Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel

Kaum Zuhause, schlief ich auch schon tief und fest, träumte von den Gangstern und wünschte mir, so seltsam das auch war, sie wiederzusehen. Sie vermittelten mir ein wenig das Gefühl einer Geschichte, ein kleiner Trost in der Realität. Ich träumte auch von Marvin und Aron, wie die beiden sich stritten, und dass Aron Marvin vorwarf, einer der Gangster gewesen zu sein. Ich stand daneben, wünschte mir, Marvin wäre nie gekommen, doch er war da, und das fürchterliche Gefühl, als ob die beiden Jungs mich in zwei Hälften rissen, blieb, auch als mein Traum bereits vorbei war …

Mit weit aufgerissenen Augen erwachte ich. Ich musste mich so wild hin und hergeworfen haben, dass ich aus dem Bett gefallen war, denn nun lag ich, mein Kissen fest umklammert, als wolle ich mich daran festhalten, auf dem Boden. Mit leicht zittrigen Beinen richtete ich mich auf, warf einen flüchtigen Blick auf den Wecker – halb vier Uhr morgens – und entschied, dass es sich nicht mehr lohnte, einzuschlafen. Also ließ ich mich auf meinem Bett nieder und begann ein Buch zu lesen.

Plötzlich riss das Klingeln meines Weckers mich aus dem Zeitlosen. Für einen Moment saß ich regungslos da, starrte verwirrt Löcher in die Luft, dann wurde mir langsam wieder klar, wer und wo ich war. Diese Erkenntnis war ziemlich enttäuschend und mit einem Seufzer richtete ich mich auf. Rieb mir die müden Augen, schwankte ins Bad, stolperte und landete hart auf dem Boden, wo ich wie betäubt liegen blieb.

„Dora, was ist? Dora, steh auf!“ Die Stimme meiner Mutter ließ mich aufschrecken. Ich musste wohl eingeschlafen sein.

„Du siehst schrecklich aus! Hast du denn überhaupt nicht geschlafen? Das kann diese Bibliothekarin doch nicht machen!“ Sie klang richtig außer sich, ich musste wohl einen wahrlich grauenvollen Anblick abgeben.

„Nein, nein!“, wehrte ich hastig ab. „Diesmal hat sie uns relativ zeitig gehen lassen. Ich … hab nur in letzter Zeit jede Nacht ziemlich lange gelesen“, gestand ich und hielt mir den Kopf, der brummte, als hätte mir jemand ordentlich dagegen geschlagen.

„Das geht so nicht weiter, Dora“, seufzte meine Mutter und kniete sich neben mich. „Du siehst krank aus!“

„Ich weiß.“ Langsam richtete ich mich auf, wobei ich mich am Waschbecken abstützen musste.

„Diese Nacht liest du mir aber nicht!“, mahnte sie kopfschüttelnd und sah mich besorgt an.

„Versprochen, Mum.“

Kurz darauf befand ich mich mit Aron auf dem Schulweg, der vor Neuigkeiten zu platzen schien.

„Der Einbruch, den du beobachtet hast, war heute in der Zeitung!“, teilte er mir aufgeregt mit. „Die haben sich eine ganz schöne Summe unter den Nagel gerissen!“

„Wissen sie, wer es war?“, fragte ich mit gesenkter Stimme, auch wenn das gar nicht nötig gewesen wäre – außer uns war hier eh niemand.

„Ne, aber der Überfall schien ein wenig unorganisiert. Die Polizei vermutet, dass sie ziemlich unprofessionell sind. Ach ja, du solltest dich bei der Polizei melden.“

„Klar, aber doch noch nicht jetzt! Was glaubst du, wie das rüberkommt, wenn ich zu denen gehe und sage: 'Ich hab die gesehen und einer kam mir sogar bekannt vor, ich kann mich halt nur nicht erinnern, wer’s war‘ … Nein, ich warte lieber, bis es mir wieder einfällt.“ Darauf konnte Aron nur seufzen, aber er widersprach mir nicht. Er kannte mich nur zu gut und wusste, wie viel Überwindungskraft es mich kosten würde, überhaupt zur Polizei zu gehen. Schließlich bereitete mir nichts so große Probleme, wie mit anderen Menschen (Aron ausgenommen) zu sprechen, erst recht, wenn es Erwachsene waren. Wahrscheinlich würde ich vor lauter Unsicherheit kein einziges Wort hervorbringen.

