Neuntes Kapitel
Neuntes Kapitel
Keuchend erreichte ich mein Zuhause und stolperte in mein Zimmer, wobei ich mich sogar dabei fast schon wieder verlaufen hätte. Ich musste lesen, dringend, nur noch lesen.
Schon klar, ich hatte mir versprochen, in Zukunft vernünftig zu schlafen, doch gestern Abend hatte mein Blick formlich am Buch festgeklebt, und so war es mir erst gelungen, auf die Uhr zu sehen, als es schon viel zu spät war. Und dann hatte ich schon wieder vergessen, meine Zähne zu putzen …
Leise vor mich hingrummelnd packte ich meinen Schulranzen, immer noch in Erinnerungen an die letzte Nacht vertieft.
Na toll!, dachte ich mir gerade, als ich eine Idee bekam. Tja, wenn der Wecker von nun an auch abends klingeln würde, hätte ich wohl kaum noch eine Chance, zu spät ins Bett zu kommen. Und das hatte ich dringend nötig, ich wollte nicht wissen, wie ich heute mal wieder aussah. Wahrscheinlich so abschreckend, dass sich niemand auch nur traute, mich anzusprechen.
Ich hatte es satt, von Mike geärgert und von allen anderen (abgesehen von Aron) ignoriert zu werden. So hatte ich mir mein Leben eigentlich nicht vorgestellt.
„Schön!“, knurrte ich. „Wenn ich jetzt weiterhin in Selbstmitleid zerfließe, komme ich noch zu spät zur Schule.“ Und mit diesen Worten richtete ich mich auf, stellte den Wecker und verschwand in die Küche, um ein paar Happen hinunterzuschlucken, bevor ich zur Schule ging.
Aron merkte sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ihm konnte ich eben nicht so einfach etwas vormachen, und die Einbrecher, die ich gestern beobachtet hatte, wollten mir, mal abgesehen von meinem Selbstmitleid, einfach nicht aus dem Kopf gehen.
„Na, was ist es diesmal?“, fragte Aron, kaum, dass wir losliefen. „Hast du gestern Abend wieder einmal einen Horrorroman zu viel gelesen?“
„Nein, diesmal habe ich wohl ein paar zu wenig gelesen, bevor ich in die Stadt gegangen bin.“
Darauf runzelte er die Stirn. „Wieso? Ist etwas passiert?“
„Ich … Halt mich jetzt bitte nicht für verrückt! … habe diese Diebe, Einbrecher, was auch immer sie sind, wiedergesehen. Gestern Nacht.“
„Du halluzinierst! Sicher, dass es kein Albtraum war?“ Aron schien das wohl für etwas unwahrscheinlich zu halten und obwohl es mir genauso ging – ich wusste einfach, dass es keine Einbildung gewesen war.
„Sie sind in das Gebäude neben der alten Brauerei eingedrungen. Hast du heute Morgen Zeitung gelesen?“
„Nein. Stand da etwas davon?“ Aron runzelte ärgerlich die Stirn. Meistens las er die Zeitung ja.
„Keine Ahnung, aber das müsste so sein …“
„Ist jetzt auch egal. Weißt du jetzt, wer sie sind?“ Arons Augen leuchteten aufgeregt. „Hast du noch mehr gesehen? Erzähl mir alles!“
„Nunja, ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe diese eine Stimme wiedergehört. Ich glaube, ich weiß jetzt, wem sie gehört, aber …“ Sollte ich es ihm wirklich sagen? Sicher, er würde mir wohl auf Anhieb glauben, doch es war einfach lächerlich!
„Wer?!“, Aron begann schon wieder, vor lauter Aufregung auf und ab zu hüpfen.
„Ich weiß, es klingt komisch, aber wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann …“, begann ich, doch jemand unterbrach mich.
„Hi, ihr beiden!“ Erschrocken wirbelte ich herum und starrte ungläubig auf Marvin, der unauffällig am Straßenrand hockte, und sich verdächtig langsam die Schnürsenkel band. Den musste ich völlig übersehen haben!
„Was guckst du so, als hättest du einen Außerirdischen vor dir?“ Marvin grinste breit. „Du siehst ja aus, als hättest du heute Nacht extrem schlecht geschlafen.“
„Du auch“, wollte ich sagen, aber erstaunlicherweise traf das nicht im geringsten zu.
