09: Der Kampf um das Licht



Idaia stand in der großen Bibliothek von Schloss Nathria, umgeben von endlosen Reihen finsterer, verstaubter Folianten, die das Wissen und die Geheimnisse Revendreths bargen. Die Luft war schwer von einer altertümlichen Stille, nur das gelegentliche Rascheln von Pergament durchbrach die Dunkelheit, die wie eine erdrückende Präsenz über allem lag. Die Wände der Bibliothek waren hoch und dunkel, das schwache Licht der Kerzen flackerte, warf lange Schatten, die über die Regale krochen und sich wie lebendige Wesen auf sie zubewegten.

Idaia wusste nicht, wie sie hierher gekommen war. Die letzten Tage waren wie in einem dichten Nebel gehüllt, die Zeit verschwommen, als wäre sie durch die Schichten ihrer eigenen Wahrnehmung gedriftet. Jede Erinnerung, jede Entscheidung war von einem dumpfen Schleier überzogen, als läge ihr Geist in Ketten, unfähig, sich von Denathrius' Kontrolle zu lösen. Es war, als ob seine Stimme tief in ihrem Inneren ihre Gedanken steuerte, so sehr, dass sie nicht einmal den Wunsch verspürte, sich zu wehren.

In diesen stillen Stunden, wenn niemand sonst die Halle betrat, konnte sie die tief in ihr lauernde Dunkelheit deutlich spüren. Sie saß an einem massiven Tisch aus schwarzem Marmor, aufgeschlagene Bücher vor sich, doch ihre Gedanken drifteten ab. Die Worte auf den Seiten verschwammen vor ihren Augen, während das Flüstern in ihrem Kopf lauter wurde. Es war nicht ihre eigene Stimme, die dort sprach, sondern etwas Tieferes, Dunkleres, das sich in den letzten Tagen genährt hatte, genährt an ihrer Verzweiflung und an dem Genuss, den sie nicht leugnen konnte.

Was tust du hier, Idaia?",fragte diese innere Stimme, leise und dennoch durchdringend, wie ein süßer, verlockender Schauer, der ihr über die Haut lief. „Warum kämpfst du noch? Schau dich an... du gehörst schon längst uns."

Ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie die Stimme hörte, obwohl sie wusste, dass niemand in der Nähe war. Die Dunkelheit lachte in ihr, ein gehässiges, triumphierendes Lachen, das in ihrem Kopf widerhallte. Es war, als würden die Schatten um sie herum die Kontrolle übernehmen, und sie spürte die Kälte, die von ihrer Seele Besitz ergriff. Mit jedem Atemzug schien es, als würde die Dunkelheit in ihr mehr Raum gewinnen, als ob sie über ein unsichtbares Schlachtfeld marschierte, das tief in ihrem Inneren tobte.

„Du hast schon Blut vergossen," fuhr die Stimme fort, sanft und doch unerbittlich, als würde sie Idaia streicheln, nur um sie im nächsten Moment zu erdrücken. „Du hast es genossen, nicht wahr? Dieser Rausch... das Zittern in deinen Fingern, wenn du das Licht verlierst und die Dunkelheit umarmst. Wozu noch Widerstand leisten?"

Idaia schloss die Augen, versuchte, die Stimme zu verdrängen, doch sie drang durch jede Verteidigung, die sie aufbaute. Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten, als sie sie auf die kühle Oberfläche des Tisches legte. Ihr Körper erinnerte sich an den Nervenkitzel, den sie während der letzten Kämpfe gespürt hatte – den berauschenden Moment, in dem sie die Klinge geführt und den Schlag ausgeführt hatte. Die Dunkelheit hatte sie umschlungen, und für einen Augenblick... ja, für einen schrecklichen Augenblick hatte sie sich mächtig angefühlt.

Sie öffnete die Augen und blickte auf ihre Hände. Sie sah keine Blutspuren, aber in ihrem Geist haftete noch der Gedanke an das Blut, das sie vergossen hatte, an die Seelen, die unter ihrem Schwert gestorben waren. Es war, als könnte sie das Echo ihrer Schreie noch immer hören, gedämpft und verzerrt, während sie durch die Schatten der Bibliothek schritten.

