Siebzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
„Wenn ich nächstes Jahr noch da bin, schenke ich dir Ohrenstöpsel“, versprach Marvin mir in der Pause. Er war furchtbar gut gelaunt, ich hatte keinen blassen Schimmer, warum.
„Wenn du nächstes Jahr noch da bist?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte. Nun, da ihr Einbruch fehlgeschlagen war, gab es nichts mehr, was sie hielt. Und hätten wir nicht eingegriffen und uns das Buch selbst unter den Nagel gerissen, wäre er schon längst nicht mehr hier.
Da lächelte Marvin plötzlich traurig, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Du hast richtig vermutet – wir werden wahrscheinlich bald gehen. Hier gibt es nichts mehr zu holen. Aber einen guten Tipp kann ich dir noch geben: Hör lieber ein bisschen öfter auf deinen Freund. Aron meine ich.“
„Wer ist hier wessen Freund?“, fragte in diesem Moment Aron, der sich von hinten an mich herangeschlichen hatte. Erschrocken fuhr ich zusammen, fasste mich jedoch schnell wieder.
„Wieso? Wie meinst du das?“, fragte ich Marvin, ohne auf Arons Frage einzugehen.
„Alles zu seiner Zeit“, lächelte er. Ärgerlich verzog ich das Gesicht, öffnete den Mund, doch Aron war schneller.
„Kann mir mal jemand erklären, wovon ihr hier redet?“
„Na gut. Komm, ich erklär’s dir.“ Ich ging mit Aron nach draußen, wo ich ihm alles noch einmal erzählte.
„Ich wusste gar nicht, dass Marvin gerne in Rätseln spricht“, meinte der, als ich geendet hatte.
„Ich auch nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass das nichts Gutes bedeutet. Zumindest nicht für uns.“
Darauf nickte Aron düster.
„Wir müssen vorsichtig sein“, meinte er. „Wenn sie herausfinden, wo wir das Buch hinbringen, ist es gewiss nicht lange dort.“
Endlich war die Schule aus, meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, sodass ich kaum stillstehen konnte und auch Aron zeigte die ersten Symptome von Aufregung. Wir konnten es gar nicht erwarten, dass Marvin endlich abbog und wir frei reden konnten.
„Und, welches Buch nimmst du? Bitte kein dickes!“
„Immer noch mein Lieblingsbuch.“
„Argh!“, entfuhr es Aron, augenblicklich wurde er totenbleich. „Du hast deine Meinung also nicht geändert? Aber … Es hat fast vierhundert Seiten!“
„Das ist wenig!“, protestierte ich aufgebracht. Vierhundert Seiten las ich in einer Stunde, wenn ich in Form war! „Das wirst du doch noch schaffen, oder?!“
„Ich muss wohl.“ Er seufzte und strich sich das Haar aus der Stirn. „Willst du es auch noch mal lesen, oder kannst du es mir jetzt schon geben?“
„Ich denke, jetzt schon. Ich kann fast die Hälfte auswendig.“
„Gut, dann esse ich was, lese das Buch und komme rüber.“
„Ich glaube, ich mache ungefähr dasselbe.“
„Du isst was? Und wie willst du das Buch lesen?“, grinste Aron frech.
„Ich mache eine Art Kompromiss. Ich esse etwas, indem ich ein Buch lese.“
„Ach so. Bleib mal stehen, ich hole die Geschichte aus deinem Ranzen.“
„Sag mal, ist eigentlich Marvin hinter uns?“, wollte ich plötzlich beunruhigt wissen.
Aron sah sich gründlich um, dann schüttelte er den Kopf. „Wohl eher nicht. Und wenn doch – wir haben ja leise geredet.“
„Das ist gut“, seufzte ich erleichtert und spielte nervös mit meinen Fingern. Hoffentlich würde Aron sich mit dem Lesen beeilen …
Zum Glück lenkte ein Buch mich so lange ab, bis Aron klingelte, ansonsten wäre ich höchstwahrscheinlich die ganze Zeit lang völlig überdreht durch die Wohnung geeilt, und spätestens dann wäre meiner Mutter endgültig aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater war ja nicht da.
„Na, du verbringst deinen Geburtstag wohl mit deiner Lieblingsbeschäftigung“, sagte sie lächelnd, als sie in mein Zimmer kam. „Aron ist da. Und er hat Geschenke für dich. Ob du‘s glaubst oder nicht – er hat sie sogar eingepackt!“
„Echt?“ Ich warf die Lektüre, die ich gerade durchgenommen hatte, achtlos beiseite und stürmte auf Aron zu.