Schließlich betraten wir das Schulgebäude und gesellten uns zu unseren Mitschülern, die sich in der für unsere Klasse typischen Ecke versammelt hatten. Auch Marvin war schon da, und schlenderte auffällig gelassen in unsere Richtung.

„Ich habe gehört, ihr habt euch Strafe eingebrockt. Angeblich musstet ihr in der neuen Bibliothek mithelfen.“ Aus seinem Gesicht wurde ich nicht schlau, doch da ich Angst hatte, dass er sich über uns lustig machen wollte, nickte ich nur höchst unsicher.

„Dieser alte Geier ist echt gemein“, meinte Marvin völlig überraschend. Er sah nicht aus, als würde er uns verspotten wollen. „Vielleicht kann ich euch beim nächsten Mal helfen. Das ist ja auch verdammt ungerecht, dass ihr das machen müsst, nicht?“

„N-nicht nötig“, stotterte ich völlig verblüfft über seine Freundlichkeit. War das ein Trick? Wenn ja, dann verstellte er sich wirklich gut.

„Das ist wirklich nicht nötig“, pflichtete Aron mir räuspernd bei. „Außerdem“, er lächelte leicht, „sind wir eh gestern fertig geworden. Wir mussten ihr nur das eine Wochenende helfen, weißt du?“

„Ach so“, sagte Marvin leise, er sah sogar leicht enttäuscht aus. Was um Himmels Willen fand er so toll daran, in einer Bücherei zu schuften?

Ich verstand auch nicht so recht, weshalb Aron ihn anlog, doch Aron war schon immer ein wenig merkwürdig gewesen, und da er Marvin nicht ausstehen konnte, wunderte es mich eigentlich nicht ganz so sehr.

Marvin, der sich erst einmal mit Arons Antwort zufrieden gab und zu den anderen Jungs ging, bemerkte mein verdattertes Gesicht überhaupt nicht.

„Weshalb hast du ihn eigentlich abgewimmelt?“, wollte ich dann doch wissen. „Es wäre bestimmt schneller gegangen, wären wir zu dritt gewesen.“

„Ja, aber wer hilft schon freiwillig bei sowas mit? Da ist doch was faul!“, verteidigte sich Aron. „Der Kerl ist so faul wie wochenaltes Fallobst. Der stinkt doch drei Kilometer gegen den Wind!“

„Und was ist mit ihm, wenn ich fragen darf?“ Ich verstand einfach nicht, weshalb Aron Marvin so hasste, ich fand den Neuen jedenfalls ganz in Ordnung.

„Weiß ich doch nicht! Aber er kennt uns nicht einmal richtig … würdest du da einfach so helfen wollen?“ Darauf konnte ich nur den Kopf schütteln. Dieser Marvin war schon ein wenig merkwürdig, kein Zweifel. Erst trug er einen … Betäubungspfeil bei sich und dann das hier.

 „Dora, Buch weg!“ Der Unterricht hatte gerade angefangen und ich war noch nicht einmal dazu gekommen, zwei Sätze zu lesen, als Mr Rick mich auch schon entlarvte. Leise stöhnend klappte ich das Buch zu, stopfte es in meinen Schulranzen und gab mir alle Mühe, nicht nach hinten zu blicken, von wo schadenfrohes Gekicher kam.

„Kaut noch irgendjemand Kaugummi oder will eine Zeitschrift in seinen Schulranzen tun?“, fragte der Lehrer ruhig und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. Niemand antwortete ihm, aber Marina (das Mädchen neben mir), ließ hastig ihre Mädchen-Zeitschrift verschwinden.

