Erstes Kapitel
Erstes Kapitel
Früher, lange bevor ich geboren wurde, hatten in dieser Welt auch andere Geschöpfe gelebt. Geschöpfe, die mehr oder weniger freiwillig durch die Bücher, die Weltentore, zu uns gekommen waren. Manchmal hatten wir auch in ihren Welten gelebt. Aber diese anderen Welten waren Geschichten, alle möglichen Geschichten gewesen, niedergeschrieben in einem dieser sieben unscheinbaren Bücher, die die Niederschriften zum Leben erwachen ließen.
Trotzdem war es gefährlich in andere Geschichten zu schlüpfen, nicht nur für den Reisenden zwischen den Welten, sondern auch für die Geschichte selbst. Man durfte das Erzählte nicht beeinflussen – schließlich ging es einfach nicht, wenn einer dieser skrupellosen Banditen einfach in eine Geschichte schlüpfte und dem kleinen Frodo den Ring entwendete, den dieser später noch einmal dringend brauchen würde! Wenn so drastisch in das Geschehen der Geschichte eingegriffen wurde, hatte sie keinen Bestand mehr – löste sich auf, mitsamt allen Lebewesen, die dort jemals gelebt hatten, oder leben würden.
Lange Zeit unternahm man nichts gegen die Zerstörung, aber als auch unsere Welt drohte, dem Chaos anheimzufallen, war ziemlich schnell ein Entschluss gefasst: Alle sieben Bücher sollten verbrannt, und so die anderen Welten für immer verschlossen werden. Jetzt war für viele Wesen die letzte Chance, in ihre Welten zurückzukehren, und die vielen Geschöpfe, die zuvor noch nebenan gewohnt hatten, verschwanden nun, wahrscheinlich für immer. Wolpertrome kehrten in ihre Welt zurück, Gnome, Fleder und Siebenfüßler verschwanden – zur allgemeinen Erleichterung – im Schattenland, und auch die Bücherwürmer gingen, wie viele tausend andere Geschöpfe, durch die Bücher zurück.
Mein Opa hatte mir tausendmal davon erzählt. Einerseits klang es wie ein Märchen, andererseits wusste ich, dass es wahr sein musste, schließlich hatte uns damals meine Oma verlassen.
„Sie war ein Bücherwurm. Musste immer ganz viel Lesen, um sich zu ernähren. Dort, wo sie jetzt ist, geht es ihr bestimmt viel besser“, pflegte er dann meist fortzufahren. „Gottseidank war deine Mutter keiner, ich hätte es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren. Aber du, Dora, du siehst genau so aus wie deine Oma. Echt, die abstehenden Ohren musst du von ihr haben.“ Na danke. Welch ein Kompliment!
Ich wurde wach, weil mich ein heftiger Nieser schüttelte. Verflixt, ich war wohl über dem staubigen, alten Buch eingeschlafen! Eine Drehung zur Seite bestätigte meine Vermutung. Leise fluchend zog ich das Exemplar unter meinem Nacken hervor – und erschrak fürchterlich, als ich die zerknickte Seiten sah. Oh nein, wie hatte das passieren können? Ich hatte ein Buch zerknickt! Panisch strich ich über die Seiten und begann, Knick für Knick wieder ordentlich glatt zu streichen.
„Du hast ein Buch zerknickt? Wie dramatisch!“ Aron lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. „Hör mal, Dora, du bist viel zu pingelig mit Büchern. Sie dich doch an, du hast bestimmt die halbe Nacht damit zugebracht, die Knicke wieder rauszubekommen, oder?“
Seufzend fragte ich mich, ob meine dunkelblauen Ringe unter den Augen wirklich so schrecklich aussahen. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass ich jetzt eh nichts daran ändern konnte, ließ mein Buch in die Schultasche gleiten und folgte Aron aus dem Haus.
Er war mein Nachbar – seit dem Kindergarten waren wir beste Freunde. Und abgesehen davon, dass er sich oft so viele Sorgen um mich machte, dass es fast schon wieder nervig wurde, war er der beste Kumpel, den ich mir vorstellen konnte.
Als wir, durchnässt vom Regen, der sanft aber beständig auf uns geprasselt war, ins Schulgebäude hasteten, schloss unser Lehrer gerade die Klassenzimmertür auf, kaum zu sehen zwischen all den Schülern. Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, dass sich die ganze Klasse interessiert um ihn scharte, etwas zu interessiert. Schließlich hing selbst unsere Klasse nicht so an einem Biolehrer, selbst wenn er gleichzeitig der Klassenlehrer war.
