Vierzentes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

 „Verflucht, wo bleibt Aron nur?“, fragte ich mich ungeduldig. „Er hat doch gesagt, er kommt gleich, was treibt er denn jetzt schon wieder?!“ Ich hatte heute morgen bei ihm angerufen, kaum, dass ich aufgestanden war, doch er ließ sich Zeit – sehr zu meinem Missfallen, denn ich brannte darauf, das Buch zu öffnen.

Wenn Aron nicht bald kommt, gehe ich eben zu ihm rüber!, dachte ich mir und versuchte, mich zur Beruhigung an unseren Fund zu erinnern. Der Einband war schmutzig und abgegriffen gewesen, nicht einmal ein Titel stand dort. Was dieses Buch wohl so wertvoll machte? Und woher hatten Marvin und seine Verbündeten gewusst, was sich in der verborgenen Luke befand? Marvin!, fuhr es mir durch den Kopf. Oh Scheiße! Zwar hatten wir die Drei bei dem Verhör nicht verraten, aber das konnten sie ja nicht wissen! Bestimmt waren sie schon längst über alle Berge. Weg, für immer.

Seltsamerweise schmerzte der Gedanke, Marvin und Josh nie wieder zu sehen. Dabei hatte ich sie ja nicht einmal richtig gekannt und vor allem Josh war zwischendurch nicht gerade freundlich zu mir gewesen.

Seufzend streckte ich mich auf meinem Bett aus und fragte mich, ob mir die Welt leerer erscheinen würde, wenn sie tatsächlich weg waren.

Aber noch bevor ich mir weitere düstere Gedanken machen konnte, ließ ein Klingeln mich aufschrecken und mit einem Satz war ich auf den Beinen und fegte zur Haustür. Gerade noch rechtzeitig hielt ich an, um diese aufzureißen, bevor ich dagegen knallte.

„Hi, du hast es aber eilig“, grinste Aron. Er hatte es nicht halb so eilig wie ich – im Gegenteil, er ließ sich unheimlich viel Zeit dabei, mir auf mein Zimmer zu folgen, was mich fast zur Weißglut trieb.

„Setz dich endlich hin!“, fluchte ich, während ich vor Aufregung von einem Bein aufs andere sprang.

„Hey, ganz ruhig. Bevor wir uns das Buch ansehen, habe ich noch etwas für dich.“

„Was??“, entfuhr es mir, voller Entgeisterung starrte ich ihn an. Ich wartete bestimmt schon Stunden auf ihn und nun wollte er es noch weiter aufschieben! Ich platzte fast vor Aufregung. Wie konnte er nur so gelassen dastehen? Und mir eine … eine Zeitung reichen?!

„Eine Zeitung?“, kreischte ich. „Was zum Teufel soll ich denn damit?“

„Ich habe den interessanten Artikel eingekreist“, erklärte Aron nüchtern, er schien die Situation eindeutig zu genießen.

„Soso.“ Entkräftet ließ ich mich auf mein Bett sinken. Dann las ich gehorsam den Zeitungsartikel und schon bald hatte er meine Aufmerksamkeit gefesselt.

„Lange Nase? Alle drei etwa ein Meter siebzig groß? Rochen, als ob sie mindestens schon zwei Flaschen Bier getrunken hätten? Und bist du ganz sicher, dass die Drei allesamt vernarbte Hände hatten?“ Ich konnte nicht fassen, was Aron da der Polizei aufgebunden hatte. Doch irgendwie machte es mich glücklich, zu wissen, dass noch niemand für den Einbruch im Knast steckte und es dazu auch voraussichtlich nie kommen würde. Aron grinste nur genüsslich.

„Hey, und hier steht, es scheint nichts entwendet worden zu sein, nach Angabe von irgend so einem Typ, dem die Bibliothek gehört!“

„Ja, komisch, nicht? Glaubst du, der wusste selbst nicht einmal, dass er das Buch besessen hat?“, fragte Aron nachdenklich.

„Eher unwahrscheinlich, aber ich fürchte, wir sollten es ihm so oder so bei der nächsten Gelegenheit zurückgeben, oder?“

„Eigentlich schon, aber jetzt lass uns es erst einmal ansehen“, schlug er vor und ließ sich auf mein Bett fallen.

„Ach ja, richtig.“ Ich setzte mich neben ihn und schlug das Buch auf.

