Drittes Kapitel
Drittes Kapitel
Schließlich saß ich wieder in meinem Zimmer, über das Buch gebeugt, das ich in der letzten Nacht noch gelesen hatte. Seite um Seite verstrichen, und plötzlich, als ich erneut eine umblättern wollte, war da gar keine mehr. Langsam kehrte mein Geist in die Wirklichkeit zurück, und als ich blinzelnd auf das Buch schaute, wurde mir bewusst, dass ich gerade die Danksagung gelesen hatte, ohne etwas davon zu merken.
„Oh“, murmelte ich, stellte das Buch in die Reihe zu den schon gelesenen Büchern, und griff schon wie von selbst in die Regalreihe obendrüber. Behutsam fuhr meine Hand nach rechts, nach links, wieder nach rechts …
Wo zum Teufel waren bloß all die Bücher hin? Hatte ich nicht erst letzte Woche eine Last ausgeliehen, unter der ich und Aron fast zusammengebrochen waren?
Verwundert schaute ich in die Regalreihe, doch – tatsächlich – da war nichts!
Na sowas!, dachte ich mir. Muss wohl meinen eigenen Rekord gebrochen haben! Tja … Zeit für’s Büchershopping! (So nannte ich es, wenn ich mir wieder einen riesigen Stapel Bücher auslieh, auch wenn ich mir ja kein einziges kaufte.)
Fröhlich eilte ich ins Wohnzimmer, wo meine Mutter gerade Fernsehen schaute.
„Da bist du ja, Dora! Du hast doch nicht schon wieder gelesen? Das Mittagessen ist schon längst kalt!“ Freundlich lächelnd drehte sie sich zu mir um, und blickte mir in die Augen.
„Ach, ich habe ehrlich gesagt keinen Hunger“, meinte ich, und kauerte mich neben sie. „Ich wollte mir gerade ein paar neue Bücher ausleihen.“
„Warst du nicht erst letzte Woche …?“, wollte sie verwundert wissen. Doch als ich nur den Kopf schräg legte und sie vielsagend anschaute, strubbelte sie mir durchs Haar und sagte gedankenverloren: „Du bist genau wie meine Mutter. Wirklich. Genau wie sie.“
„Aber wieso?“, fragte ich leise. „Du bist doch kein Bücherwurm. Du musst nicht so viel lesen!“ Eigentlich liebte ich lesen, ja, eigentlich liebte ich das Leben, welches ich führte, aber es hatte eben auch unbestreitbare Nachteile.
Seufzend richtete ich mich auf. „Ich gehe dann mal los.“ Mit großen Schritten eilte ich nach draußen, um ja keine Zeit zu verlieren. Jetzt galt es nur noch, Aron zu überreden, in die Bücherei mitzukommen – ohne ihn machte alles nur halb so viel Spaß, auch wenn man nicht behaupten konnte, dass es ihm Spaß machte. Er liebte Elektroläden, für mich der pure Horror.
Hüpfend machte ich mich auf den Weg zu Arons Haus, oder besser gesagt: Ich ging zum Haus nebenan und drückte auf die Klingel. Wartete. Hob erneut die Hand, um diesmal etwas energischer zu klingeln, als auch schon die Tür aufging, und Aron vor mir stand.
„Da bist du ja!“, begrüßte ich ihn vergnügt. Auf die Tasche deutend, die ich mitgebracht hatte, erklärte ich ihm: „Büchershopping.“ Ich war mir sicher, dass sich bei diesem Wort Arons Haare ein klein wenig aufrichteten.
„Soso“, röchelte er. „Nun denn … ich müsste heute auch noch mal in die Stadt.“
„Warum denn?“, wollte ich, Übles ahnend, wissen.
„Ich brauche noch ein paar neue Batterien und so“, entgegnete er schlicht. Oh nein! Das bedeutete nichts anderes als Elektroladen! Eisige Schauer liefen mir schon beim Gedanken an das, was mich erwartete, über den Rücken.
Anscheinend stand mir das Grauen ins Gesicht geschrieben, denn Aron lachte plötzlich, was selten vorkam, wenn er seinen Nachmittag mit Büchershopping verbringen musste.
In die Stadt war es nicht weit, und obwohl ich Aron versprochen hatte, zuerst in den Elektroladen zu gehen, freute ich mich tierisch. Außerdem hatte ich das Gefühl, ich bräuchte dringend mal wieder etwas zum Lesen.
„Bin gleich wieder da“, verkündete Aron, bevor er in dem kleinen Laden verschwand. Ich durfte zum Glück draußen warten. Gelangweilt schritt ich auf und ab, als mein Blick plötzlich auf ein großes Plakat gelenkt wurde.
Die Bibliothek, stand da in geschwungenen Buchstaben. Lust auf Neues? Lust auf Außergewöhnliches? prangte darunter, und mein Herz begann schneller zu schlagen. Eine neue Bibliothek! Und das hier in der Stadt! Das war die mit Abstand beste Nachricht in den letzten Monaten, das war einfach genial! Ich liebte neue Bibliotheken, denn in den beiden alten, die es schon ziemlich lange gab, hatte ich bereits fast alle Bücher durch, und musste immer häufiger auf Lehrbücher zurückgreifen.