„Sie liest viel, falls du es vergessen haben solltest“, erklärte Aron spöttisch, doch ein Stoß in die Seite genügte, um ihn daran zu erinnern, freundlich zu sein.
„Ach, ich habe mir ja bloß Sorgen gemacht. An deiner Stelle würde ich das Wochenende nutzen, mal ordentlich auszuschlafen“, riet Marvin mir und richtete sich auf.
„Das Wochenende?“ Aron sah ihn misstrauisch an. „Wieso denn das? Wir haben doch erst Donnerstag!“
„Nun, das Wochenende ist eben die beste Zeit zum Durchschlafen, findest du nicht auch?“
„Irgendwie schon“, pflichtete ich ihm bei. „Mach ich.“ Darauf sah Aron mich schräg von der Seite an und lächelte. „Doch nicht etwa der?“, zischte er mir so leise zu, dass ich es mehr von seinen Lippen ablas, als dass ich es hörte.
„Doch, leider“, wisperte ich zurück.
„Was besprecht ihr denn da so Geheimes?“, wollte Marvin wissen und beugte sich zu mir hinüber. Erschaudernd verkrampfte sich meine Hand zur Faust, als sein Haar an meinem Hals kitzelte.
„Erzähl’s mir auch!“, verlangte er leise, wobei er so tat, als zöge er sein Ohr größer, den Kopf immer noch dicht an meinem.
„Das solltest du lieber nicht hören“, bemerkte Aron mit einem seltsamen Unterton, wobei ich mir hundertprozentig sicher war, leicht rosa anzulaufen. Das hätte er aber auch anders lösen können!
„Soso.“ Nun war Marvin dran, misstrauisch die Augenbrauen hochzuziehen. Das letzte Stück bis zur Schule verbrachten wir schweigend, obwohl jeder von uns aussah, als wolle er gleich eine Frage ausspucken.
Wie viel Marvin wohl von unserem Gespräch mitbekommen hat?, fragte ich mich. Ob er die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte? Verdächtig hatte seine Frage ja schon geklungen …
Langsam neigte sich die erste Stunde ihrem Ende zu, die Pause rückte bedrohlich näher. Blieb nur zu hoffen, dass Marvin mir keine weiteren Fragen stellen würde, sonst würde ich noch in meinem derzeitigen Zustand in Panik ausbrechen. Ich war viel zu angespannt, wusste nicht, was ich glauben sollte. Wenn er es nun doch nicht gewesen war, würde er mich wohl über kurz oder lang für verrückt erklären! Wenn er das nicht eh schon tat, bei allem, was Mike ihm von mir erzählt hatte.
Zu allem Überfluss deuteten die Geräusche hinter mir auch noch darauf hin, dass Marvin hinter mir telefonierte, und dass tat normalerweise niemand im Unterricht, solange er noch ganz bei Verstand war. Wen er wohl anrief? Doch nicht etwa seine verbrecherischen Freunde? Oder vielleicht auch nur seine Mutter, weil er das Pausenbrot vergessen hatte …
Ein durchdringendes Klingeln setzte meinen finsteren Gedanken ein Ende. Langsam fingen meine Hände an zu zittern und nur zögerlich sah ich von meinem Buch auf. Um Himmelswillen, was soll den schon geschehen?, fragte ich mich. Nichts, antwortete ich mir darauf und erhob mich zögerlich.
„Was ist denn, Dora? Ab in die Pause mit dir!“ Unser Lehrer schnappte sich seine Tasche und marschierte auf die Tür zu. Na gut! Das ziehst du jetzt durch!, ermutigte ich mich selbst, da es ja sonst niemanden gab, der das tat. Hoffentlich hatte Marvin doch nicht verstanden, was ich Aron auf dem Schulweg erzähl hatte. Vielleicht war er es ja nicht einmal gewesen. Tja, vielleicht, vielleicht auch nicht …
Langsam fasste ich mich wieder und schritt nun etwas selbstsicherer in die Pausenhalle. Zumindest bis mein Blick auf Marvin traf, der gerade gelassen in meine Richtung schlenderte. Oh nein, jetzt hatte er es auf mich abgesehen! Oder … er ging nur zufällig auf mich zu. Egal, besser, ich verschwand!
