Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Als ich diesen Mittag mit Aron nach Hause spazierte, fragte ich mich zum ersten Mal, wo Marvin wohnen mochte. Immer ging er zu Fuß, ein kleines Stückchen sogar meinen Schulweg entlang. Doch dann bog er meist nach links ab und verschwand.

Dafür, dass er erst wenige Tage hier war, kannte er sich schon ziemlich gut aus, von Anfang an war er alleine nach Hause gelaufen. Er musste ein extrem gutes Gedächtnis haben.

„Das war die beste Deutschstunde meines Lebens!“, seufzte Aron glücklich und dehnte seine Finger. Er hatte gut Reden, schließlich musste er nie vorspielen, er hatte zu den Glücklichen gehört, die sich die ganze Zeit im Publikum vergnügt hatten.

„Hätte schrecklicher werden können“, entgegnete ich nüchtern. „Mike hat sich ausnahmsweise mal zurückgehalten.“ Aron musste lächeln.

„In der Tat, ich hatte schon richtig Angst um dich, als er den Stock bekommen hat!“

„Tja, war eben ein reichlich gefährlicher Tag.“

„Wenn ich nur an Rugby denke …“ Aron schüttelte sich. „Ich wette, Mike hat Marvin dazu angeheuert, um Rugby zu bitten, um uns mal wieder eins auszuwischen.“

„Wohl war. Auch wenn man sich mal solangsam fragen sollte, weshalb er es eigentlich immer auf uns abgesehen hat …“

„Frag ihn doch. Vielleicht mag er dich ja.“ Marvin musste sich von hinten an uns herangeschlichen haben, jedenfalls erschreckte ich mich so heftig, dass ich fast hingefallen wäre.

„Was machst du denn hier? Klebst du etwa nicht mehr an Mike fest?“, fragte Aron kühl.

„Ich klebe nicht an Mike fest“, erwiderte Marvin mindestens ebenso kühl. „Er klebt an mir. Und dass er dich hasst, wundert mich nicht, du bist nämlich extrem widerwärtig!“ In mir schien etwas fast zu zerreißen, so sehr schmerzte es. Ich wollte doch nicht, dass die beiden sich stritten!

Wieso konnten sie sich nicht einfach aus dem Weg gehen?

„Schön, dass ihr euch so gut vertragt, aber …“, kam ich Aron zuvor, der aussah, als wolle er gleich eine fürchterliche Beleidigung ausspeien. „… ich schlage vor, wir gehen jetzt, weil, ähm, wir haben wenig Zeit … hab noch was vor …“ Blitzschnell packte ich Aron am Ärmel, um ihn fort von Marvin zu ziehen. Der sah mich einen Moment an, als wisse er nicht, was er von mir halten sollte, dann verschwand er in einer Seitenstraße und war endlich außer Sicht.

„Was sollte das?“, beklagte ich mich. „Wieso müsst ihr euch ständig anzinken?“

Ärgerlich brummte Aron etwas vor sich hin. Obwohl er auf die Straße sah, wusste ich, dass er innerlich immer noch vor Wut brodelte.

„Vielleicht weil er, kaum in der Klasse ständig Mike nachschleimt und all seinen Scheiß mitmacht!“, meinte Aron aufgebracht und schüttelte wütend seine schwarzen Locken. „In der Klasse reicht ein supercooler Angeber von Mädchenheld und Nervensäge in einem. Da brauchen wir nicht noch Marvin!“

„Du kannst ihn ja still hassen, aber bitte streite dich nicht mit ihm, ja?“, bat ich und zog ihn von der Straße herunter, als ein Auto kam.

„Hmpf“, murrte er nur. „Von mir aus. Ich werd’s versuchen!“ Trotzig lief er neben mir her und ich wusste immer noch nicht, ob ich lieber deprimiert oder annähernd glücklich sein sollte. Deprimiert kam mir angesichts Arons Grimasse passender vor.

Vor seinem Garten blieben wir stehen.

„Ich weiß, wie alle Mädchen ihn anhimmeln“, seufzte er und kickte einen Kieselstein fort. „Aber Marvin ist mir nicht ganz geheuer, also pass auf dich auf. Und nimm dir für morgen besser eine Kotzschüssel mit. Ich sage dir: Die hast du nötig, wenn du ausversehen mal mitbekommst, wie ein paar aus unserer Klasse ihn anschleimen. Bei mir jedenfalls war es ziemlich knapp, beinahe hätte ich nicht rechtzeitig das Klo erreicht!“ Er grinste und huschte wie ein vergnügter, bösartiger Gnom durch das Meer aus Pflanzen, welches seinen Vorgarten säumte. Manchmal waren seine Stimmungsschwankungen leicht gruselig.

Ich las, las und las.