Aufgeregt hüpfte ich im Kreis herum.
„Kirchengasse, Kirchengasse, Kirchengasse!“, murmelte ich aufgeregt, und versuchte mir auszurechnen, wie schnell ich wohl dort hingelangen könnte. Höchstens fünf Minuten, wenn ich mich beeilte vielleicht zwei oder drei. Wo blieb Aron bloß?!
Plötzlich sah ich, wie noch jemand anderes auf das Plakat blickte, und erschrocken fuhr ich herum. Marvin! Ich hätte nie gedacht, dass auch er sich für Bücher interessierte. Meine Hände begannen zu kribbeln, als ich ihn vorsichtig beobachtete. Er stand auf der anderen Straßenseite, ich hatte also eine Chance, dass er mein peinliches Verhalten nicht bemerkt hatte, falls das überhaupt zu übersehen gewesen war.
Zum Glück kam in diesem Moment Aron heraus, so versunken in das Zeug, was nun in der Tüte lag, die er in der Hand hielt, dass er Marvin gar nicht bemerkte.
„Aron, Aron!“, sagte ich leise und drückte seinen Kopf hoch, damit er mich, und nicht den Tascheninhalt anschauen musste. „Wir haben eine neue Bibliothek in der Stadt!“
„Was??“, fragte Aron entgeistert. „Ist das dein Ernst? Das darf doch nicht wahr sein!“ Er wurde totenbleich.
„Stell dich nicht so an!“, knurrte ich mit gedämpfter Stimme. „In die beiden alten gehe ich eh nur noch, um diese Bücher hier abzugeben!“ Ich deutete auf die Tasche, die ich auf dem Boden abgestellt während ich auf Aron gewartet hatte. Erleichtert seufzte Aron auf.
„Dann mal los. Sag mal, warum flüsterst du eigentlich …“ Sein Blick schweifte auf die andere Straßenseite und er entdeckte Marvin, der inzwischen mäßig interessiert zu uns hinüber sah. Freundlich winkte er uns zu, dann verschwand er um die nächste Straßenecke.
„Oh oh. Wenn er jetzt doch denkt, wir wären ein Paar …“ Mit zitternden Händen griff ich nach der Büchertasche und hob sie unter leisem Ächzen auf.
„Dora!“, kreischte Aron leise und führte mich schnell weg von Marvin zur Bibliothek. „Dieser Marvin tut dir nicht gut, ich sag’s dir, gar nicht gut!“
Leise vor mich hinmuffelnd gab ich die Bücher ab und eilte dann, Aron im Schlepptau, zu der neuen Bibliothek. Sie war ganz in der Nähe, und ehe ich mich versah, stand ich vor der großen hölzernen Tür, auf der dick und fett ein Schild prangte. Neue Bibliothek, stand da. In kleiner, aber ordentlicher Handschrift hatte jemand untendrunter geschrieben: Achtung: Bitte Schuhe abputzen.
Aron rollte mit den Augen und stieß die Tür auf, die fürchterlich quietschte.
„Also von Schmierfett haben die wohl noch nichts gehört“, spottete er und trat gelassen ein.
„Schscht!“, zischte ich ärgerlich, aber man hatte uns gehört.
„Bloß eine Sicherheitsmaßnahme!“, wehrte die Bibliothekarin ab, der die Kritik nicht zu gefallen schien. Doch ich hörte ihr gar nicht richtig zu. Völlig fassungslos und begeistert blickte ich auf die langen Reihen von Regalen, in denen sich die Bücher stapelten.
„Wenigstens ist es hier nicht so stockfinster wie in der nebenan!“, knurrte Aron, und blickte sich missmutig um. „Und es stinkt nicht! Wow, die machen ja sogar zwischendurch die Fenster auf!“
„In der Tat“, pflichtete ihm die Bibliothekarin bei. „Seht euch hier um. Wir haben alle möglichen Bücher, nur nicht die, die andere Bibliotheken haben. Manche Exemplare sind sogar einmalig!“ Begeistert riss ich die Augen auf, stürzte mich sofort auf das erste Regal, wo ich mir behutsam das erste Buch heraus nahm und begann die Rückseite durchzulesen.
„Du nimmst es doch sowieso! Steck es also gleich in die Tasche!“, riet Aron mir und verschwand gelangweilt in den Tiefen des Hauses.
Als sich plötzlich die Tür quietschend öffnete, schreckte ich hoch. Inzwischen lagen drei Bücher auf meinem Schoß und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie dort hingekommen waren. In dem vierten hatte ich gerade gelesen – ein ziemlich benommenes Gefühl hatte sich in mir breitgemacht, nun, da ich wieder „aufgewacht“ war. Leicht verdutzt sah ich den Jungen an, der gerade hineingekommen war. Er war bestimmt siebzehn oder achtzehn und hatte fast dieselbe Haarfarbe wie Marvin, nur dass er keinen schrägen Pony, sondern leicht zerzauste Haare hatte.