Doch tief in ihr, verborgen unter der dicken Schicht von Verzweiflung und Schuld, spürte sie etwas. Es war schwach, kaum mehr als ein Flackern, aber es war da – ein Funke. Ein letzter Rest des Lichts, das sie einst mit Stolz und Hingabe gedient hatte. Er brannte nicht hell, und doch weigerte er sich, zu erlöschen. Es war dieser Funke, der sie dazu brachte, weiter zu kämpfen, auch wenn sie nicht mehr wusste, wie lange sie das noch konnte.

„Du kämpfst noch immer," sagte die innere Stimme nun mit einem Hauch von Spott. „Aber wozu? Du wirst fallen. Das Licht hat dich längst verlassen. Denathrius hat dir gezeigt, was wahre Macht bedeutet. Warum sich noch quälen?"

Die Schatten im Raum schienen sich zusammenzuziehen, die Dunkelheit verdichtete sich, als ob sie ihre Präsenz noch verstärken wollte. Idaia biss sich auf die Lippe, bis sie den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge spürte. Sie hatte Angst. Nicht vor Denathrius, nicht vor dem, was er mit ihr tun könnte. Sie hatte Angst vor sich selbst. Vor dem Teil in ihr, der diese Worte hören wollte, der bereit war, die Verlockung der Dunkelheit zu umarmen.

Und dann, in einem kurzen, klaren Moment, erkannte sie es. Der Kampf um ihre Seele hatte gerade erst begonnen. Alles, was sie bisher durchgemacht hatte, war nur der Anfang gewesen. Die Dunkelheit war hungrig. Sie zerrte an ihr, schlich sich in jeden Riss ihrer Rüstung, in jede Schwäche, die sie offenbart hatte. Doch der Funke war noch da. Noch immer brannte er in den tiefsten Winkeln ihres Wesens, und solange er existierte, gab es Hoffnung.

Idaia spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als Erinnerungen an die ersten Kämpfe, die sie geführt hatte, in ihrem Kopf auftauchten. Sie erinnerte sich an das Licht der Sonne, das sanft auf ihrer Haut lag, als sie als Kind auf der Wiese gespielt hatte. Der Geruch von frischem Gras, das Lachen ihrer Freunde... all das schien so weit entfernt. Sie hatte nie daran gedacht, dass das Leben so kompliziert sein könnte. Damals gab es nur Freude, Unschuld und die Gewissheit, dass sie das Gute in sich trug.

Denk an all die Seelen, die du gerettet hast", flüsterte die dunkle Stimme in ihr, als würde sie die Erinnerungen mit einem scharfen Dolch durchbohren. „Sie sind nur die ersten in einer langen Reihe. Das Licht hat dich schon lange verlassen, und du hast es genossen, das zu tun, was du tust."

Idaias Augen brannten, als Tränen der Wut und Verzweiflung aufstiegen. „Nein!",schrie sie innerlich. „Ich habe nicht nur Blut vergossen. Ich habe gekämpft, um zu überleben!"

Die Dunkelheit lachte erneut, ein schallendes, triumphierendes Gelächter, das durch ihren Geist hallte. Doch in diesem Moment des Schmerzes spürte sie auch den Funken des Lichts, das noch immer in ihr brannte. „Ich bin nicht verloren", flüsterte sie entschlossen, während die Dunkelheit versuchte, ihren Geist zu verschlingen. „Ich kämpfe um das, was ich bin."

Idaia atmete tief ein, ihre Brust hob sich schwer. Sie hatte keine Antwort, wusste nicht, ob sie stark genug war, um gegen Denathrius und seine Verlockungen zu kämpfen. Aber sie wusste, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste. Entweder würde sie weiterkämpfen –oder sie würde sich fallen lassen, in die Freiheit der Dunkelheit, die ihr angeboten wurde.

Draußen drang das gedämpfte Licht Revendreths in die Bibliothek. Es war ein trübes, schwaches Licht, das von den ewigen Dämmerhimmeln dieses Landes kam, das genauso verflucht war wie sie. Ein Land, das die Seelen der Verdammten formte, sie quälte und verzehrte.

Idaia blieb in der Dunkelheit sitzen, die Bücher vergessen, ihre Gedanken wirr. Die Dunkelheit sang ihr ein Lied, verlockend und gefährlich. Ihre Seele war ein Schlachtfeld, und der Sieg der Dunkelheit schien greifbar nah. Sie wusste, dass der Kampf jetzt begann. Der Kampf um das letzte Stückchen Licht, das sie in sich trug.

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