Wieder ergriff Panik Besitz von mir, sodass ich wohl ein wenig zu hektisch nach draußen huschte, mich durch die herumstehenden Schüler schlängelte und etwas abseits stehen blieb, nervös nach Luft schnappend. Von Marvin keine Spur, das war ja schon mal etwas Positives. Seufzend ließ ich mich auf einen Stein am Rand des Schulhofes sinken. Wäre jetzt Aron bloß hier … Ich fühlte mich so ungeschützt. Was, wenn Mike mitkam, oder Marvin einen Kumpel angerufen hatte, damit er noch einmal so ein Mittel mitbrachte, wie er am ersten Tag besessen hatte?
Quatsch, Marvin war ja ganz in Ordnung, kein Grund, sich so vor ihm zu fürchten, zumal ich ihn ja sogar fast mochte … was es alles jedoch nur noch schlimmer machte.
Gerade, als ich mich vollkommen beruhigt, mir eingeredet, dass ich in der letzten Nacht unter Halluzinationen gelitten hatte, und dass Marvin eigentlich ein netter Mitschüler war, kam er aus dem Schulgebäude geschlendert. Und diesmal bestand kein Zweifel – er kam direkt auf mich zu.
Erschrocken sprang ich auf die Beine, starrte ihn fassungslos an. Das vergnügte Lächeln, welches seinen Mund umspielte, ließ mich Böses ahnen. Dann, Marvin war keine fünf Schritte mehr entfernt, konnte ich mich endlich aus meiner Starre lösen, wich zurück und stieß mit jemandem zusammen. Doch noch bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, um mich zu entschuldigen, hatte mich derjenige an den Armen gepackt.
Vor Schreck verschluckte ich mich heftig und begann, wie wild zu husten.
„He, übertreib’s mal nicht!“, meinte der Junge hinter mir, als ich mich vor lauter Husten wild schüttelte, und klopfte mir kräftig auf den Rücken.
„Meine Güte, was hat die denn?“, brummte eine andere Schülerin, kümmerte sich jedoch nicht weiter um mich. So ein Mist! Am liebsten hätte ich jetzt irgendetwas gerufen, um sie aufzuhalten, doch ich musste nur noch mehr husten. Und inzwischen grinste Marvin auch noch von einem Ohr zum anderen.
Schließlich beruhigte ich mich wieder und mein Körper erschlaffte im Griff des Fremden. Sanft aber bestimmt zog er mich wieder auf die Beine, obwohl ich mich leicht sträubte. Das Ganze gefiel mir nicht, ganz und gar nicht.
„Du musst nicht so vorsichtig sein, Josh, die hält einiges aus“, behauptete Marvin ruhig. Josh!, durchfuhr es mich. Der Grimasse zufolge, die Marvin schnitt, musste er mein Zusammenzucken bemerkt haben.
„Was ist?“, wollte er wissen.
„Ach … äh, nichts!“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich kannte mal einen Josh, weißt du?“
„Und, war er nett?“, wollte Josh mit einem Hauch von Ironie wissen. In diesem Moment war ich mir sicher, mal wieder leicht rosa anzulaufen.
„He, Josh, sie bekommt Farbe!“, freute sich Marvin und ich war mir nicht sicher, ob ich in diesem Moment lieber im Boden versunken wäre, oder ihm einen Nasenstüber verpasst hätte. Dieses unverschämt hübsche Gesicht hätte bestimmt mal einen vertragen können.
„Hast du nicht behauptet, du hättest ein paar Fragen an sie, die du nicht ohne meine Hilfe stellen könntest?“ Josh redete normal laut, so als ob keine Gefahr bestünde, dass uns irgendjemand hören könnte.
So war das also! Bestimmt hatte Marvin diesen Josh angerufen, weil er doch mehr gehört hatte, als gut für mich. Und jetzt war ich dran.
„Aber nein, aber nein, dass hast du ja völlig falsch verstanden!“, rief Marvin entsetzt aus. Wenn es gespielt war, dann verstellte er sich wirklich gut. „Ich wollte dir eigentlich meine neue Freundin zeigen, und dir ein paar Fragen stellen, weil … sie scheint immer so schlecht zu schlafen und du kennst dich ja mit solchen Sachen aus. Vielleicht weißt du ja, was man dagegen machen kann.“
„Ach so“, meinte Josh. „Dann lass dich mal ansehen.“
Was für ein Spiel spielen sie mit mir?, wunderte ich mich, drehte mich jedoch gehorsam um und sah den großen Jungen möglichst unschuldig an. Das war also Josh. Er überragte mich um einen ganzen Kopf (ich schätzte ihn auf gerade volljährig) und seine Haare waren dunkelbraun, wie die von Marvin, nur viel verwuschelter. Auch ansonsten ähnelte er ihm ein wenig. Sie könnten sogar Brüder sein. Und wenn mich nicht alles täuschte war er niemand anderes als der Kerl, der sich an die Bibliothekarin rangeschleimt hatte.