Nun fing Mr Rick richtig mit dem Unterricht an, er begann damit, dass er irgendwelche uninteressanten Sachen an die Tafel kritzelte, und uns dazu Fragen stellte. Mit der Hand vorm Mund ließ ich einen langgezogenen Gähner hören und schlug mein Biobuch auf. Das war zwar nicht viel spannender, doch es war das einzige Buch, das ich jetzt lesen konnte, ohne sofort mit einer Strafe rechnen zu müssen. Und ohne Lesen hielt ich es einfach nicht aus.

Riiinggg!, tönte es aus den Lautsprechern, keine Sekunde später war die Klasse auf den Beinen und stürmte zur Tür. Auch ich war ziemlich schnell draußen, froh, dieses todlangweilige Gerede nicht mehr erdulden zu müssen.

„Hi, Dora. Kommst du mit mir raus?“

Völlig überrascht fuhr ich herum und blickte direkt in Marvins Gesicht. Wie bitte? Marvin war so anders, als ich es von Jungs gewöhnt war, damit kam ich einfach nicht zurecht …

„He, was guckst du denn so!“ Er lächelte freundlich, nahm mich am Arm und führte mich kurzerhand nach draußen. Verdattert folgte ich ihm.

„Du musstest doch in der Bibliothek aushelfen, oder?“, wollte er wissen, während wir mehr oder in meinem Falle weniger gelassen über den Schulhof schlenderten.

„Ja?“, bestätigte ich so unsicher, dass es eher wie eine Frage klang.

„Was musstet ihr da eigentlich machen? Viel gab’s da doch bestimmt nicht zu tun, oder?“

Ich war mir keineswegs sicher, ob er sich wirklich dafür interessierte, oder ob er das nur vorgab, denn es kam mir doch ein wenig seltsam vor, dass jemand sich für so eine banale Strafe interessierte. Ob er auch etwas verbockt hatte und nun mithelfen musste?

„Nun, wir mussten ein paar alte Bücher einsortieren und Sonntag ein neues Regal mit Büchern auffüllen.“ Ich fasste mich kurz, um ihn nicht zu langweilen.

„Noch mehr Bücher?“, fragte er völlig erstaunt.

„In der Tat!“, bestätigte ich grimmig. „Und es gibt noch viel, viel mehr!“

„Die müsst ihr aber nicht einsortieren, oder?“

Oh oh! Was, wenn er wollte, dass ich mich verplapperte und herauskam, dass Aron gelogen hatte?

„Nein, natürlich nicht. Wir sind ja gestern fertig geworden!“, berichtete ich möglichst überzeugend. Anscheinend war mir nichts anzumerken, denn Marvin fuhr gelassen fort: „Na, da habt ihr aber Glück gehabt! Mrs Barker kann sich dann ja auch freuen, schließlich wird die dann wohl kaum bis Mitternacht bleiben müssen.“

„In der Tat nicht! Wahrscheinlich ist sie nur so lange dort geblieben, um uns zu quälen, normalerweise geht sie bestimmt früher. Das kann ich mir sonst einfach nicht vorstellen“, beklagte ich mich.

„Verdammt fies von ihr“, seufzte Marvin und sah mich mitleidig an.

„Oh ja! Vorgestern musste ich bis halb zwölf schuften! Unmöglich! Und Sonntag fast genauso lang!“

„Und das, wo wir doch heute Schule haben …“

Eine Zeit lang schlenderte Marvin still neben mir her, doch gerade, als er wieder etwas sagen wollte, klingelte es zur nächsten Stunde und wir mussten hineingehen.

Irgendwie kam es mir so vor, als hätte etwas Marina die Laune verdorben. Ihr hübsches blondes Haar hing ihr tief in die Stirn und sie war meiner Meinung nach zu vertieft in ihr Mathebuch, während ich noch so aufgedreht war, dass ich erst gar nicht dazu kam, in meinem zu lesen.

Auch in der nächsten Stunde kam ich nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung, diesmal jedoch aus einem anderen Grund.

