06: Der Abgrund des Zweifels




Idaia stand am Rande des Plateaus, das sich weit über die düstere Landschaft Revendreths erhob. Dunkle, bedrohliche Wolken zogen am Himmel entlang, durchsetzt von feurig roten Blitzen, welche die Umgebung immer wieder in ein unheimliches Glühen tauchten. Unten, weit unter ihr, schlängelte sich ein giftig aussehender Fluss, dessen Wasser träge und dickflüssig dahin wälzte, als würde er die Verzweiflung der Seelen, die in ihm ertranken, in sich tragen. Die Türme und Zinnen des Schlosses von Denathrius waren am Horizont zu erkennen, düster und majestätisch wie das Herz des Bösen selbst.

Ein kalter Wind wehte durch ihre Haare, peitschte gegen ihre Haut, aber Idaia fühlte nichts. Nicht wirklich. Sie war wie betäubt, als würde ihre Seele im Staub versinken. Ihre Augen suchten instinktiv den Himmel ab, als könnte das Licht sie von oben erlösen, doch es war, als hätte sich eine undurchdringliche Schicht Schatten zwischen sie und die Strahlen des Lichts geschoben. Sie konnte es nicht mehr fühlen. Diese schreckliche Leere, die sie umgab, war allgegenwärtig.

In der Ferne hörte sie das leise Echo von Glocken, dumpf und hohl, als ob die ganze Welt ihr den Rücken kehrte. Ein Teil von ihr wusste, dass sie nicht ewig in Revendreth bleiben konnte. Sie musste weiterkämpfen, musste den Seelen helfen, Buße zu tun, ihre Erlösung zu finden – das war doch ihre Aufgabe als Paladin des Lichts, oder nicht?

Doch... was, wenn sie sich irrte?

Sie schloss die Augen, als ein kaltes Flüstern in ihrem Geist ertönte, leise und verlockend, wie das Wispern von Blättern im Wind. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Stimmen hörte, seit sie in Revendreth angekommen war, doch heute... heute waren sie lauter. Drängender. Sie fühlte sie, wie sie durch die Luft zogen und sich um sie legten wie unsichtbare Schlingen.

„Warum kämpfst du noch, Paladin?" Das Flüstern war weich, fast freundlich, doch dahinter lag eine dunkle Verlockung. „Du kannst das Licht nicht mehr fühlen. Es hat dich verlassen."

„Nein", flüsterte Idaia heiser, doch ihre Stimme klang schwach, als ob sie selbst nicht mehr daran glaubte. Sie öffnete die Augen und blickte auf ihre Hände, die in blutbefleckten Bandagen gewickelt waren. In ihrer Verzweiflung, als sie wiederholt die heiligen Kräfte des Lichts vergeblich heraufzubeschwören versucht hatte, hatte sie unbewusst ihre Nägel in die Haut ihrer eigenen Handflächen gegraben. Jede Heilung war gescheitert, und zurück blieb nur der Schmerz – nicht nur in ihrem Hals, sondern auch in den Wunden, die sie sich selbst zugefügt hatte. Statt des heilenden Lichts hatte sie nur die kalte, leere Dunkelheit gespürt, die sie umgab wie ein Gefängnis.

„Du hast den Glauben verloren", flüsterte die Stimme weiter, sanft wie ein Liebhaber, der zärtlich die Wahrheit enthüllt. „Und das Licht weiß es. Es wird nicht zu dir zurückkehren. Du bist allein."

Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die Wahrheit in den Worten erkannte. Sie war allein. Das Licht hatte sie verlassen. Kein Funke, kein Strahl hatte auf ihre Gebete geantwortet. Was, wenn die Dunkelheit in ihr, die sie so sehr zu unterdrücken versuchte, die einzige Wahrheit war, die übrig geblieben war?

„Du könntest so viel mehr sein", fuhr das Flüstern fort. „Du könntest Stärke finden – nicht in dem vergänglichen Licht, das dich verlassen hat, sondern in den Schatten, die dich umarmen. Schau nur, wie sie dich schon beschützen."

Idaia biss sich auf die Lippen und spürte, wie ein Schauder über ihre Haut glitt. Die Schatten. Sie hatte sie gespürt, immer wieder, wie sie sich um sie legten, als sie durch die verdorrten Wälder und die nebelverhangenen Täler Revendreths gezogen war. Sie hatte den finsteren Blick von unsichtbaren Augen auf sich gespürt, das leise Kichern von Stimmen, die nicht von dieser Welt stammten und jedes Mal war da ein seltsames Gefühl in ihr gewesen. Etwas Dunkles, das nicht nur Furcht war. Etwas Verlockendes.

Ein kaltes, vertrautes Flüstern zog an ihrem Ohr vorbei, und ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Es war, als wäre Denathrius selbst in diesen Schatten – immer gegenwärtig, immer beobachtend. Und ein Teil von ihr – ein winziger, schändlicherTeil – genoss das Gefühl. Den unbändigen, unerklärlichen Nervenkitzel, den seine Nähe in ihr auslöste.