„Hm, sieht übel aus.“ Josh ging leicht in die Knie und legte mir eine Hand auf die Stirn. „Ach du meine Güte, die ist ja eiskalt!“ Er seufzte. „Du schläfst wenig, richtig?“
„In letzter Zeit schon …“, gestand ich vorsichtig, da ich mir nicht sicher war, was er wirklich feststellen konnte und was er nur erriet.
„Was machst du denn immer?“ Josh klang so fürsorglich, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wie er, ein gemeingefährlicher Verbrecher, in Häuser einstieg und Kostbarkeiten entwendete. Außerdem wirkte er nun wirklich nicht wir ein Verbrecher – keine Narben oder dreckige Fingernägel, auch die gebrochene Nase fehlte. So hatte ich mir Diebe wirklich nicht vorgestellt.
„Er hat dich was gefragt. Bist du noch wach, Dora?“
Aus meinen Gedanken gerissen, drehte ich mich leicht verdattert um und blickte direkt in Marvins besorgtes Gesicht.
„Oh, ich lese“, antwortete ich hastig, als mir die Frage wieder einfiel.
„Immer?“
„Ja, wieso?“
„Ach, und Marvin dachte, dich gestern Nacht gesehen zu haben, als er vom Einkaufen nach Hause lief.“ Josh lächelte hintergründig.
„Was?“, entfuhr es mir. Unmöglich! Keiner von ihnen konnte mich gesehen haben, Marvin konnte nur vermuten, dass ich da gewesen war, und das auch nur, wenn er viel von unserem Gespräch mitbekommen hatte.
„Oh, dann muss ich mich wohl getäuscht haben“, seufzte Marvin, konnte sich jedoch ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. Oh, oh! Was, wenn mein Gesichtsausdruck mich verraten hatte?
„In Zukunft schläfst du besser, anstatt zu lesen“, riet mir Josh leise, doch in seiner Stimme schwang eine Drohung mit, die mich frösteln ließ. Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf, sodass ich leicht erschrocken einen Schritt zurückwich und verließ mit großen, jedoch trotzdem ruhig wirkenden Schritten das Schulgelände.
„Komm“, sagte Marvin. „Lass uns reingehen, es klingelt eh gleich.“ Widerstandslos folgte ich ihm.
Das Erlebnis dieser Pause hatte meine Angst selbstverständlich nicht gerade gesenkt, und so fraß ich vor Nervosität beinahe meine Fingernägel ab, wenn ich auch nur an die nächste Pause dachte. Besser, ich würde mich diesmal an Arons Seite halten, auch wenn der wohl wie immer mit seinen Kumpels Fußball spielen würde.
Erst gegen Ende dieser Stunde gelang es mir, mich in das Schulbuch zu vertiefen, worauf ich mich sofort entspannte.
Mike, dem das nicht entging, grummelte bloß etwas von wegen „Jetzt liest sie schon wieder!“, und der Lehrer – diesmal war Mike wirklich nicht zu überhören – glaubte natürlich, ich würde Selbstgespräche führen, Mike zu verdächtigen war ja gegen die Spielregeln. Augenrollend trommelte ich mit den Fingern auf das Buch und bemühte mich nicht einmal, dieses Missverständnis richtigzustellen. Auch wenn sich die letzte Reihe vor Lachen nicht mehr einkriegte.
„Lass sie ihren Spaß haben, die sind doch alle sowieso nicht mehr ganz dicht!“, zischte Aron mir mitfühlend zu und warf ein Papierkügelchen nach Marvin, der ihm lachend auswich, auf Mike fiel und somit dafür sorgte, dass sich die gesamte letzte Reihe auf die Nase legte. Damit war die Stunde sowieso rettungslos verloren, weshalb wir früher in die Pause durften. Und obwohl das eigentlich nicht meine Art war, ließ ich mich von der allgemeinen Freude anstecken und folgte Aron hinaus auf den Pausenhof, wo er dann mit seinen Freunden begann, einen Ball hin und her zu kicken. Ich blieb immer in seiner Nähe.
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