Was sonst soll man denn an einem langen, freien Nachmittag machen?, fragte ich mich, als ich gerade das dritte Buch aus dem Regal nahm und dabei ausversehen einen Blick auf die Uhr warf. Schon sechs. So ein Mist! Aber noch ein paar Seiten konnten wohl kaum schaden, Hunger hatte ich ja sowieso noch keinen …

Gähnend rieb ich mir die müden Augen und blinzelte ein paar Mal, um wieder scharf zu sehen. Das dicke Buch auf meinem Schoß war nun schon in der Mitte aufgeschlagen, die „paar“ Seiten hatten sich offensichtlich rapide vermehrt.

Auch mein Magen erinnerte mich daran, dass ich auch noch das Abendessen vergessen hatte. Schließlich reichte nur Lesen eben doch nicht, auch wenn ich ein Bücherwurm war.

Ergeben seufzend richtete ich mich auf, schwankte auf meine Zimmertür zu und machte den großen Fehler, im Vorübergehen einen Blick in den Spiegel zu werfen. Entsetzt taumelte ich zurück, als eine finstere Monstergestalt zurückstarrte. Und das Schlimmste war: Dieses Monster war ich! Hatte ich mir nicht schon letztes Mal geschworen, diesen verfluchten Spiegel ein für allemal mit einem Tuch abzudecken?

Mutig das Zittern unterdrückend, traute ich mich, noch einen Blick hinein zu werfen. Ich bot einen fürchterlichen Anblick mit meinem totenbleichen Gesicht, den wild abstehenden Ohren und dem hageren Körper. Die beinahe schwarzen Augenringe setzten diesem Anblick noch die Krone auf. Schrecklich! Da konnte mich selbst mein dunkelbraunes Haar nicht mehr retten, im Gegenteil, es verschlimmerte den Anblick beinahe noch!

Noch bleicher als zuvor packte ich mir ein dunkles Tuch und warf es über den Spiegel. Dann tapste ich immer noch leicht zitternd in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen.

Diese Nacht war die erste seit Langem, in der ich wieder richtig geschlafen hatte. Schon um halb acht war ich im Bett verschwunden – doch erst um acht Uhr konnte ich richtig einschlafen, weil meine Mutter vorher noch in mein Zimmer kam und wissen wollte, ob ich krank sei. Sie war furchtbar erleichtert, dass ich endlich mal wieder lange schlafen wollte und sie war auch die Erste, die mir am nächsten Morgen mitteilte, dass ich wirklich besser aussähe.

„Danke“, sagte ich lächelnd aus tiefstem Herzen. „Findest du wirklich, dass ich nicht mehr wie eine Untote aussehe?“

„Ja. Jetzt wirkst du nur noch wie jemand, der gerade eine lange Krankheit hinter sich hat!“ Sie lachte und schloss mich in die Arme. Glücklich erwiderte ich die Umarmung und schwor mir, in Zukunft mehr zu schlafen.

„Meine Güte, Dora, du hast doch nicht etwa ausgeschlafen?“, fragte Aron grinsend. Ich hatte am Gartentor auf ihn gewartet und seine Reaktion sagte mir überdeutlich, dass ich mich verändert hatte. Grinsend hüpfte ich neben ihm her, auch wenn ich es ihm nie sagen würde: Ich freute mich tierisch darauf, in die Schule zu kommen, vor allem darauf – aber das gestand ich mir nicht einmal selbst ein – Marvin zu sehen.

„Ach ja, wenn du nicht so blöd grinst, sieht es noch besser aus!“, informierte Aron mich gelassen und hastete los, um meinen Tritten zu entkommen.

Marvin war nicht da. Er kam weder zur ersten Stunde, noch zur zweiten. Und obwohl ich auch in der dritten und vierten auf ihn hoffte (vielleicht war er ja beim Zahnarzt oder so), ließ er sich auch dann nicht blicken. Niedergeschlagen las ich mich durch meine Schulbücher, eine tiefe Gleichgültigkeit erfasste mich und ich drehte mich nicht einmal um, als Mike mir mit seinem Regenschirm ständig in meinen Rücken piekste, lief nicht einmal rosa an, als Lucas plötzlich meinen Namen sagte und ich keinen Schimmer hatte, was ich tun sollte. Diesmal sagte ich bloß ruhig: „Keine Ahnung. Ich habe das Thema immer noch nicht verstanden. Könnten Sie es mir noch einmal erklären?“

Schließlich kam Marvin doch noch. Zur sechsten Stunde. Anscheinend war er beim Arzt gewesen, denn sein Vater hatte ihm eine Entschuldigung geschrieben, in der etwas in der Art drinstand.