„Achtung, nicht, dass du uns die Wände einrennst! Und wofür ist das mit dem Spiegel eigentlich gut?“
„Er hat ein bisschen genervt“, gab ich kleinlaut zu. „Weißt du, es tut nicht gut, jeden Morgen vor Schreck fast ohnmächtig zu werden, weil man glaubt, einen Untoten zu sehen, obwohl es nur das eigene Spiegelbild ist.“
„Du? Eine Untote?“ Meine Mutter lachte ungläubig. „Du siehst so gesund aus wie noch nie!“
„Was?“, fragte ich völlig perplex.
„Das kannst du natürlich nicht wissen“, meinte Aron verschmitzt. „Du hast ja das Tuch über dem Spiegel.“ Darauf verzog ich den Mund zu einem Schmollen und riss das Laken herunter.
„Bitteschön“, murrte ich, konnte mir jedoch das Grinsen nicht verkneifen. „Kommen wir zu den Geschenken.“
„Ach ja, genau.“ Aron reichte sie mir lächelnd, dann ließ er sich wie immer auf meinem Bett nieder.
„Ich lasse euch dann mal alleine.“ Meine Mutter verschwand wieder, fast sehnsüchtig blickte ich ihr hinterher.
„Ich weiß, wie du dich fühlst“, sagte Aron leise. „Du fragst dich, ob das das letzte Mal ist, wo du sie siehst.“ Er hatte recht, doch ich hatte gar nicht erst vor, solche Gedanken zuzulassen.
„Wir passen auf, ganz sicher. Außerdem haben wir ja deine furchtbar optimistischen Notizen.“ Ich zog den Zettel aus meinem Ranzen und grinste schwach.
„Ich kann nichts dafür, ich habe nur übernommen, was im Buch stand!“, verteidigte er sich.
„Na gut. Ach ja, wie gefällt dir die Geschichte, in die wir gehen werden?“
„Könnte interessant werden.“
„Oh Mann!“, stöhne ich und klatschte mir die Hand vor die Stirn. „Findest du eigentlich überhaupt eine Geschichte gut?“
„Nö.“
„Dann hätten wir das ja geklärt.“ Ich schnappte mir das magische Buch und legte es neben unser Reiseziel. Kaum, dass ich den Deckel hob, war mein Lieblingsbuch auch schon leer.
„Was mache ich jetzt bloß mit dem leeren Buch?“, fragte ich mich, als ich es zur Seite legte, und blickte ratlos darauf hinab. Nur der Titel auf der Buchseite stand noch.
„Sieh es als Erinnerung an“, riet Aron mir, schnappte sich das andere Buch und schlug es auf der Seite auf, auf der nun die Geschichte stand.
„Glaubst du, es reicht, wenn ich mich an dir festhalte, oder müssen wir zusammen lesen?“, wollte er wissen.
„Besser, wir versuchen es erst mal mit festhalten. Wenn das nicht klappt, kannst du mich ja wieder schlagen.“
„Wie du meinst.“
„Versuch’s diesmal etwas sanfter.“
„Ha, ha.“
Fangen wir an, dachte ich mir und begann die Stelle zu suchen, in die ich hineinschlüpfen wollte. Da sie ganz am Anfang war, war es nicht schwer, sie zu finden. Es schien, als habe sie nur darauf gewartet, gelesen zu werden. Leise begann ich vor mich hinzumurmeln, doch während ich anfangs noch Arons Hände, die sich eisern um meinen Arm geschlossen hatten, spürte, merkte ich nur Sekunden darauf nichts mehr von meiner Umgebung. Ein Bild wurde immer schärfer vor meinem inneren Auge, es war dunkel, Nacht … ja, zweifellos der Waldrand …
Mehr konnte ich nicht erkennen, denn in diesem Moment verschwand das Bild blitzartig wieder, ein Gefühl durchzuckte mich, als wäre ich unter eine Planierraupe geraten, und im nächsten Augenblick befand ich mich wieder in meinem Zimmer, wo die Wände mich plötzlich zu zerquetschen drohten.
Ein erstickter Schrei entfuhr mir, so leise, als stecke er zwischen den Welten fest – seltsam und unheimlich klang er in diesem kleinen Raum.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Aron erschrocken. Er hockte auf dem zugeschlagenen Buch, offensichtlich hatte es ihn ziemlich viel Mühe gekostet, es zu schließen.
