Einundzwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen musste ich noch einmal mit Marvin in die Schule, doch zum Glück hatten mich alle bereits wieder vergessen und da ich nicht mehr die Kappe sondern eine moderne Sommermütze trug – Dennis hatte sie mir mitgebracht – fiel ich auch nicht mehr so auf.

„Die steht dir auch nicht“, bemerkte Mike nur am Rande und ließ mich dann wieder für’s Erste in Ruhe. Dafür war es heute der mangelnde Lesestoff, der mich wahnsinnig machte. Diese verfluchte Doppelseite hatte ich auch gestern schon gelesen und ich war mir sicher, dass ich die zweite Stunde Deutsch nicht aushalten wurde. Es war die reinste Qual! Also biss ich die Zähne aufeinander und stapfte gleich in der ersten Pause auf Marvin zu, obwohl mir nur allzu klar war, dass alle uns sehen konnten, was mir äußerst peinlich war.

„Was ist?“, wollte er leicht verunsichert wissen. Mike drehte sich milde interessiert zu uns um.

„Ich … habe mein Buch vergessen, und da wollte ich fragen, ob ich deins kriege, weil … Es ist einfach so furchtbar langweilig, immer nur dieselben zwei Seiten zu lesen!“

„Hm, ja, verstehe. Aber ich kann nicht, Mike hat sein Zeug nämlich auch vergessen.“

Grimmig starrte Mike zu mir herüber, als warte er nur auf ein gemeines Kommentar von mir. Doch ich seufzte nur resigniert und wollte schon zu meinem Platz zurückgehen, als Marvin mich am Ärmel zurückhielt.

„Warte mal. Warum liest du nicht in deinem Heft?“

„Das habe ich zufällig auch vergessen.“

„Sie schreibt doch sowieso nicht richtig mit“, sagte Mike fröhlich. „Sie bewegt immer nur den Stift, während sie weiterliest. Einmal hat der Lehrer sie zwar dabei erwischt, weil sie vergessen hatte, das Heft aufzuschlagen, aber ansonsten hat es eigentlich immer geklappt.“

„Du tust so, als würdest du mitschreiben?“, fragte Marvin fassungslos.

„Nicht immer, aber Mal ganz unbescheiden: Eigentlich bin ich sogar schon richtig gut darin.“

„Soso“, meinte Mike, als glaube er nicht so recht daran.

„Na gut, dann gebe ich dir meins“, versprach Marvin immer noch etwas verdutzt, schlenderte zu seinem Platz zurück und reichte mir sein Deutschheft. Noch nie hatte es mir so viel Spaß gemacht, Unterrichtsstoff zu lesen. Marvin hatte alles auf seine Art aufgeschrieben, und er konnte das so gut, dass es kein Wunder war, dass ich am Ende der Stunde sein Heft ganze fünf Mal durchgelesen hatte. Ich hatte nicht gewusst, dass er auf den Heftrand zeichnete.

„Tschüss, ihr zwei“, verabschiedete sich Dennis und hievte die letzte Kiste in den Kofferraum. „Ihr wart eine echt gute Gesellschaft.“ Er winkte noch einmal, dann ließ er sich auf dem Fahrersitz nieder und steckte den Schlüssel ins Schloss.

„Darf ich den Kleinen noch mal knuddeln?“, fragte Josh mich grinsend, wartete jedoch nicht auf meine Zustimmung und ich hatte das starke Gefühl, er hätte Aron nur allzugerne mitgenommen.

„Meine Güte, du kannst dich echt glücklich schätzen, so einen tollen Freund zu haben“, seufzte Josh und ließ sich neben Marvin im Auto nieder. „Ich werde dich vermissen, Aron.“

„Das ist verdammt peinlich“, grummelte Aron und sah verlegen zu Boden.

„Und du kannst dich echt glücklich schätzen, so einen tollen Bruder zu haben“, entgegnete ich, ungeachtet der Tatsache, dass nun zwei Jungs rot anliefen. Plötzlich beugte sich Josh noch einmal zum Fenster hinaus und raunte mir zu: „Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass …“

„Schnauze, Josh, du elende Plaudertasche!“ Fluchend zog Marvin ihn in den Wagen zurück. „Ach ja, war nett, dich kennengelernt zu haben, ich werde dich vermissen. Schade, dass wir uns nicht wiedersehen. Das gilt auch für dich, Aron.“

„Marvin! Das ist eure letzte Gel- au!“, protestierte Josh, wurde jedoch wieder von Marvin am Ausreden gehindert. Dennis lachte nur leise, hob noch einmal die Hand zum Abschied und fuhr los. Beinahe hätte ich nicht gemerkt, dass noch ein Zettelchen aus dem Auto flog und trudelnd zu Boden sank. Fluchend hastete ich los und schnappte mir das Papier, bevor es im Gebüsch verschwinden konnte. Als ich noch einmal aufsah, bemerkte ich, wie Marvin und Josh traurig lächelnd zurücksahen, dann bog das Auto um eine Kurve und die beiden verschwanden. Vielleicht für immer, fügte ich deprimiert hinzu. Vielleicht konnte ich wirklich nichts an meinem Schicksal ändern. Vielleicht auch doch.

Als wir in der Geschichte waren, hatte ich schließlich nur allzu gut gemerkt, wie man aus kleinen Ungenauigkeiten in der Geschichte seine eigene daraus machen konnte.

Zu spät, dachte ich, während ich das Papier-Etwas in meiner Hand betrachtete.

„Was ist das?“, fragte Aron, der inzwischen neben mich getreten war, und musterte neugierig das kleine Ding, das in meiner Hand lag.

„Keine Ahnung … sieht aus, wie ein Papierflieger.“

„Kein Flieger!“, stellte Aron fest, tief über meine Hand gebeugt. „Das ist ein Papierschmetterling. Wie sie den wohl so klein hingekriegt haben?“

„Wir können sie jedenfalls nicht mehr fragen. Sie sind weg, für immer.“ Niedergeschlagen musterte ich den Schmetterling – er war wirklich wunderschön. Ich würde ihn aufbewahren, soviel stand fest.

„Rede doch keinen Unsinn!“, sagte Aron plötzlich und lächelte mich aufmunternd an. „Natürlich sehen wir sie wieder!“

„Ach ja?“ Es sollte ironisch klingen, doch meine Stimme versagte. Sowas erzählte man kleinen Kindern, wie die Geschichte vom Weihnachtsmann. Es war einfach unmöglich, Aron das zu glauben. Ich war jetzt immerhin schon fünfzehn!

„Ich habe hier was für dich“, lächelte er breit. „Erkennst du es wieder?“

„Was … Wie …?“ Völlig verdattert starrte ich das Buch an, meine Kinnlade klappte herunter. Wie konnte das sein? „Aber … Das kann nicht wahr sein! Das … Das ist unmöglich!“, brachte ich hervor und rieb mir die Augen. Doch das magische Buch war immer noch da.

„Nee, eigentlich nicht“, meinte Aron grinsend und klappte meine Kinnlade wieder zu. „Weißt du, ich musste gestern Nacht was trinken, und da kam mir plötzlich diese ungeheuer geniale Idee … Glaube mir, sie werden zurückkommen!“ Begeistert fiel ich ihm um den Hals.

„Mann, was meinst du, wie lange es dauert, bis sie wieder hier sind?“, fragte ich voller Vorfreude. „Bestimmt drehen sie uns den Hals um, wenn sie uns erwischen!“

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