„Meine Güte, Mr Rick ist heute aber pünktlich!“, bemerkte Aron mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Irgendetwas ist da los!“, bestätigte ich und eilte neugierig los, doch da hatte Mr Rick die Tür schon aufgeschlossen, und war in der Klasse verschwunden. Eifrig folgten ihm die Schüler, selbst die Morgenmuffel bewegten sich schneller als sonst.
„Los, hinterher!“, zischte Aron. „Besser, wir kommen noch mit den anderen rein!“ Da hatte er recht. Ich war noch nie zu spät gekommen und hatte es auch nicht vor. Also hasteten wir los und mischten uns unauffällig unter die letzten Kinder, die das Klassenzimmer betraten.
Und dann sah ich, was, oder besser gesagt, wer die ganze Aufregung verursacht hatte. Der Junge stand, den Blick unruhig über die vielen Kinder streifend, neben dem Lehrer und strich sich ständig nervös den Pony nach links, wodurch dieser relativ schräg in die Stirn fiel.
„Wusstest du, dass wir einen Neuen bekommen?“, flüsterte Aron, während wir uns zu unseren Plätzen durchschlängelten.
„Nö, aber vielleicht ist er ja ganz nett“, meinte ich und ließ mich auf meinen Platz in der zweitletzten Reihe fallen. Aron, dem meine Aussage zu missfallen schien, glitt auf den Stuhl eine Reihe vor mir.
„Nun, mir kommt er etwas arrogant vor“, stellte er grimmig fest, während er sein Bioheft samt Buch auf dem Tisch platzierte.
„Wieso? Nur weil er gut aussieht?“, konterte in dem Moment Marina, ein hübsches Mädchen, das direkt neben mir saß, jedoch nicht wirklich zu meinen Freundinnen zählte, was wohl eher an mir lag.
„Pah!“, knurrte Aron, ließ noch etwas Unartikuliertes verlauten, was verdächtig nach „Mädchen!“ klang, und wandte sich zum Lehrer.
„Und der ist dein Freund?“, fragte Marina spielerisch und grinste mich an.
„Ach, er kriegt sich schon wieder ein.“ Ich zuckte mit den Schultern und schlug mein Biobuch auf, um einen Text über die Knochen von Säugetieren zu lesen – nicht, dass ich das sonderlich interessant fände – kam jedoch nicht weit, weil in diesem Moment der Lehrer um Ruhe bat. Es war zwar nicht so, als ob das irgendwie nötig gewesen wäre, schließlich waren wir schon die ganze Zeit über so gut wie ruhig. Nunja, wir gehörten eben zu den artigen Schülern … ähm, zumindest die meisten von uns.
„Das“, Mr Rick deutete auf den Jungen neben sich, „ist Marvin, euer neuer Mitschüler. Seid freundlich zu ihm.“ Und dann, nach einer kurzen Pause: „Setz dich doch, Marvin.“
„Wo denn?“, fragte Marvin leise und strich sich die Haare aus Versehen nach rechts statt nach links, wodurch seine Frisur furchtbar verwuschelt aussah.
Ein Mädchen zwei Reihen vor mir seufzte halb verzückt auf, Aron konnte vor Grauen nicht hinsehen, und ich, mit den Gedanken immer noch bei Knochen, fragte mich, ob ich etwas verpasst hatte.
„Da hinten ist noch Platz frei“, schlug Mr Rick nach kurzem Zögern vor. Für einen verwirrenden Moment hatte ich das Gefühl, dass er auf mich zeigte, doch dann wurde mir bewusst, dass er in die letzte Reihe deutete.
„Hey, cool!“, hörte ich Lucas hinter mir raunen. Das war der harmlosere der beiden Jungs hinter mir.
„Mann, ist das hier der einzig freie Platz, oder glaubt Mr Rick tatsächlich, dass wir einen guten Einfluss auf ihn haben werden?“, raunte Mike so laut, dass ihn die ganze Klasse hören konnte. Na toll!, dachte ich mir. Wahrscheinlich war es an der Zeit, mir Sorgen machen.
Marvin schlenderte nun etwas ruhiger an den Sitzreihen entlang, den Blick aufmerksam auf seine neuen Sitznachbarn geheftet.
„Beginnen wir also mit dem Unterricht!“, ließ Mr Rick verlauten, kaum, dass Marvin sich gesetzt hatte. Aber ich zumindest konnte mich einfach nicht auf das konzentrieren, was er sagte, denn erstens zappelte Marina neben mir auf dem Stuhl herum, und zweitens war das, was ich hinter mir hörte, mehr als nur beunruhigend.