„Die Seite ist ja weiß“, bemerkte Aron.

„Das ist oft so bei der ersten Seite“, verteidigte ich unseren Fund und blätterte um. Ebenfalls weiß.

„Nunja, wenn es keinen Titel hat …“, begann ich, verstummt jedoch selbst. Das war äußerst merkwürdig, und ich musste es ja wissen, denn ich hatte schon viele Bücher gelesen.

„Lass mich mal“, sagte Aron und begann die Seiten etwas schneller umzublättern. Weiß, weiß, weiß, weiß …

„Stopp mal!“, rief ich, blitzschnell hielt ich seine Hand fest. Und tatsächlich, hier, mitten im Buch stand etwas. Nein, nicht nur etwas. Eine ganze Geschichte, geschrieben mit weißer Tinte auf schwarzen Seiten.

„Die kenne ich doch!“, platzte ich heraus. „Die habe ich schon mal gelesen! Aber ganz bestimmt nicht in diesem Buch …“, fügte ich nachdenklich hinzu.

„Hier ist noch eine“, triumphierte Aron, der das Buch nun ein ganzes Stück weiter hinten aufgeschlagen hatte.

„Meine Lieblingsgeschichte! Oh, wow, guck mal, die Stelle mag ich am meisten! Soll ich mal lesen?“

„Um Himmels willen …“, stöhnte Aron, doch davon ließ ich mich nicht abwimmeln. Begeistert begann ich zu lesen, und tatsächlich, es waren genau dieselben Worte wie im richtigen Buch. Nur, dass es sich hier viel besser anfühlte, als wären die Worte lebendiger, ich wurde schneller in die Geschichte hineingezogen, als sonst. Und schon nach wenigen Sätzen hatte ich das Gefühl, die Realität hinter mir zu lassen, als …

„Dora!“ Aron schüttelte mich heftig und riss mich dadurch ziemlich unsanft aus der anderen Welt.

„Was ist denn? Es wurde gerade so schön!“, beschwerte ich mich, wobei ich mir die Augen rieb, als wäre ich aus einem Traum erwacht.

„I-Ich weiß nicht“, stotterte er. „Du … hast irgendwie begonnen, dich … ich weiß nicht … dich aufzulösen?“

„Um Gottes Willen, rede keinen Scheiß … Moment mal … Denkst du, was ich denke?“

„Wenn du das denkst, was ich denke, das du denkst, dann ja“, antwortete Aron unsicher. Er war immer noch ziemlich geschockt.

„Stell dir mal vor, die Geschichten wären wahr und irgendjemand hat tatsächlich das letzte Buch gestohlen! Das letzte Tor zwischen den Welten! Und das hier“, ich deutete auf das unscheinbare Exemplar zu meinen Füßen, „ist dieses Buch! Das wäre fantastisch, oder?“

Das habe ich auch gedacht.“

„Wir müssen es sofort ausprobieren!“, beschloss ich und wollte schon wieder anfangen, zu lesen, als Aron mich zurückhielt.

„Nein! Hör mal, man hat doch nicht aus Spaß versucht, alle Bücher zu vernichten! Nur indem du am falschen Platz stehst, kannst du eine ganze Welt ins Chaos stürzen, sie vernichten. Das sollten wir nicht riskieren, im Gegenteil, wir sollten dieses Buch verbrennen, so wie es geplant war.“

„Es verbrennen?“ Erschrocken umklammerte ich das Buch. „Das kannst du nicht machen!“

„Na gut … du hast recht, irgendwie nicht.“

„Schön, dann sind wir uns ja einig. Und jetzt lass uns da reingehen.“

„Nein!“, protestierte Aron, noch während er mir das Buch abnahm.

„Hey!“ Ich fluchte wild. „Aber wenigstens zu meinem Geburtstag will ich da rein, ich bereite mich auch ganz gut auf die Geschichte vor! Und ich werde vorsichtig sein. Extrem vorsichtig.“

„Nur zum Geburtstag? Und nur ein Mal?“, fragte Aron misstrauisch. Erst wunderte ich mich, warum er einwilligte, bis mich ein fast schon absurder Gedanke beschlich: Auch Aron spürte die Anziehungskraft, die vom Buch ausging, er wollte ebenfalls nur allzu gerne diese andere Welt sehen.