„Ich glaube, ja.“ Zum Glück hatte ich meine Stimme wiedergefunden, wenn sie auch noch etwas rau klang. „Lass uns zu Plan B übergehen. Wir lesen gemeinsam.“
Es klappte. Es klang miserabel. Aber es klappte.
„Oh“, sagte Aron leise. „So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.“
„Ich schon“, entgegnete ich, ebenfalls mit gesenkter Stimme.
„Ähm … wo sind wir denn?“
„Ganz am Anfang, siehst du die Wölfe da hinten auf dem Hügel?“
„Nur ihre Augen.“
„Gut. Jetzt sei still und beobachte. Ich muss das hier genießen.“
„Äh, tut mir leid, aber … Wie kommen wir zurück?“
Ich erstarrte. Oh, oh. Ganz langsam drehte ich mich um und eine Welle der Erleichterung durchfuhr mich. Hinter uns ragte ein matt schimmerndes Tor in die Höhe. Es passte hier nicht hin und gewiss waren wir die Einzigen, die es sahen.
„Ah, gut“, raunte Aron, nachdem er sich ebenfalls umgesehen hatte, dann schwiegen wir.
Die gelben Augen auf dem anderen Hügel wurden immer mehr – der schauerliche Anblick versetzte mich in eine Hochstimmung, die hier eigentlich nicht hingehörte.
Aron hingegen war totenbleich, ihm schien das alles nicht so gut zu gefallen.
Bestimmt, dachte ich mir im Stillen, hat er das Buch so flüchtig gelesen, dass er keine Ahnung hat, was jetzt passiert. Kein Wunder, dass er solche Angst hat.
Plötzlich heulte einer der Wölfe so kläglich, dass sich alle Haare auf meinen Armen steil aufrichteten. Hätte ich Aron nicht festgehalten, wäre er wohl sogar in Ohnmacht gefallen.
Da schoss der Wolf plötzlich mit einem weiteren Heulen aus dem Wald hervor, wirbelte ein Mal im Kreis, dann sackte er langsam zu Boden und blieb er mit einem klagenden Wimmern liegen. Durch die Stille der Nacht war es auch hier, gut einen halben Kilometer entfernt, deutlich zu hören. Doch es erstarb so plötzlich, wie es gekommen war.
Ist … er tot?, fragten Arons Augen, nach kurzem Zögern nickte ich, sah gebannt dabei zu, wie sich die meisten leuchtenden Augen in den Wald zurückzogen. Selbst von hier, aus sicherer Entfernung, wirkte die Szene äußerst bedrohlich.
Um ehrlich zu sein, es wunderte mich nicht, dass Aron das alles nicht gefiel. Wie die Geschichte meine Lieblingsgeschichte sein konnte, war selbst mir manchmal schleierhaft, aber zumindest Leute, die gerne Thriller lasen, müssten mich verstehen. Dieses Gruseln noch hundertfach stärker, das war es einfach wert.
Eine Weile war es still, dann stolperte ein großer Wolf, prächtiger als alle, die ich je gesehen hatte, zwischen den Bäumen hervor, keuchte auf und sackte in sich zusammen. Das mit eigenen Augen zu beobachten war tausendmal beängstigender, als es nur zu lesen.
Doch es sollte noch schlimmer kommen. Ich kannte das Buch gut genug, um zu wissen, dass dies erst der Anfang war. Langsam fragte ich mich, ob eine andere Stelle nicht vielleicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.
Ein panischer Laut zerschnitt die Stille, die auf das letzte Ereignis gefolgt war, und im nächsten Moment stürzten gleich zwei Wölfe aus dem Dickicht hervor und jagten über die Hügelkuppe, als versuchten sie, vor etwas Unsichtbarem zu fliehen. Als der Erste röchelnd zusammenbrach, zögerte der Zweite kurz. Er lief nie mehr weiter.
„Das ist abscheulich!“, stieß Aron hervor, als noch ein Wolf röchelnd zusammenbrach – Blut sickerte wie ein dünner Faden aus seinem Maul, und schimmerte im fahlen Mondlicht wie Silber.