„Nein", murmelte sie erneut, aber ihre Stimme klang brüchig. Unsicher. „Das Licht wird zurückkehren... ich muss nur..."

„Du weißt, dass es nicht zurückkommen wird", unterbrachen die Schatten erneut, diesmal leiser, fast zärtlich. „Du hast seine Gnade verspielt, als du Denathrius' Berührung zugelassen hast. Aber er... er wird dich nie im Stich lassen. Er sieht in dir, was das Licht niemals sehen konnte. Stärke... Leidenschaft."

Ihre Lippen bebten, und sie senkte den Kopf. Es war wahr, oder nicht? Sie hatte den Biss von Denathrius nicht heilen können. Das Licht hatte sie im Stich gelassen, und nun war sie inmitten dieser Hölle gefangen, ohne die Kräfte, die sie immer beschützt hatten. Und Denathrius... sein Schatten war überall. Wie ein Gift in ihrem Blut, das sie nicht loswerden konnte. Vielleicht wollte sie es auch garnicht.

Ein Schauer der Scham und Schuld durchlief sie, als sie merkte, wie ein dunkler Gedanke sie heimsuchte: Was, wenn sie einfach nachgab? Was, wenn sie die Schatten akzeptierte, sich von ihnen tragen ließ? Sie könnte aufhören zu kämpfen, die Dunkelheit in sich einlassen. Vielleicht war das ihre wahre Bestimmung.

„Nein... ich bin eine Dienerin des Lichts", flüsterte sie erneut, aber ihre Stimme klang hohl, kraftlos.

„Bist  du das?" Die Schatten um sie herum schienen zu kichern, höhnisch und verführerisch zugleich. „Du hast das Licht längst verloren, Paladin. Es hat dich im Stich gelassen. Aber du musst nicht allein sein. Die Dunkelheit ist hier. Sie wird dich nie verlassen."

Die Verzweiflung, die Idaia in den letzten Tagen verspürt hatte, war überwältigend und sie spürte, wie sie die Kontrolle über ihre eigenen Gedanken verlor. Ein finsterer Teil von ihr, tief verborgen, wollte aufhören zu kämpfen. Wollte sich in die Dunkelheit fallen lassen und das Licht vergessen.

Idaia stand noch immer auf wackeligen Beinen, ihre Brust hob und senkte sich schwer, als sie einen letzten Blick auf den unheilvollen Horizont warf. Die Dunkelheit drängte immer näher, wie Wellen, die geduldig das Ufer umspülen und den Widerstand erodieren.

„Vielleicht war es immer so", dachte sie bitter. „Vielleicht ist der Kampfgegen die Dunkelheit ein endloser Kreislauf. Vielleicht ist der Preis, den das Licht verlangt, zu hoch."

Ein Schauder durchlief sie, als die Schatten erneut flüsterten, diesmal leiser, beruhigender. Sie wollten sie nicht mehr zwingen – sie boten an, sie zu umarmen. Und sie spürte, wie der Gedanke, einfach nachzugeben, immer verlockender wurde.

Du bist nicht allein. Du kannst aufhören zu kämpfen. Lass uns dich halten."

Idaia spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie ließ sich auf die Knie sinken. Ihre Hände fuhren über den kalten, steinigen Boden, als sie die Augen schloss. Der letzte Funke des Lichts in ihr flackerte, schwach und verloren. Vielleicht war dies das Ende ihres Glaubens. Vielleicht... war dies ihre wahre Bestimmung.

Doch bevor sie die Entscheidung treffen konnte, geschah etwas Unerwartetes.

Ein sanfter, kaum wahrnehmbarer Hauch von Wärme berührte ihre Wange. So flüchtig wie ein Windhauch, kaum spürbar, und doch... es war da. Idaia riss die Augen auf, ihre Tränen glitzerten im Licht der roten Blitze. Ein einzelner, schwacher Strahl Licht hatte den dunklen Himmel durchbrochen und fiel direkt auf sie.

Es war nur ein Moment. Ein Augenblick der Klarheit. Aber es reichte aus.

„Ich bin noch hier", flüsterte sie, ihre Stimme zitternd, aber entschlossener als zuvor. „Das Licht ist noch nicht fort."

Die Schatten zogen sich zurück, knurrend und wütend, doch sie verschwanden nicht. Idaia wusste, dass sie wiederkommen würden – dass der Kampf niemals wirklich enden würde. Aber jetzt, in diesem Augenblick, hatte sie ihre Antwort gefunden. Sie stand auf, schwankend, aber entschlossen, und blickte erneut in die Dunkelheit.

„Ich werde nicht aufgeben", sagte sie mit bebender Stimme, aber fest. „Nicht heute."

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