Als ich am nächsten Morgen von meiner Mutter aus dem Bett geschmissen wurde, war ich für einen Moment völlig verwirrt, bis mir wieder einfiel, dass wir ja Montag hatten. Verflucht, schon wieder Schule! In Windeseile ließ ich meine Schulsachen in den Ranzen fliegen (ich hatte mal wieder verschlafen), dann sprintete ich die Treppe hinunter und fegte in nächsten Moment durch die Haustür.

„Rekordzeit!“, triumphierte ich schnaufend, als ich mit quietschenden Sohlen vor Arons Tür abbremste.

„Für eine Rekordzeit bist du aber reichlich spät dran“, stellte die Gestalt, die in der Tür gewartet hatte, fest.

„Marvin?“ Entgeistert starrte ich ihn an, fast hätte ich auf der Stelle die Flucht ergriffen. „Was machst du denn hier?“

„Ich dachte, ich hole euch ab, ist ja kein großer Umweg.“ Er lächelte mich unschuldig an, als wäre nie etwas passiert. Aber natürlich hatte weder er noch ich den letzten Samstag vergessen.

„Aha“, stellte ich gedehnt fest. „Welch eine Überraschung, dich so früh wiederzusehen.“ Meine Stimme troff vor Ironie.

„Hi, Dora, da bist du ja“, unterbrach Aron unser Gespräch und stapfte aus der Tür. „Kommt schon, wir sind spät dran. Steht da gefälligst nicht wie Statuen herum!“ Zögernd folgten wir ihm, wobei ich immer wieder wachsame Blicke Richtung Marvin schoss. Dem schien das nicht zu entgehen, denn er summte die ganze Zeit seltsam vor sich hin.

„Einen netten Kumpanen hast du da“, sagte Aron plötzlich. „Sag bloß, das ist dein Vater?“ Einen Moment schwieg Marvin, dann hob er den Kopf, sah Aron an und seufzte leise.

„Mein Ziehvater. Aber Josh ist mein richtiger Bruder. Ihr habt uns doch nicht verpfiffen, oder?“ Er klang erstaunlich ruhig, als er das fragte.

„Ne“, meinte Aron grinsend. „Hier, lies mal.“ Er reichte Marvin die Zeitung, die dieser zögerlich, aber mit einem erleichterten Lächeln entgegennahm. Während er las, zogen sich seine Augenbrauen jedoch immer mehr zusammen und Arons Lächeln wurde zunehmend breiter.

„Lange Nase?“, wollte Marvin schließlich verkniffen wissen.

„Sei doch froh, du Idiot! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe!“

Langsam legte sich der wütende Gesichtsausdruck unseres Begleiters, er dachte nach.

„Warum habt ihr das getan?“, wollte er wissen. „Warum habt ihr uns nicht einfach verraten?“

„Nunja …“, begann Aron etwas nachdenklich, kratzte sich am Kopf, wie er es so gerne tat, und lächelte dann leicht. „Vielleicht gingen wir davon aus, dass ihr harmlos seit, nicht tötet und auch niemandem sonst etwas zuleide tut.“ Er sah Marvin mit einem Blick an, der fragte: Oder?

„Natürlich morden wir nicht!“, rief der aufgebracht. „Und wir werden auch … fast niemandem etwas zuleide tun.“

„Was heißt hier fast?“

„Tja, könnte ja sein, dass ich dir irgendwann mal für deine Frechheiten die Fresse poliere.“

„Hehe, pass bloß auf, bevor ich dich um ein paar Zähne erleichter.“

„Schon gut. Jetzt mal wieder ernst. War das alles? Zumindest D- ähm, meinen Ziehvater kennt ihr doch gar nicht.“

„Wir waren auch der Meinung, dass niemand in deinem Alter für ein fehlgeschlagenes Verbrechen sein Leben lang im Knast hocken sollte“, fügte ich hinzu. Und in Gedanken sagte ich mir: Und außerdem haben wir das Buch ja auch nicht zurückgegeben, wir müssten euch eigentlich dankbar sein.