Doch zum Pech für ihn schrieben wir nun ausgerechnet in der letzten Stunde einen Mathe-Überraschungstest … Um mich herum waren verzweifelte Grübellaute zu hören oder wildes Killern. Doch um meine Lippen kräuselte sich nur ein spöttisches Lächeln und ohne Probleme schrieb ich die Lösungen hin. Tja, es lohnte sich eben, jede Mathestunde das Buch auf’s Neue zu lesen.

„Meine Güte, wenn das bei mir mal keine Sechs gibt!“, stöhnte Aron, der totenbleich aus dem Klassenzimmer gewankt kam.

„Da bist du ja endlich“, meinte ich milde lächelnd. „Können wir jetzt gehen?“ Nickend folgte er mir und wir verließen das Gebäude, glücklich, den Test hinter uns zu haben.

„Wie ich Überraschungstests hasse! Bestimmt hat die halbe Klasse wieder einmal eine Fünf!“ Aron schnitt eine Grimasse und blickte missmutig nach hinten, wo Marvin gerade aus der Schule kam. Er musste ungefähr zur selben Zeit wie wir fertig geworden sein.

„Na, auch überlebt?“, wollte er wissen und gesellte sich trotz des Streites gestern zu uns. „Es war die Hölle! Ich habe bestimmt nichts richtig!“

„Du hast ja auch nicht aufgepasst!“, stichelte ich, wohl wissend, was er die letzten Mathestunden mit Mike alles gemacht hatte: Die Spiele waren vielseitig und äußerst kreativ gewesen, hatten nur leider nichts mit Mathe zutun.

„Ach Dora! Außer dir hat keiner das Thema verstanden!“, verteidigte Aron Marvin. Himmel, war er krank? Er verteidigte Marvin! Ob er sich wegen des Streites revanchieren wollte? So oder so war ich total erleichtert.

„Mike behauptet, sie liest die ganze Zeit im Unterricht die Schulbücher“, sagte Marvin vorsichtig.

„Ach, Mike!“, stellte Aron verächtlich fest. „Aber da hat er ausnahmsweise mal recht.“ Darauf musste sogar Marvin leicht grinsen.

„Er hat auch gesagt, dass Dora auch zuhause ständig die Schulbücher ließt und eine Streberin ist. Aber das glaube ich ihm nicht.“ Marvin grinste mich an, wobei er furchtbar niedlich aussah.

Das würde ich an deiner Stelle auch nicht glauben!“, schnauzte Aron ungehalten, aber die Belustigung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Glaubt dieser nervige Troll eigentlich, ich würde diese Bücher zum Spaß lesen? Mir bleibt ja förmlich nichts anderes übrig!“

„Das stimmt“, bestätigte Aron vergnügt. „Ich erinnere mich noch zu gut, wie sie eines morgens auf dem Schulweg zusammengebrochen ist, weil sie zu viele Bücher dabei hatte. Die wohlgemerkt keine Schulbücher waren.

Weißt du, die Lehrer haben ihr nämlich die ganze Lektüre immer weggenommen, wenn sie sie erwischt haben, und das kam ziemlich häufig vor.“ Oh ja, ich konnte mich nur allzugut an diesen Tag erinnern. Es war kein glückliches Erlebnis für mich gewesen, nein, es war der Tag, an dem ich erstmals einsah, dass es hoffnungslos war … das mir nichts anderes blieb, als die Schulbücher als kargen Ersatz zu benutzen. Doch obwohl das für mich wirklich alles andere als lustig war – als nun die beiden Jungen damit anfingen, konnte ich nicht anders, als einfach mitzulachen. So glücklich war ich lange nicht gewesen und selbst die Tatsache, dass Marina wütend zu uns hinüberstarrte, bevor sie zum Bus verschwand, störte mich heute nicht im geringsten.

Fröhlich nebeneinander herschlendernd tauschten wir alte Geschichten aus: Während Aron die fürchterlichsten Dinge von seinen Verwandten zu erzählen wusste (die so unglaublich gemein waren, dass sie eigentlich schon längst im Buch der Rekorde stehen müssten), berichtete Marvin uns von den Lehrern, die er früher gehabt hatte. Manche davon waren Arons Verwandten recht ähnlich.

Von miesen Typen kamen wir schließlich auf Mike, doch diesmal hielt Marvin entschlossen zu ihm und Aron tat ihn verächtlich als einen Fall für die Klapse ab, doch glücklicherweise trennten wir uns rechtzeitig, bevor das (noch) ruhige Gespräch in einen Streit ausarten konnte.

„Naja, wäre da dieser verfluchte Mike nicht, wäre Marvin ja ganz in Ordnung“, meinte Aron und grinste mich plötzlich unverschämt an. „Du maaaagst ihn, nicht?“ Ich war mir sicher, dass ich in diesem Moment leicht rosa anlief, doch das war schon eine reife Leistung, so blass, wie ich sonst war.

