine, wilde Mädchen, das ich in Gefahr gebracht hatte.

„Lauft doch!“, rief ich. Menschen, die ich mochte, machten mich schwach und verletzlich, ich musste alleine kämpfen, das war die einzige Chance. Warum verstanden sie das nicht, warum flohen sie nicht?

Endlich beugte Sophie sich langsam und vorsichtig nach vorne und zog den Schlüsselbund beinahe in Zeitlupe von Dennis Gürtel. Jede Sekunde verstrich für mich extra langsam, quälte mich, und ich musste das Messer fester packen, damit es nicht aus meinen nassen Händen rutschte. Inzwischen zitterte ich so heftig, dass Aron mich wohl auch unabsichtlich verletzen konnte. Aber das war egal. Was zählte, war, dass Sophie verschwand. Und Marvin. Ja, besonders Marvin.

Sie müssten ihm nur eine Schramme zufügen, und ich würde auf den Knien liegen und alles tun, was sie sagten. Nein, sie müssten nur drohen. Ich würde alles, alles tun, um Marvin zu beschützen.

Irgendwie kamen mir die Gedanken fremd und seltsam vor, aber mir blieb keine Zeit, mich zu wundern, denn als Dennis eine Hand ausstreckte und Sophie am Arm packte, überschwappte mich eine Welle von Wut und Verzweiflung. War denn ein Messer an der Kehle nicht genug?! Was denn noch? Eigentlich wollte ich das ja nicht tun, aber dieser elende Gangsterboss ließ mir schließlich keine Wahl …

Dennis Schrei klang gleichermaßen überrascht und schmerzerfüllt, dann glitt eine kalte Klinge an meiner Haut entlang, und warmes Blut lief mir über den Rücken. Ein Mädchen schrie. Vielleicht ich. Jemand schrie meinen Namen. Ich spürte auch, dass mich jemand von hinten umarmte, jemand, der noch heftiger zitterte, als ich selbst.

Dann verlor ich endgültig das Bewusstsein.

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