Mit der Gleichgültigkeit, die ich so gut wie immer an den Tag legte, ließ ich mich auf meinen Stuhl gleiten und hatte schon halb das nächste Schulbuch aufgeschlagen, als Aron sich zu mir herüberbeugte – er saß nämlich genau eine Reihe vor mir.

„Ach ja, Dora, ich habe über Marvins seltsames Verhalten nachgedacht und bin zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmt“, erklärte mir Aron mit gedämpfter Stimme. Jetzt ging das schon wieder los! Ich hatte ja nichts gegen Aron, … aber konnte er nicht einfach einsehen, dass auch Marvin nett war, eben nur ein wenig anders, als unsere Klasse? Er musste sich eben noch eingewöhnen!

„Ich habe mir da etwas überlegt … Ich weiß, es ist ein wenig weit hergeholt, aber alles passt, und … was du gesehen hast und was in der Zeitung stand … ich glaube, ja, ich finde  alles passt irgendwie genau auf eine Person, näml…“

„Bitte, Herr Lehrer, ich kann nichts verstehen, wenn zwei gewisse Mitschüler vor mir die ganze Zeit quasseln!“, beschwerte Mike sich in diesem Moment. Empört drehte ich mich um und auch Arons Gesicht verfinsterte sich, doch der Lehrer schien den Rabauken beim Wort zu nehmen.

„Aron und Dora, passt jetzt bitte auf!“, ermahnte uns Mr Hollow. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um das fiese Grinsen auf Mikes Gesicht zu erahnen. Und das er und Marvin hämisch kicherten, war kaum zu überhören.

„Hehe, darf ich sie treten?“, kam Mikes leise Stimme von hinten. „Dann kriegt sie immer besonders viel Ärger!“ Jetzt fragte sich wahrscheinlich jeder, der auch nur einen klitzekleinen Sinn für Gerechtigkeit hatte: Warum wird denn Dora bestraft, wenn Mike sie tritt? Die Antwort war ganz simpel: Ich bekam immer den Ärger, egal was Mike anstellte.

„Lass das besser bleiben, du kleines Miststück!“, zischte ich der Nervensäge leise zu.

„Dora!“, schimpfte Mr Hollow. „Sei jetzt endlich still! Wenn ich dich noch einmal so ein Wort benutzen höre, kriegst du eine Strafe, verstanden?“ Grimmig nickte ich, das fröhliche Gekicher hinter mir, das nun noch lauter wurde, ignorierend.

„Ich glaube, sie hat schon genug Ärger, tritt sie erst einmal nicht“, bestimmte Marvin, wobei ihn der Lehrer selbstverständlich nicht hörte. Die letzte Reihe wurde eben immer überhört und übersehen. Zu meinem Erstaunen gehorchte Mike ihm. War das möglich?

„Seit wann lässt du dir denn etwas sagen?“, rutschte es mir heraus, noch ehe ich mir die Hand auf den Mund pressen konnte.

„Dora!“ Wütend hob der Lehrer den Blick und fixierte mich kühl. „Eigentlich wollte ich jetzt Unterricht machen!“

„Na gut, trete sie ruhig, aber nur ein bisschen“, erlaubte Marvin und nun musste selbst Lucas leise lachen. Empört wollte ich mich umdrehen, doch diesmal kam mir Mr Hollow gleich zuvor, indem er so bedrohlich mit den Fingern auf sein Pult klopfte, dass ich mich doch schnell anders besann und gerade sitzen blieb. So ersparte ich mir die Diskussion darüber, weshalb ich mich umdrehen wollte, denn die hatte ich bereits oft genug geführt – und die Reaktion war immer die Gleiche: Keiner wollte meine Klagen hören und keiner nahm mich ernst. Es war hoffnungslos.

Zum Glück trat Mike mich doch nicht, sonst hätte ich wohl die angedrohte Strafe wirklich bekommen. Denn selbst Mike war nicht vorzuwerfen, dass er vollkommen rücksichtslos war, er hatte einfach nur eine seltsame Art, sich zu vergnügen

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