„Ganz deiner Meinung“, stimmte Marvin mir zu und lächelte wieder. „Ähm, ihr habt das Buch doch sicher wieder zurückgegeben? Wisst ihr, es ist eigentlich nur für uns wertvoll, weil es ein paar Informationen enthält, die beim nächsten Überfall wichtig sein könnten.“

Ganz klar, dachte ich mir, sagte jedoch: „Natürlich. Es befindet sich bestimmt schon wieder in der Bibliothek. Ihr werdet aber hoffentlich nicht planen, dort noch einmal einzubrechen, oder?“

„Selbstverständlich nicht. Es lohnt sich nicht.“

„Ich habe das Gefühl, er lügt uns an“, raunte Aron mir zu, danach sagte er etwas lauter: „Habe ich da richtig gehört, dass ihr wieder irgendwo einbrechen werdet?“

„In der Tat, das ist unser Beruf. Damit verdienen wir unser Essen. Und ein paar geringe Verluste schaden den Leuten auch nicht.“

„Ich dachte, Josh würde bei einer Tankstelle arbeiten“, bemerkte ich ganz nebenbei.

„Das reicht aber nicht!“, knurrte Marvin, dem die Anspielung nicht entgangen war. Langsam bekam ich das Gefühl, dass hier alle Beteiligten wussten, dass wir uns gegenseitig anlogen.

Doch kaum in der Schule war das auch schon wieder vergessen, denn dort waren wir mehr als genug abgelenkt. Inzwischen hatte jeder gehört, dass wir in der Bibliothek gegen Verbrecher gekämpft hatten, und alle wollten, dass wir ihnen jedes doch so unwichtige Detail schilderten. Auch Marvin hatte einen großen Spaß daran, die Geschichte mit furchterregenden Szenen zu schmücken.

„Einer von diesen Verbechern war ganz groß, und er hatte …“, er überlegte und sah mich dabei nachdenklich an.

„… eine fürchterliche Narbe über dem linken Auge. Gott weiß, wo der die herhatte. Einfach grauenhaft. Bestimmt konnte er auf dem Auge nicht mehr sehen …“, führte ich die Geschichte fort.

„Ja, und er hatte Dornen vorne am Schuh, verdammt spitz, damit hat er mich getreten“, prahlte Aron genüsslich.

„Zeig mal“, forderte Lucas und sah uns schräg von der Seite an.

„Geht leider nicht. Er hat mich am Oberschenkel getroffen, ich kriege die Hose leider nicht so hoch.“ Leises Gekicher folgte darauf.

„Tja, ganz fürchterliche Typen. Einer von ihnen hat Dora ins Gesicht geschlagen“, meinte Marvin und legte grinsend einen Arm um meine Schulter. „Das war der Schrecklichste von allen.“

„Kann man wohl sagen“, bestätigte ich und lächelte zurück. Bestimmt war meine Hautfarbe von totenbleich auf leicht rosa gewechselt, aber mit Glück bemerkte Marvin das gar nicht. Doch den anderen Mädchen aus meiner Klasse, die mich böse anfunkelten, war es mit Sicherheit nicht entgangen.

Trotz allem wurde der Schultag ein voller Erfolg, selbst Mike schluckte seinen Stolz herunter und fragte mich etwas über den Kampf.

Viel zu schnell ging der Schultag herum, trotzdem konnte ich in dem ganzen Trubel eine neue Erkenntnis gewinnen, die zumindest für mich wichtig war: Auch Geschichten erzählen machte satt – das war insofern wichtig, weil ich wohl sonst ziemlich ausgehungert aus der sechsten Stunde gegangen wäre, da ich förmlich zu nichts anderem gekommen war.

„Ah, was für ein Tag!“, seufzte Aron glücklich und da konnte ich ihm nur recht geben. Fröhlich hüpften wir aus der Schule und wanderten mit Marvin, der mindestens ebenso froh aussah, nach Hause. Doch gerade, als wir die Stelle erreicht hatten, wo wir uns immer trennten, fiel mir etwas ein.

„Wir wollten doch herausfinden, wo dieser Kauz wohnt“, raunte ich Aron zu, kaum, dass Marvin um die nächste Straßenecke gebogen war.

„Ach ja, richtig“, raunte er zurück und schnell, jedoch vorsichtig und leise folgten wir ihm. Trotzdem waren wir wohl nicht vorsichtig genug gewesen, denn als wir um die Ecke bogen, hinter der Marvin verschwunden war, knallten wir direkt mit ihm zusammen.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte er scheinbar völlig perplex.

„Wir …“ Aron warf mir einen verzweifelten Seitenblick zu.

