03: Schattenflüstern



Die Sonne in Revendreth schien nie wirklich zu existieren. Stattdessen wogte eine ewige Dämmerung über dem Land, als hätte die Dunkelheit selbst beschlossen, die Zeit anzuhalten. Idaia zog ihren Umhang enger um sich, die Kälte kroch ihr unter die weiße Haut und die schwache Glut des Lichts, das sie einst so sicher getragen hatte, war nun kaum mehr als ein schwaches Flimmern. Sie versuchte sich zu sammeln, ihre Hände zitterten leicht, als sie die schmale Straße entlangging, flankiert von riesigen, verkrümmten Bäumen, deren Schatten wie Hände aussahen, die nach ihr griffen.

Die Wunde an ihrem Hals schmerzte immer noch. Sie hatte seit dem Morgen mehrfach versucht, den Biss zu heilen. Sie hatte ihre heiligen Worte geflüstert, das Licht durch ihre Fingerspitzen gelenkt, doch immer, wenn sie nahe daran war, das verfluchte Mal zu schließen, schien es zu brennen, als würde das Dunkle in ihr das Heilige zurückweisen. Ein dumpfes Pochen blieb zurück, ein ständiges, unheilvolles Pulsieren, das sie quälte. Warum funktionierte ihre Heilung nicht? War sie so tief verdorben, dass selbst das Licht sie jetzt verlassen hatte? Was war mit ihr passiert?

Der Gedanke ließ eine kalte Welle der Angst durch ihren Körper rollen. Ihre Hufe klangen dumpf auf dem gepflasterten Boden, das Echo hallte durch die stillen Gassen von Revendreth, als wäre sie der einzige lebende Mensch in einem Land, das nur für Tote und Verdammte bestimmt war. Jeder Schritt war schwer und das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sie nie verlassen. Es war, als ob unsichtbare Augen in jedem Schatten lagen, immer auf sie gerichtet, immer wartend. Besonders jetzt.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie war eine Dienerin des Lichts, eine Paladin, deren Aufgabe es war, die Dunkelheit zu bekämpfen, nicht ihr zu erliegen. Doch etwas stimmte nicht. Etwas an dieser Dunkelheit fühlte sich... anders an. Nicht wie die bloße Abwesenheit von Licht, sondern wie etwas, das lebte, atmete und sie zu sich ziehen wollte. Sie... berühren wollte.

Eine Bewegung in den Schatten ließ sie erstarren. Idaia drehte den Kopf, ihre blauen Augen leuchteten im trüben Zwielicht. Niemand war dort. Nur die um sich greifenden, entstellten Bäume und die schwach leuchtenden Laternen, die durch den Nebel schimmerten. Trotzdem fühlte sie es – etwas lauerte dort. Etwas beobachtete sie. Wieder.

"Du bist nicht allein," hallte eine leise Stimme in ihren Gedanken wider, weich wie ein Flüstern, fast wie eine Liebkosung. Sie fuhr erschrocken zusammen und sah sich hektisch um. Aber da war niemand. Nur ihr eigener atemloser Herzschlag, der in ihrem Hals hämmerte.

Sie setzte ihren Weg fort, doch ihre Gedanken waren zerrissen. Die Stimme hatte sie zutiefst beunruhigt, und sie spürte, dass es etwas sehr Dunkles war, das ihren Geist berührte. Diese Präsenz war allgegenwärtig, war wie ein Schatten, der sie niemals verließ. Die Art, wie sie in jener Nacht berührt worden war – es war mehr als nur ein körperlicher Übergriff gewesen. Etwas hatte sich in ihren Geist geschlichen, in ihr Innerstes und dort einen Keim der Verzweiflung hinterlassen.

Ein unheilvolles Flüstern drang erneut durch ihren Verstand. "Warum kämpfst du? Du weißt, dass es vergeblich ist..." Die Stimme trug eine dunkle Verheißung in sich, süß wie Gift, welches langsam durch ihre Adern strömte. Sie versuchte, die Worte zu ignorieren, aber es wurde immer schwerer. Ein Teil von ihr war neugierig. Sie schauderte, denn es war ein Teil, den sie nicht kannte, ein verführerisches Kitzeln, das sie zum Nachgeben drängte. Sie fragte sich, ob das, was von ihr gewollt wurde, wirklich so furchtbar war. Warum widerstand sie?