„Wie viele müssen denn noch sterben?“
„Nur noch einer“, versicherte ich ihm so leise, dass selbst ich meine Stimme kaum vernahm. „Der Stärkste von ihnen.“
Er war ein wunderschönes Exemplar, groß, stark, und doch flackerte der Tod bereits in seinen Augen, als er stockend sein Rudel verließ und sich auf die freie Hügelkuppe begab. Es sah aus, als triebe ihn eine unsichtbare Macht vorwärts – langsam aber sicher aus dem beschützenden Kreis seiner Gefährten heraus. Keiner dieser Wölfe verspürte das Verlangen, ihm zu folgen. Im Gegenteil, sie verschwanden alle pfeilschnell im Wald und jemand anderes nahm ihren Platz ein. Nur die giftgelben Augen verrieten den Neuen, diese Augen, die so wölfisch aussahen, und doch nichts mit Wolfsaugen gemeinsam hatten.
Gleich würde ich ihn sehen. Ich hatte mir schon oft vorzustellen versucht, wie er wohl aussah, doch die Wahrheit war noch schlimmer als meine grausigsten Fantasien. In einer gewissen, abscheulichen Art und Weise war dieses Erlebnis eine Bereicherung.
Die Autorin hatte völlig recht gehabt, als sie schrieb, er sehe aus wie eine grausige Bestie, die zufälligerweise von der Gestalt her einem Wolf ähnlich sah, jedoch ansonsten nichts mit diesen Tieren zu tun hatte. Etwas Fürchterliches, das sich unter keinem Pelz verstecken ließ, umhüllte ihn wie eine giftige Wolke. Denn die Wolfgestalt, die er nun trug, konnte nicht verbergen, was sich darin befand. Und fast glaubte ich, die Stärken der ermordeten Wölfe in diesem neuen Körper deutlich erkennen zu können. Doch sie waren seltsam falsch, verdreht und hatten jede Anmut verloren.
„Igitt, was ist das?“, zischte Aron leise. Er klang wirklich angewidert.
„Der Böse, wer denn sonst?“
„Da!“ Aron deutete ins Dorf. Die kleine Häuseransammlung im Tal schien zum Leben erwacht zu sein. Überall huschten kleine Gestalten herum, deuteten nach oben oder standen einfach starr vor Schreck. Leicht abseits stand ein kleines Mädchen und starrte reglos zu der Gestalt, von deren Lefzen noch das Blut ihres letzten Opfers tropfte, herauf, unfähig sich zu bewegen oder auch nur zu schreien.
„Wird er die Dorfbewohner töten?“, wisperte Aron. Seine Hautfarbe war inzwischen wirklich ungesund.
„Nein, nur zwei Kinder, die sich heute Nacht von zuhause weggeschlichen haben. Naja, er macht sie zu seinen Sklaven.“
„Ach?“, fragte Aron schwach. „Sollten wir sie nicht warnen? Sie müssten hier irgendwo in der Nähe sein.“
„Niemals!“, fauchte ich leise. „Hast du vergessen, was dann geschehen kann?“
„Oh“, meinte er, dann waren wir wieder still. Doch das Monster schien etwas gehört zu haben, denn es spitzte die Ohren, zischte leise, dann jagte es los, ungefähr in unsere Richtung.
„Ich sag doch, die müssen hier irgendwo in der Nähe sein!“, raunte Aron panisch.
„Los, hauen wir ab, bevor es uns erwischt!“ Das ließ Aron sich nicht zweimal sagen und ich hätte es auch gewiss nicht ein zweites Mal gesagt – noch nie hatte ich solche Angst gehabt. Was, wenn er ausversehen uns erwischte?
Wenn die anderen ihn doch nicht ablenkten …
Doch er gab niemals auf. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde er nie aufhören zu jagen, bis er über sein Opfer triumphierte. Das war seine Stärke und Schwäche zugleich …
Verflucht, hätte die Autorin diesen Charakterzug nicht rauslassen können? Wenn dieses Biest nach der Unsterblichkeit und die Bewohner dieses Dorfes ihm nach dem Leben trachteten, durften sie ja gerne ihre Pflicht tun, aber bitte ohne uns!
„Vielleicht hätten wir einfach zurück durch’s Tor rennen sollen!“, erinnerte sich Aron plötzlich.
„Oh, Scheiße!“, fluchte ich. „Na toll! Das war’s!“ Wie zur Bestätigung meiner Worte fiel da auch schon ein schwarzer Schatten über uns. Das Ungeheuer war verdammt schnell gewesen.
Das war’s!, dachte ich nur noch, bevor mich eine Pranke am Kopf erwischte und ich niedergeschmettert wurde, bevor ich auch nur versuchen konnte, mein Taschenmesser zu zücken.
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