Gerade wollte ich weiterlesen, als ich die Bibliothekarin fragen hörte: „Suchen Sie irgendetwas?“
„Oh. Nein“, antwortete der Junge und wandte sich ihr zu. „Gehört Ihnen diese Bibliothek?“ Seine Stimme klang fast ehrfürchtig und er sah wunderschön aus, als er den Kopf leicht schräg lehnte und ihr zuhörte.
„Nein, nein. Ich habe nur die Ehre, hier arbeiten zu dürfen. Sie gehört einem alten Herren, und scheint ihm ziemlich wichtig zu sein.“
„Oh ja, das kann ich verstehen. Das ist ja ein richtiger Schatz hier. Hat er Ihnen gesagt, dass ihm diese Bibliothek so wichtig ist, oder wie haben Sie …“ Der Junge machte einen Schritt auf die Bibliothekarin zu und lehnte sich leicht gegen den Tresen. Wenn mich nicht alles täuschte, wurde diese Bibliothekarin doch tatsächlich leicht rot! Und dass, obwohl er vielleicht gerade erwachsen geworden, und sie bestimmt schon fünfundzwanzig oder älter war! Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen und ließ die Bücher in die Tasche gleiten. Dieser Junge wollte auf etwas hinaus, da war ich mir sicher!
„Nun, er hat mir eingeschärft, während der Arbeit die Schlüssel zu verstecken und jeden Abend noch einmal das ganze Haus abzugehen, bevor ich abschließe. So Sachen halt. Ziemlich überflüssig, wenn Sie mich fragen!“ Sie lachte leicht schrill. Lautlos richtete ich mich auf und ging los, um Aron zu suchen. Zu meiner großen Verwunderung sah er sich die Bücher an, doch mir blieb keine Zeit, um ihn danach zu fragen.
„Wo sie recht haben, haben sie recht“, stimmte ihr der Junge (oder Mann, ich war mir nicht sicher) zu. „Wer würde denn schon ein Buch stehlen wollen?“
„Aron, da vorne ist ein komischer junger Mann!“, zischte ich ihm zu. „Er schleimt sich gerade an die Bibliothekarin ran!“
„Was?“, fragte Aron entgeistert, immer noch ein Buch in der Hand, was bei ihm ein wahrlich ungewohnter Anblick war. Doch in diesem Moment sah der junge Mann auf seine Uhr, murmelte etwas von „So ein Mist!“, er müsse los, und mit diesen Worten verschwand er eilends nach draußen.
„Jetzt ist er weg“, flüsterte ich, und verzog das Gesicht.
„Kanntest du ihn?“, wollte Aron, immer noch erstaunt, wissen. Ich schüttelte den Kopf, und ging nach vorne, um mir weiteren Lesestoff anzuschauen, und auch Aron schien ausnahmsweise an ein paar Büchern interessiert.
Plötzlich, ich griff bestimmt schon nach dem hundertsten Buch, stieß ich mit jemandem heftig zusammen, und zog dabei das Buch ausversehen so schräg aus dem Regal, dass ich mindestens zehn weitere mitriss.
„Oh nein!“, schrie ich auf, als sich die Bücher auf den Boden ergossen. Blitzschnell bückte ich mich, um die Bücher vorm Zerknicken zu bewahren, als ich Aron „Oh oh, ich hab dich gar nicht gesehen“, murmeln hörte.
„Hilf mir, die Bücher zu retten!“, rief ich leise und richtete mich schwankend mit vier der dicken Wälzer im Arm auf, um sie wieder ins Regal zu schieben, als ich etwas Merkwürdiges sah. Gerade wollte ich noch einmal hinschauen, um mich zu vergewissern, als auch schon die Bibliothekarin laut rufend um die Ecke bog, und ich schnell meinen Fund hinter den Büchern verstecken musste.
„Könnt ihr nicht aufpassen? Habt ihr denn keinen Respekt vor Büchern??“ kreischte sie aus vollem Hals.
„Dora schon“, murmelte Aron kleinlaut und hob schnell ein paar Bücher auf.
Während wir die restlichen Bücher hastig ins Regal zurückstellten, wurden wir von Adleraugen überwacht, und die Miene, die die Bibliothekarin zur Schau trug, verhieß nichts Gutes für uns.
„So“, verkündete sie grimmig, als wir unsere Arbeit beendet hatten. „Glaubt ja nicht, dass ihr mir so ungeschoren davonkommt. Lasst mich überlegen … hm ja. Ich glaube“, sie lächelte zuckersüß, „es würde euch mal ganz guttun, die nächsten Abende beim Aufräumen der Bibliothek zu helfen. Dann würdet ihr vielleicht endlich mal lernen, wie man mit Büchern umzugehen hat!“
„Aber es war keine Absicht!“, protestierte Aron ärgerlich.
„Keinen Widerspruch, mein Junge. Samstag- und Sonntagabend hier, wenn die Bücherei zumacht. Auch nächste Woche!“ Sie schien unsere entsetzten Gesichter regelrecht zu genießen, als sie sich zufrieden abwandte.
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