Fünfzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Heute wollten nur noch wenige etwas von dem Überfall wissen, nur ein paar wenige fragten, ob man die Täter denn schon gefasst habe, und erschauderten bei dem Gedanken, dass diese fürchterlichen Kerle hier irgendwo frei herumliefen.

Doch Mike hatte inzwischen schon wieder anderes im Kopf, er schmiedete Pläne, wie er den Sportlehrer noch einmal rumkriegen konnte, damit er erneut tat, was er wollte. Marvin weigerte sich strickt, wieder als Neuer, der ja so gerne ein Spiel spielen wollte, herzuhalten, und so waren die beiden erst einmal damit beschäftigt, sich zu zanken und Mike vergaß völlig, mich zu nerven. Zum Glück, denn ich fühlte mich ziemlich ausgehungert und las das ganze Schulbuch auf einmal durch.

Frisch gestärkt schlenderte ich mit Aron zur Sporthalle, dicht hinter Marvin und Mike, die sich inzwischen geeinigt hatten und wieder wie beste Freunde vor uns herschlenderten.

„Hast du dich schon auf … deinen Geburtstag vorbereitet?“, fragte Aron mich und bedeutete mir, dass wir uns etwas zurückfallen lassen sollten.

„Ja, ich lese die Geschichte jetzt schon zum siebten Mal. Es ist meine Lieblingsgeschichte.“

„Du warst aber noch nicht“, er senkte die Stimme, „im Buch, oder?“

„Nein, nein, das habe ich gut versteckt. Selbst wenn Marvin persönlich mein ganzes Zimmer durchwühlen würde, er hätte keine Chance, es zu finden.“

„Was ist mit mir?“, fragte Marvin, der jetzt auch stehen geblieben war.

„Hm, hat jemand deinen Namen gesagt?“, fragte Aron unschuldig.

„Naja, ich habe bald Geburtstag,“, erklärte ich ihm, Arons Kommentar völlig übergehend. „Da habe ich mir nur schon mal überlegt, wen ich alles einladen könnte

„Und da hast du mich in Erwägung gezogen?“ Marvin klang äußerst misstrauisch.

„Natürlich nur auf der Feier danach, nicht direkt an meinem Geburtstag“, sagte ich, und ich meinte es Ernst. Himmelherrgott, wenn Marvin an meinem Geburtstag auftauchte und das Buch sehen würde, würde es sich wohl nicht mehr lange in meinem Besitz befinden. Ich musste unwillkürlich grinsen.

„Ich habe das Gefühl, du meinst es nicht ernst.“ Er musterte mich prüfend.

„Doch, ganz ehrlich, ich lade dich zu meiner Geburtstagsfeier ein. Das verspreche ich.“

„Bäh, wer will schon auf deine Geburtstagsfeier kommen?“, fragte Mike angewidert und zog Marvin weg. In diesem Moment hätte ich ihm am liebsten einen ordentlichen Tritt verpasst, es kostete mich alle Überwindungskraft, mich zu beherrschen.

„Hoffentlich spielen wir Volleyball, dann knacke ich ihm seine hohle Nuss!“, fauchte ich erbost und verschwand mit wehenden Haaren in der Umkleidekabine.

Wir spielten nicht Volleyball, aber den Ball, den ich in die Hand gedrückt bekam, reichte allemal, um Mikes Schädel zu spalten. Und mein Partner war – wie praktisch – Mike. Alle Schüler waren in zwei Reihen untergebracht, die sich gegenüberstanden und wir sollten dem Partner, der uns dabei direkt gegenüberstand, den Ball zuwerfen. Eben eine Wurfübung.