„Wir – ich meine ich, hatte ganz vergessen, dass … ähm, ich wollte dir noch etwas sagen …“

„Ja?“, fragte Marvin und zog beide Augenbrauen in die Höhe.

„Das mit dem Geschichtenerzählen … das hast du toll gemacht, ehrlich. Ich hätte nicht gedacht, dass sie uns das abnehmen.“ Ich lächelte verlegen und Marvin tat es mir gleich. Für einen kurzen Moment sahen wir uns in die Augen und mein ganzer Körper begann zu kribbeln, doch viel zu schnell brach Aron diesen Zauber.

„Tja, das war’s auch schon. Wir müssen jetzt gehen.“

Marvin zuckte leicht zusammen, dann nickte er, wünschte uns noch einen schönen Nachmittag, drehte sich um und ging. Aron und ich spazierten in die andere Richtung, drehten uns jedoch bald darauf wieder um, um Marvin hinterherzuspähen.

„Er blickt in unsere Richtung, scheint uns jedoch nicht zu sehen“, meldete Aron leise, ich selbst sah nichts, da nur einer hinter der Hecke, hinter der wir uns versteckten, hervorspähen konnte, ohne dass wir Gefahr darauf ausliefen, entdeckt zu werden.

„Jetzt kommt er zurück, lass uns in dieser Seitengasse verschwinden und harmlos weiterlaufen“, schlug Aron vor. Nur schwer ein Kichern unterdrückend leistete ich seinem Befehl Folge.

„Was sollen wir nur machen, wir müssen dafür sorgen, dass er aufgibt und nach Hause geht, sonst können wir ihm nicht folgen!“

„Ich schlage vor, wir setzten uns auf die nächstbeste Bank und unterhalten uns über die Schule. Das dürfte abschreckend genug sein.“

Aron behielt recht: Es war abschreckend genug. Nach nicht einmal zwanzig Minuten sahen wir Marvins Haare nicht mehr hinter der nächsten Straßenecke hervorlugen.

„Los geht’s, folgen wir ihm“, raunte ich und hopste beinahe im selben Moment wie Aron von der Bank. Triumphierend lächelnd flitzten wir zu der Ecke, hinter der sich gerade eben noch Marvin befunden hatte, spähten dahinter hervor und warteten, bis der um die nächste Kurve verschwunden war, dann folgten wir ihm eilig. So ging das ein gutes Stück, und es war nicht einfach, ihm zu folgen. Denn er sprintete beinahe, als wolle er nicht noch mehr Zeit verschwenden, oder einfach so viel Abstand wie möglich zwischen dem Platz, an dem wir gesessen hatten und sich selbst bringen. Doch da er sich kein einziges Mal umdrehte, schafften wir es trotz des schwierigen Tempos, dem Jungen immer dicht auf den Fersen zu bleiben.

Marvin wohnte am Stadtrand, oder wie Aron sich ausdrückte: Schon fast im Wald. Tatsächlich war das kleine Haus fast vollständig von Zweigen und Ranken verdeckt, und riesige Bäume lehnten sich bedrohlich schräg über das Dach.

„Warum haben die die Fenster eigentlich zugenagelt?“, fragte Aron mich leise und deutete auf das einzig sichtbare Fenster. Ich selbst war erst gar nicht auf die Idee gekommen, dass es sich dabei überhaupt um ein Fenster handeln könnte, auf den ersten Blick wirkte es eher, wie eine notdürftig geflickte Stelle in der Hauswand.

„Meine Güte, hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie Marvin da rein gegangen ist, mir würde es völlig absurd vorkommen, dass hier jemand lebt“, meinte ich.

„Das könnte sogar Absicht sein.“ Ein Hauch von Ironie schwang in Arons Stimme mit, doch er meinte es nicht böse.

Wenn sie schon nicht aussehen wie Verbrecher, so passt wenigstens das Haus zu Kriminellen, dachte ich und grinste plötzlich.

„Wollen wir sie belauschen?“

„Wieso nicht?“, stimmte Aron zu, geduckt hasteten wir zu der Hauswand, pressten unsere Ohren dagegen und warteten.

Gesehen zu werden war hier zwar eigentlich das geringste Problem, da die letzten Häuser der Stadt ein gutes Stück zurücklagen, Marvins Haus keine Fenster hatte und weit und breit kein Mensch zu sehen war. Aber geduckt anschleichen gehörte einfach dazu – und ich musste es ja wissen, so viele Bücher, wie ich bereits gelesen hatte.