„Nicht mehr als ich dich mag!“, erwiderte ich, bemüht, sachlich zu klingen, und war verdammt froh, dass das stimmte.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du auf mich stehst!“, bemerkte Aron, wobei er gerade noch rechtzeitig die Flucht ergriff, bevor ich über ihn herfallen konnte.

Eigentlich ging ich nur selten in die Stadt und auch nur aus unverschiebbar wichtigen Gründen, wie zum Beispiel in die Bibliothek, aber diesmal schob ich den Termin, ein neues Heft zu kaufen (ja, ich kam tatsächlich zwischen all dem Lesen noch dazu, etwas in meine Hefte zu schreiben, sonst hätten mich die Lehrer bestimmt schon längst zu Schnecke gemacht), nicht bis auf den letzten Drücker hinaus, sondern quälte mich in die Stadt und in den nächsten Papier- und Bastelladen. Ich mochte dieses Geschäft nicht, das ganze unbeschriebene Papier löste ein verwirrendes Gefühl in mir aus: Ständig versuchte ich, in leeren Heften zu lesen, so lange, bis die Leute mich komisch anstarrten, dann floh ich meistens aus dem Laden. Dieses Mal wurde ich beinahe hinausgekehrt, weil der Laden schloss, und konnte gerade noch das gewünschte Heft mitnehmen.

Stöhnend stolperte ich auf die Straße und rieb mir den brummenden Schädel. Ich fühlte mich richtig mies und so sank ich auf der nächstbesten Bank zusammen und versuchte krampfhaft, mich daran zu hindern, in den leeren Seiten des Hefts zu blättern.

Langsam wurde es dunkel, doch ich merkte nichts davon – immer noch knetete ich das Heft so wild in den zitternden Fingern, sodass es inzwischen aussah, als ob es schon ein Jahr in Gebrauch wäre.

Mist, es war höchste Zeit, dass ich ein Buch zwischen die Finger bekam, sonst würde ich noch wahnsinnig werden. Zittrig stand ich auf, stolperte nach vorne, dann fing ich mich wieder und stapfte leicht unsicher los. Bis mir eiskalt bewusst wurde, dass ich in die falsche Richtung ging.

Plötzlich quietschte etwas. Es klang wie ein altes, rostiges Fenster, das gewaltsam geöffnet wurde. Waren etwa die Einbrecher zurück?

Du hast zu viele Bücher gelesen!, schimpfte ich mich im Stillen. Trotzdem schielte ich neugierig um die Ecke, wo jedoch nichts zu sehen war. Alles leer, oder? Aber ich hatte mich nicht getäuscht, eine verräterische Bewegung lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein großes Haus. Dort, im zweiten Stock balancierten drei völlig schwarze Gestalten auf einem schmalen Balken, der die Hauswand zierte. Sie waren vorsichtig und langsam, trotzdem strahlten sie eine Eleganz aus, die mich dazu veranlasste, regungslos und mit weit aufgerissenen Augen die Drei anzustarren.

Plötzlich duckte sich der Erste und ich fürchtete schon, er könne mich gesehen haben, als er auch schon zum Sprung ansetzte und beinahe lautlos auf dem flachen Dach des danebenstehenden Hauses landete. Ehrfürchtig sah ich zu, wie die beiden größeren Gestalten noch anmutiger übersetzten und für einen kurzen Moment mit im Wind flatternder Kleidung innehielten.

Dann sagte der Zweite: „Da unten ist das Trampolin. Jetzt mach schon.“  Mit diesen Worten versaute er den ganzen dramatischen Effekt und ich taumelte aus meiner Starre gerissen einen Schritt zurück bevor ich mich rasch duckte. War ich nun völlig durchgeknallt? Oder passierte so was auch anderen, dass sie zweimal in nicht einmal sieben Tagen dieselben Verbrecher beobachteten?

In dem Moment hörte ich eine federnde Landung auf dem Trampolin, dann eine zweite.

„Autsch, pass auf, du bist auf meinem Fuß gelandet, Josh!“ Auch wenn die Stimme leise und irgendwie heiser klang, war ich mir plötzlich sicher, wem sie gehörte. Es war so unwahrscheinlich und merkwürdig, dass ich beinahe wirklich glaubte, zu halluzinieren, doch die andere Stimme klang so echt, dass das eigentlich gar nicht infrage kam.

„Keine Namen!“, mahnte der Zweite und ich glaubte den Geräuschen zu entnehmen, dass nun auch der Dritte gesprungen war und alle sich aus dem Staub machten.

Auch ich tat es ihnen keine drei Sekunden später gleich.

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