„Los geht’s! Aber werft nicht so brutal, denkt dran: Euer Gegenüber ist euer Partner, nicht euer Gegner!“, brüllte unser Sportlehrer und blies in die Trillerpfeife. Im nächsten Moment pfiffen die Bälle durch die Halle, nicht viele trafen überhaupt in der Nähe des … Partners auf. Die einen hatten so weit geworfen, wie sie konnten, was in manchen Fällen hieß, dass der Ball von der gegenüberliegenden Wand wieder zurückschoss, manche hatten auch einfach zu kurz geworfen. In den meisten Fällen jedoch war einfach viel zu schräg geworfen worden, ich hingegen hatte den Ball wohl ein wenig zu fest in Mikes Richtung geworfen, denn der hüpfte nun fluchend im Kreis herum, seinen linken Fuß in beiden Händen und schwor mir ewige Rache, verwünschte mich auf tausend verschiedene Arten und schnappte sich dann den Ball. Besorgt ging ich leicht in die Knie, bereit, ihm jeden Moment ausweichen zu können.

„Hey, was habe ich gesagt? Jetzt aber mal ordentlich werfen!“, rief der Lehrer und wieder ertönte ein Pfiff. Bälle flogen auf die Partner zu, diesmal schon viel geordneter, doch ich hatte nur Augen für ein besonders fest geschmettertes Exemplar, das genau auf mich zuhielt. Blitzschnell warf ich mich zur Seite, doch Mikes Ball war schneller. Er erwischte mich so hart an der Hüfte, dass es mich nicht gewundert hätte, hätte er mich nach hinten umgeworfen, doch anstatt dessen vollführte ich eine halbe Drehung und wurde nur noch heftiger zur Seite geschleudert. Laut fluchend versuchte ich im letzten Moment der Gestalt neben mir auszuweichen, doch zu spät: Ich knallte gegen Aron und riss ihn mit nach unten.

„Oh, Scheiße!“, fluchte der nur noch, dann knallten wir beide auf den harten Hallenboden. Mike lachte schadenfroh. Ein paar andere kicherten verhalten. Nur einer starrte uns an, als hätte ihn eine Giftschlange gebissen. Doch als ich den Blick hob und ihn ansah, blickte Marvin schnell weg, als wäre nichts geschehen. Was hat er bloß?, fragte ich mich und schnappte mir den Ball, der mich gerade eben noch von den Füßen gerissen hatte. Am liebsten hätte ich Mike eine ordentliche Abreibung verpasst, doch ich kam zu dem Entschluss, dass es keinen Sinn hatte, sich die ganze Sportstunde lang mit einer Nervensäge zu prügeln, also warf ich den Ball ganz normal hinüber.

Verwundert sah Mike mich an, dann verzog er leicht das Gesicht, was wohl ein Lächeln sein sollte, und warf den Ball betont sanft zu mir rüber. Während der ganzen Werfübung hatte ich das Gefühl, dass Marvin zu mir herübersah, doch nun war sein Blick wieder normal. Oder bildete ich mir die Blicke nur ein? Wahrscheinlich wünschte ich mir nur, dass er mich beachtete … Moment mal, wünschen? Verwirrt sah ich zu ihm herüber und unsere Blicke streiften sich für einen Moment, dann musste ich wieder wegsehen, weil einer von Mikes Bällen auf mich zusegelte. Nach diesem Augenblick war ich nicht mehr bei der Sache und meine Bälle verfehlten öfter das Ziel, als dass sie noch ihren Weg zu Mike fanden – einmal traf ich sogar ausversehen Marvin am Kopf, der mir erst gar nicht abnehmen wollte, dass ich das nicht mit Absicht gemacht hatte – schließlich stand er am anderen Ende der Halle – doch dann gab er mir grinsend den Ball zurück und Mike schnitt eine Grimasse, als stimme etwas damit nicht.

„So, genug geworfen!“, brüllte der Lehrer endlich über den Lärm in der Halle hinweg. Schlagartig wurde es still, anscheinend wartete jeder hier auf ein „Ihr könnt jetzt gehen“, aber auch wenn es uns so vorkam: Die Sportstunde war noch längst nicht zu Ende.

„Wir spielen jetzt ein Spiel!“, verkündete der Sportlehrer, wartete, bis die Jubelrufe abbrachen, und fuhr fort: „Ich markiere mit den Hütchen hier“, er fuchtelte mit Verkehrshütchen in der Luft herum, „das Spielfeld, und ihr schafft alle großen Sportgeräte, die ihr finden könnt hinein. Wir spielen Hürdenfangen!“ Der erwartete Jubel blieb aus. In der Totenstille starrten vierundzwanzig Kinder ihren Lehrer an.