„Na, wie ist es in der Schule gelaufen?“ Die Frage, die gedämpft durch die dünne Hauswand drang kam von Marvins Ziehvater (falls es wirklich sein Ziehvater war, man wusste ja nie), und den Gerüchen nach zu urteilen kochte er gerade irgendetwas, das verdächtig nach Nudeln mit Tomatensoße roch.

„Bestens“, antwortete Marvin. „Dora und ihr Freund Aron verpfeifen uns nicht, im Gegenteil, sie haben fleißig mitgeholfen, falsche Gerüchte über uns in die Welt zu setzten.“

„Da haben wir aber verdammt Glück gehabt. Mist, wo bleibt Josh bloß? Die Nudeln sind fertig.“

Ich wusste nicht, ob ich lachen, oder mich lieber vor Angst verkriechen sollte. Natürlich, es war kein bisschen lustig, dass Josh wahrscheinlich in Kürze hier entlangspaziert kam, auch wenn er uns in den Büschen eh nicht sehen konnte, doch der letzte Satz hatte mich so sehr an meine Mutter erinnert, wenn mein Vater mal wieder zu spät kam, dass es mir schwerfiel, ein Glucksen zu unterdrücken.

„Da“, raunte Aron, wobei er mit dem Finger auf eine groß gewachsene Gestalt zeigte, die gerade beschwingt auf das zugenagelte Häuschen zuhielt.

Vor der Tür bremste Josh abrupt ab, klopfte an – es klang ganz nach einem geheimen Klopfzeichen – und sagte: „Ich bin’s, Josh.“ Darauf hörten wir, wie ein paar Riegel zurückgeschoben und ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde, die Tür einen Spalt aufging (sie wurde allen Anscheins nach auch noch von einer Kette gehalten) und erst nachdem Josh sich noch einmal zu erkennen gegeben hatte, vollständig aufgemacht wurde.

„Meine Güte, haben die Sicherheitsvorkehrungen!“, flüsterte Aron, kaum, dass Josh im Inneren des Hauses verschwunden war.

„Das kannst du laut sagen.“

„Lieber nicht.“

Zur Antwort rollte ich mit den Augen und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch. Doch zu unserer Enttäuschung war es so alltäglich, dass wir beide schon bald vor Langeweile Grashalme verknoteten, Stöckchen zwischen den Fingern drehten oder selbst anfingen, uns zu unterhalten, sodass wir fast nicht bemerkten, dass die Drei endlich auf das Buch zu sprechen kamen. Sofort klebten wir wieder aufmerksam an der Wand, doch zu meiner großen Enttäuschung redeten sie bloß über den fehlgeschlagenen Einbruch. Obwohl wir so erfuhren, dass Josh irgendeinen komischen, von ihm extra entwickelten Stock unter die Türklinke des Badezimmers geschoben hatte, um die Bibliothekarin einzusperren, und dass Marvin Samstagmittag hinauf in den zweiten Stock geschlichen war, um ein Fenster zu kippen, während Josh mal wieder Mrs Barker ablenkte, war es doch für mich und besonders für Aron alles andere als interessant. Wir wollten nichts über die Vergangenheit hören, sondern etwas über ihre Zukunftspläne erfahren!

„Es ist schon vier Uhr“, stöhnte Aron schließlich. „Lass uns abhauen!“

„Gute Idee“, ächzte ich und erhob mich etwas steif. Meine Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt, der ganze Nachmittag meiner Meinung nach verschwendet. In dieser Zeit hätte ich ein ganzes Buch lesen können! Na gut, vielleicht eher ein halbes …

„Ach ja, wir sollten so schnell wie möglich herausfinden, ob Dora das Buch wirklich nicht mehr hat. Ich traue ihr nämlich nicht so ganz“, sagte plötzlich Marvin. Ich erstarrte, in der Hoffnung, noch mehr zu hören, doch nun wechselten sie schon wieder das Thema, diesmal kamen sie auf Joshs Job an der Tankstelle zu sprechen. Immerhin in dieser Hinsicht hatte Marvin uns nicht angelogen.

„Was ist?“, wollte Aron mit gedämpfter Stimme wissen.

„Ach nichts.“ Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm, fort von dem Haus am Waldrand und zurück nach Hause, wo mein Buch bestimmt schon auf mich wartete.

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