31: Die Versuchung der Dunkelheit


Die kalten Schatten des Thronsaals lagen schwer auf den polierten Marmorfliesen, als Idaia den Raum betrat. Der schwache Schein der Fackeln entlang der Wände bot kaum Wärme in dieser düsteren Festung. Alles an diesem Ort schien in Dunkelheit gehüllt – selbst die Zeit schien hier stillzustehen. Die Kälte kroch unter ihre Haut, aber sie ließ sich nichts anmerken. Wie lange war sie schon hier, in diesem Schloss, in den Fängen von Denathrius? Die Tage hatten sich zu einer endlosen Qual zusammengeschlossen, und sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie vermisst wurde. Ob jemand nach ihr suchte. Aber die Gedanken blieben flüchtig, wie Schatten in der Dunkelheit. Sie war hier aus einem einzigen Grund – um sich Denathrius zu stellen. Wieder einmal.

Denathrius saß in seinem massiven, schwarzen Thron, elegant wie immer, seine Augen leuchteten rot in der Düsternis. Die Macht, die von ihm ausging, war wie ein unsichtbares Netz, das den Raum durchzog. Eine Macht, die jeden Gedanken an ein Leben außerhalb der Schlossmauern verschwinden ließ. Er wirkte wie eine finstere Verkörperung des Todes und doch trug er die Anmut eines Königs. Seine Haltung war königlich, und die Finsternis um ihn schien sich seinem Willen zu beugen.

„Idaia," sagte er mit seiner tiefen, sanften Stimme, die durch den Raum widerhallte und sie einhüllte wie eine Decke aus Schatten. „Du hast den Schmerz lange genug getragen, nicht wahr?"

Sie blieb vor ihm stehen, ihre Hände zu Fäusten geballt, den Blick auf ihn gerichtet. Sein Blick drang durch sie hindurch, durch jede Schicht, die sie zum Schutz aufgebaut hatte. Doch sie weigerte sich, schwach zu wirken, auch wenn ihr Herz schneller schlug. Denathrius' bloße Anwesenheit brachte die Dunkelheit in ihr zum Vorschein, die sie seit so langer Zeit zu unterdrücken versuchte.

„Ich trage meinen Schmerz mit Stolz," antwortete sie, die Stimme ruhig, aber in ihr tobte ein Sturm. „Er hat mich zu dem gemacht, was ich bin."

„Oh, das weiß ich," erwiderte Denathrius und erhob sich langsam von seinem Thron. Sein Gang war bedacht, wie das eines Raubtieres, das seine Beute umkreist. „Doch was, wenn ich dir sagen würde, dass es nicht so sein muss?" Seine Worte waren wie ein versiegeltes Versprechen – verführerisch, aber voller Gefahr.

Er blieb direkt vor ihr stehen, so nah, dass sie den Hauch seiner Macht spüren konnte. Sein Blick war unergründlich, und seine Stimme wurde weicher. „Stell dir vor, was wir gemeinsam erreichen könnten, Idaia. All das Leid, das dir angetan wurde, könnte rückgängig gemacht werden. Du könntest alles haben – an meiner Seite."

Seine Worte schwebten wie dunkler Nebel um sie herum, sanft, doch bedrohlich. Idaia fühlte, wie etwas in ihr aufbrach – ein leises Verlangen nach all dem, was er versprach. Freiheit von der Last ihres Schmerzes. Die Möglichkeit, das Licht hinter sich zu lassen, das sie verraten hatte.

Doch zugleich war da eine tiefe Abscheu. Die Finsternis, die er anbot, war verlockend, ja – aber auch zerstörerisch. Sie wusste, dass der Weg, den er ihr zeigte, endgültig war.

„Alles?"Sie hob eine Augenbraue, ihr Versuch, Stärke zu zeigen, wurde durchdas leise Zittern ihrer Stimme verraten. „Und was genau bedeutet ‚alles' für dich, Denathrius?"

Er lächelte – ein kaltes, listiges Lächeln, das sie wie ein Messer schnitt. „Alles, was du dir jemals gewünscht hast. Macht. Einfluss. Freiheit. Keine Fesseln mehr, die dich zurückhalten. Keine Zweifel. Keine Verluste." Er machte eine kurze Pause, ein selbstgefälliges Funkeln trat in seine Augen, als er das nächste Wort so sanft wie eine Liebkosung aussprach. „Mich."

Das einzelne Wort hallte nach, und ihre Atmung stockte. Der plötzliche Druck seiner Nähe, dieses Angebot seiner selbst – als sei er das ultimative Geschenk, das sie jemals erhalten könnte – schockierte sie zutiefst. Ihr Körper spannte sich an, als ob eine unsichtbare Kälte von ihm ausging und sich langsam in ihr Herz fraß.

Sie wollte ihm nicht diesen Triumph gönnen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, und sie konnte nur einen schwachen, unsicheren Blick erwidern. Diese Vorstellung, dass er selbst zu dem geworden war, was sie sich angeblich wünschen sollte, erfüllte sie mit einer Mischung aus Furcht und Verwirrung. Ihre Finger verkrampften sich, und sie widerstand dem Drang, sich von ihm abzuwenden.

„Du..." Ihre Stimme brach, und sie kämpfte darum, ihre Fassung zu wahren. „Du überschätzt deinen Wert," murmelte sie, doch das Zittern in ihrer Stimme verriet sie. „Ich brauche dich nicht." Aber selbst während sie die Worte sprach, fühlte sie, wie die Dunkelheit in seiner Anwesenheit sie umspielte, lockte, als ob die Schatten ihm zustimmten.