„Hey, kommt schon, Jungs und Mädels!“, beschwerte sich der Sportlehrer. „Es kann nicht jedes Mal Fußball geben!“ Langsam kam Bewegung in die Kinder und murrend schleppten sie die Sportgeräte ins Feld.

„Ich glaube, er will uns heimlich im Gewichtheben trainieren!“, fluchte Marvin, als er leicht schwankend mit Mike einen Schwebebalken schleppte.

„Wäre ihm durchaus zuzutrauen“, stimmte ich ihm so leise zu, dass er es nicht hören konnte, und warf dabei einen Blick auf Aron, der drei Kisten gestapelt hatte, die er nun mit aller Mühe aufs Spielfeld trug. Wie er dahinter noch etwas sah, war mir schleierhaft. Seufzend wandte ich mich ab und machte mich ebenfalls an die Arbeit. Nur dass ich mich damit zufriedengab, bloß einen Bock vor mir herzuschieben.

Kurz darauf schlängelte ich mich zwischen den Sportgeräten (die es offensichtlich darauf abgesehen hatten, mir so viele blaue Flecken wie nur möglich zuzufügen) durch, einen Fänger dicht auf den Fersen. Meine Chance, zu entkommen, stand gleich null, aber ehrlich gesagt war mir das auch egal. Der einzige Grund, weshalb ich mich überhaupt anstrengte, war folgender: Unser Sportlehrer hatte eine Vorliebe dafür, sich die Faulen herauszupicken, und während die anderen noch weiterspielten, durften die dann Runde um Runde um das Feld joggen. Das machte natürlich bei weitem weniger Spaß, als hier brav mitzuspielen. Vor allem, wenn man so unsportlich war wie ich.

Jemand berührte mich an der Schulter und ließ ein triumphierendes „Hab dich!“ ertönen. Schade, schade, dachte ich mir mit einem ironischen Grinsen und schlenderte auf die Bank. Hier saß noch niemand, offensichtlich war ich die Erste, die gefangen worden war. Aber das war ja nichts Neues.

Als ich überglücklich zu den Umkleidekabinen schlenderte – ich hasste Sport und war so immer ziemlich glücklich, wenn ich es hinter mir hatte – schloss plötzlich Marvin von hinten zu mir auf.

„Ich hätte nie gedacht, dass du so unsportlich bist“, sagte er zu mir mit einem Tonfall, der so gar nicht zu der gemeinen Bemerkung passen wollte. „Am Anfang habe ich sogar glatt das Gegenteil gedacht.“

„Oh, schön“, meinte ich trocken. „Ist das wichtig?“ Darauf grinste Marvin und hielt mich am Ärmel fest, bevor ich in die Umkleidekabine schlüpfen konnte.

„Du musst so viel lesen, dass du kaum noch dazu kommst, dich zu bewegen, weil du ein Bücherwurm bist, oder?“, hakte er nach, ohne auf mein Kommentar einzugehen.

„Worauf willst du hinaus?“, fragte ich misstrauisch und blickte ihm ins Gesicht, als würde dort die Antwort stehen. Marvin lächelte, offensichtlich hatte ich ihn durchschaut.

„Ich wette, es gefällt dir sehr gut in den anderen Welten.“

Erschrocken zuckte ich zusammen. Woher wusste Marvin, dass ich das Buch doch noch hatte? Oder meinte er das bloß auf ganz normale Bücher bezogen?

Marvin schien der erschrockenen Ausdruck in meinen Zügen nicht entgangen zu sein, denn er lächelte zufrieden, als habe er nun bekommen, was er haben wollte.

„Ich, äh …“, begann ich, hatte jedoch keinen blassen Schimmer, was ich als Ausrede benutzen sollte. Marvin würde mir eh nicht glauben. Also befreite ich meinen Ärmel aus seinem Griff und huschte eilig zu den anderen Mädchen in die Umkleide. Für einen kurzen Moment hatte es den Anschein, als wolle Marvin mich noch einmal festhalten, doch dann ließ er mich gehen und verschwand ebenfalls.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top