Der Weg vor ihr öffnete sich zu einem düsteren Marktplatz, in dessen Mitte ein riesiger, verdorrter Baum stand. Von seinen Zweigen hingen Seelenlichter, kleine Kugeln aus Licht, die schlaff baumelten, als hätten sie jede Hoffnung verloren. Die Gebäude ringsum waren alt, zerfallen und hatten die düstere, gotische Pracht von Revendreth. Alles schien aus Stein und Schatten geformt und der leichte Nebel, der über den Platz zog, schien wie eine träge, dunkle Decke über allem zu liegen.

Idaia spürte eine unnatürliche Anziehung zu einem der Gebäude – ein Gasthaus, das aus dem Nebel auftauchte. Die Fenster waren mit schweren, roten Vorhängen bedeckt und ein schwaches Licht schimmerte durch die Lücken. Sie konnte nicht erklären, warum, aber sie wusste, dass sie dorthin musste. Ein Teil von ihr hoffte, dort Zuflucht zu finden. Ein anderer Teil fürchtete, was sie dort erwarten könnte.

Drinnen war es still, abgesehen vom gelegentlichen Knistern eines Feuers. Idaia setzte sich auf das Bett in ihrem Zimmer und spürte, wie die Erschöpfung über sie hinwegrollte. Der Tag war eine unaufhörliche Qual gewesen. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Denathrius, zu seiner Berührung, seiner Stimme. Und was noch schlimmer war, sie fühlte eine seltsame, ungewollte Wärme, wenn sie daran dachte. Etwas in ihr wurde neugierig. Warum schien diese Dunkelheit sie so zu reizen?

Sie zog die Vorhänge zu, die schweren roten Stoffbahnen, die das letzte Licht des trüben Himmels draußen hielten. Ihre Finger zitterten, als sie sich abwandte und langsam ihre Rüstung ablegte, die Hufe auf dem kalten Boden fühlend. Als sie ihr Nachtgewand überzog, spürte sie die brennende Stelle an ihrem Hals, die Wunde, die nicht heilen wollte.

Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Wesen zurück. Was hatte es mit ihr gemacht? Sie wusste es nicht genau, aber sie fühlte, dass er etwas in ihr geweckt hatte. Etwas Dunkles, das bisher verborgen geblieben war. Etwas, das sie nicht zulassen wollte – und doch, es war da.

Die Dunkelheit im Raum schien tiefer zu werden, als Idaia endlich ins Bett sank. Ihre Augen schlossen sich, doch es war keine Ruhe, die sie umfing, sondern ein unruhiger Schlaf. Schatten krochen wie lebendige Wesen durch ihre Träume, und in der Ferne hörte sie leises Flüstern. Es war, als würden die Wände um sie herum atmen, als wäre sie von etwas umgeben, das nur darauf wartete, dass sie schwach wurde.

Wieder spürte sie den Biss an ihrem Hals pochen. Das Flüstern kehrte zurück, süßer diesmal, verführerischer, wie eine zarte Melodie, die sich in ihrem Geist niederließ. "Du weißt, dass du es willst. Gib nach... es gibt keinen Grund zu kämpfen."

Idaias Atem wurde schneller, ihre Hände klammerten sich an die Decke, als würde sie sich an den letzten Fetzen Licht in ihrem Herzen festhalten. Doch die Kälte, die von der Wunde ausging, schien immer weiter zu wachsen, wie ein Gift, das sie langsam überwältigte.

In ihren Träumen schien eine schwarze Gestalt näherzukommen, ihre Umrisse verschwommen, ihre Augen rot und leer. Und dann hörte sie es – ein leises, tiefes Lachen, das den Raum erfüllte, als wäre es ein Echo aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele. Das Lachen war voller Macht, voll von einer dunklen Freude, die sich über sie legte wie eine schwere Decke.

Idaia wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie spürte, wie die Dunkelheit sie umarmte, als würde sie von kalten, unsichtbaren Fingern gehalten. Und tief in ihrem Herzen wusste sie – das war erst der Anfang.

Irgendwo, tief in Schloss Nathria, saß Denathrius auf seinem Thron und beobachtete. Sein Lachen hallte durch die Schatten, leise, vergnügt, während er sein neues Spielzeug beobachtete. "Bald", murmelte er, "bald wirst du mich anflehen, dich zu erlösen."

Die Dunkelheit verschlang Idaia, und in der Ferne schienen die Sterne zu verblassen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top