Denathrius neigte den Kopf leicht zur Seite, und ein tiefes, kehliges Lachen stieg in seiner Brust auf – ein Laut, der in der Stille zwischen ihnen nachhallte und eine unheimliche Gänsehaut über ihre Haut jagte. Er ließ sie nicht aus den Augen, sein Blick brannte sich regelrecht in sie, während er ihr Zittern mit einem amüsierten, nahezu triumphalen Lächeln musterte.

„Oh, Idaia," murmelte er, und seine Stimme war voll seidiger Verachtung, „du kannst dir selbst noch so sehr einreden, dass du mich nicht brauchst. Aber ich sehe dich." Seine Worte sickerten durch die Dunkelheit, ihre Schärfe so präzise wie die Klinge eines Messers. „Du kannst die Rolle der Unnahbaren spielen, derjenigen, die das Licht verteidigt – aber tief in dir, in der Tiefe deiner Seele, weißt du es besser."

Er legte seine Hand an ihre Wange, diesmal mit mehr Druck, seine Finger kalt und fest auf ihrer Haut. „Du wirst es mir danken. Früher oder später wirst du erkennen, dass alles, was du gesucht hast... schon immer direkt vor dir stand." Sein Lächeln wurde breiter, düsterer, als er hinzufügte: „Es gibt nichts, was dich daran hindern könnte, zu akzeptieren, was längst deins ist."

Er trat einen Schritt zurück, um ihren Ausdruck genau zu beobachten – diesen schmalen Grat aus Abscheu und dem leichten Anflug von Zweifel, den er in ihr gesät hatte. Denathrius wusste, dass der Keim gelegt war, und sein Lachen war voller stiller Gewissheit.

Ein Schauer lief über ihren Rücken, als Denathrius' Worte in ihr nachhallten, eine schleichende, verführerische Melodie, die ihre Gedanken durchdrang. Er wusste genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste, jede ihrer verborgenen Ängste und tiefsten Sehnsüchte kannte er besser, als sie es sich je eingestehen würde.

Die Versuchung, seinen Worten nachzugeben, war da, pulsierend, wie ein finsteres Echo in ihrem Inneren. Die Vorstellung, die Dunkelheit zu umarmen und die endlose Last des Lichts von sich zu werfen, schien plötzlich so einfach, so verlockend. Sie könnte alles sein, was er ihr versprach – mächtig, unaufhaltsam, frei von den Ketten des Zweifels und der Verluste. Der Schmerz, den sie so lange mit sich getragen hatte, könnte mit einem einzigen Schritt vergehen, als hätte es ihn nie gegeben.

Und doch... ein winziger Funke in ihr hielt sie zurück, eine leise, zögernde Stimme, die sich gegen den verführerischen Sog der Dunkelheit wehrte. Was würde aus ihr werden, wenn sie ihm nachgab? Was wäre von der Idaia übrig, die sie einst gewesen war? Der Weg, den er ihr wies, schien voller Macht – aber zu welchem Preis?

Ihre Finger zitterten, und sie ballte die Hand zur Faust, als wollte sie sich selbst an etwas erinnern, das ihm verborgen blieb. Die Dunkelheit, die er ihr anbot, mochte befreiend wirken, doch etwas in ihrem Innersten flüsterte, dass diese Freiheit nichts anderes als eine Illusion war.

„Ich weiß, was es kostet," flüsterte sie, und ihre Stimme bebte leicht, während sie sich innerlich gegen den Sog wehrte. „Aber ich kann nicht noch einmal in die Dunkelheit fallen."

Denathrius lächelte nicht mehr. Sein Blick wurde intensiver, kühler. Sein Griff an ihrem Kinn wurde fester, und er beugte sich näher zu ihr. Seine Lippen kamen so nah an ihr Ohr, dass sie seine Worte mehr spürte, als hörte. „Du bist bereits gefallen," sagte er leise, aber eindringlich. „Du musst es nur noch akzeptieren."

Alles schien plötzlich stillzustehen. Idaia fühlte die Dunkelheit, die er in ihr ansprach, wie ein Echo in ihren Adern zu seinen Worten pulsieren. Der Raum um sie herum verschwamm, bis nur noch sie und Denathrius existierten. Seine Worte hatten etwas in ihr aufgewühlt, etwas, das sie nicht länger ignorieren konnte.

Doch dann... kam die Klarheit. Sie hatte schon einmal in die Dunkelheit geblickt, und sie hatte überlebt. Das Licht hatte sie nicht verlassen, nicht wirklich. Es war immer noch da, tief in ihr verborgen, und das war es, woran sie sich festhalten würde.

Mit einem tiefen Atemzug löste sie sich von ihm, trat einen Schritt zurück und brach den Kontakt. „Ich bin nicht wie du," sagte sie entschlossen, ihre Augen funkelten mit einem Hauch von Zorn und Stolz. „Ich werde nie so sein wie du."

Denathrius blieb reglos, seine Augen unverändert auf sie gerichtet, als ob er etwas Unerwartetes in ihr gesehen hätte. Für einen Moment war Stille, nur das leise Knistern der Fackeln erfüllte den Raum.

Dann lächelte er wieder, aber diesmal war es anders. Es war nicht das Lächeln eines Sieges, sondern das eines Mannes, der Geduld hat. „Du kannst es leugnen, so lange du willst," sagte er leise, beinahe sanft. „Aber eines Tages wirst du erkennen, dass wir uns ähnlicher sind, als du glaubst."

Idaia drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Raum. Ihre Schritte hallten durch die Dunkelheit, doch das Echo seiner Worte verfolgte sie. Denathrius würde nicht aufhören, sie zu versuchen, das wusste sie. Und vielleicht... vielleicht war da ein Teil von ihr, der sich immer fragen würde, ob er recht hatte.

Doch für den Moment war sie fest entschlossen, weiterzukämpfen. Für sich selbst, für das Licht – für all das, was ihr je etwas bedeutet hatte.

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