„He, Marvin, soll ich dir zeigen, was wirklich Spaß macht?“, fragte Mike leise, und ich konnte mir schon das Grinsen auf seinem Gesicht vorstellen. Automatisch richteten sich die Härchen auf meinen Armen auf und ich versuchte vergeblich, mich erneut in mein Biobuch zu vertiefen.
„Was denn?“ Marvins Stimme drang gedämpft an mein Ohr, bei ihrem Klang stellten sich jedoch keine Härchen auf.
„Ich zeig’s dir!“ Ich konnte nur allzugut hören, wie Mike in seinem Mäppchen wühlte.
„Mike, muss das sein? Dora scheint ziemlich müde und fertig zu sein“, versuchte Lucas ihn leise abzuhalten.
„Ach was!“, entgegnete Mike. „So sieht die immer aus.“ Nun schien er gefunden zu haben, was er suchte – und fast instinktiv rückte ich ein Stückchen weiter nach vorne. Das Knarren eines Tisches hinter mir warnte mich zu spät, denn im nächsten Moment bohrte mir jemand einen Stift in den Rücken. Natürlich mit der spitzen Seite. Fluchend schlug ich nach dem Ding und fiel dabei fast vom Stuhl, weil ich mich zu weit umgedreht hatte.
„Dora, setzt du dich bitte normal hin, und hörst mir jetzt endlich zu?“ Mr Rick blickte mich mit verschränkten Armen an. Immer gab er mir die Schuld! Konnte er nicht sehen, was Mike ständig trieb?
„Aber Mike …“, begann ich, doch er winkte nur ab.
„Pass jetzt auf, ich will weitermachen.“ Drauf vernahm ich hinter mir ein leises Kichern. „Ist das nicht toll?“, wisperte Mike begeistert, verstummte jedoch, als Mr Rick einen scharfen Blick über die Klasse streifen ließ, um herauszufinden, wer gesprochen hatte. Stöhnend vergrub ich das Gesicht in den Händen.
Zwei Minuten war es hinten mucksmäuschenstill, dann hielt es Mike wahrscheinlich nicht mehr aus und quasselte weiter.
„Macht richtig Spaß, was? Manchmal mache ich das auch mit dem Lineal, damit kann man noch bessere Resultate erzielen …“ Ärgerlich knurrte ich so leise, dass er es nicht hören konnte, und umklammerte mein Buch fester.
„Wenn du sowas magst … ich glaube, ich hab da was, das wird dir gefallen.“ Diesmal hatte Marvin gesprochen, und ich fragte mich verzweifelt, was wohl so einer Nervensäge wie Mike gefallen mochte. Bestimmt nichts Gutes für mich.
„Was … was ist das? Meine Güte, woher hast du das? Das ist einfach cool! Krieg ich das mal kurz?“ Mike klang richtig begeistert und es fiel ihm eindeutig schwer, leise zu bleiben.
„Hm, ja, aber benutze es ja nicht!“, zischte Marvin leicht beunruhigt.
„Oh ja, richtig spitz …“, meinte Lucas besorgt. Oh, oh! Grauenerfüllt riss ich die Augen auf. Hoffentlich würde der Lehrer schnell spitzkriegen, welche mörderischen Waffen dort hinten herumgingen! Ich jedenfalls traute mich nicht, mich umzudrehen, das würde Mike nur auf noch dümmere Ideen bringen.
„Nein, tu das nicht …“, begann in diesem Moment Marvin entsetzt, und bevor ich mir auch nur ausmalen konnte, was dahinten vor sich ging, bohrte sich etwas dünnes, spitzes durch meine Kleidung und in meine Haut. Eine Nadel, dachte ich im ersten Moment, doch dann begann meine Umgebung zu verschwimmen. Ich spürte, wie Marvin sich vorbeugte, und das Ding aus meinem Rücken zog. Ich stöhnte leise auf und die ganze Klasse samt Lehrer drehte sich zu mir um.
„Ich glaube, ihr geht es nicht so gut. Ich … ich bringe sie zur Krankenschwester!“, beeilte sich Marvin zu sagen, seine Stimme drang nur gedämpft an mein Ohr. Sie klang irgendwie … ich wusste es nicht, ich konnte überhaupt nicht mehr klar denken, und langsam sackte ich auf meinem Stuhl zusammen. In diesem Moment strömten viele Stimmen wie ein Rauschen auf mich ein, wurden immer leiser, jemand packte mich am Arm, zog mich hoch … und dann versank ich endgültig in der Dunkelheit.
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