Kapitel 4 - Teil 2

Das Zelt ist in der Nacht kaum zu sehen; es steht zwischen einigen Bäumen, deren dichte Blätter es vor fremden Blicken schützen. Wäre ich einfach so in der Nähe vorbeigekommen, wäre es mir nicht einmal aufgefallen. Um das Zelt herum ist kein anderer Mensch zu sehen, nicht einmal die Fürstin ist noch hier. Die Hand des Kommandanten liegt die ganze Zeit auf dem Seil, mit dem er meine Hände hinter meinem Rücken gefesselt hat, so als befürchte er, ich würde einfach losrennen. Und so sehr ich das auch tun möchte, weiß ich, dass ich nicht dazu in der Lage wäre. Der Schmerz, der sich fest an meinen Körper krallt und mich so sehr schwächt, dass selbst das Gehen eine Zumutung ist, wird mir immer mehr bewusst. Der Kommandant führt mich durch den Wald, indem er viel zu nah hinter mir geht und mit einem Ziehen an meinen Fesseln die Richtung signalisiert. Das Zelt lassen wir einfach zurück. Hier stehen die Bäume so dicht beieinander, dass kaum Licht durch die Blätterdecke kommt. Nur spärlich beleuchtet es den Boden und ich muss genau aufpassen, um nicht zu stolpern. Bis auf das Knacken und Rascheln, das wir durch unsere Füße erzeugen, ist alles still. Und plötzlich trifft mich eine Erkenntnis. Diese Leute wollen keinesfalls gesehen werden, sie versuchen so wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, beginne ich zu schreien: „Hilfe!". Noch bevor ich ein weiteres Mal nach Hilfe rufen kann, zieht der Kommandant an meinen Fesseln und ich verliere den Halt. Mein Schrei wird zu einem Kreischen. Dann schlage ich hart auf dem Boden auf. Zu den unzähligen Schmerzen gesellen sich weitere hinzu. Doch ich beachte sie nicht, ich kreische einfach weiter in der Hoffnung, irgendjemand würde mich hören. Ich werde gepackt und zwei kräftige Hände umschlingen meinen Hals. Dann drücken sie zu. Mein wildes Gekreische wird zu schwachen kehligen Lauten, bis sie völlig verstummen. Ich öffne meinen Mund, will nach Luft schnappen, doch die Finger um meinen Hals lassen sie nicht durch. Ich höre nichts mehr, mein Blut rauscht wie ein rasender Bach in meinen Ohren. Mein Körper verkrampft, will sich aufbäumen, aber meine Kraft reicht nicht. In dem Moment, als meine Lider flattern und ich von der einen Dunkelheit in die andere wandere, lockert sich der Griff um meinen Hals. Gierig ringe ich nach Luft, aber auch dies wird mir verweht, als mir Stoff in den Mund gestopft wird. Ich würge. Mein Hals versucht den Stoff loszuwerden, doch es gelingt mir nicht. Während ich fast ersticke, verlangsamt sich mein Herzschlag. Meine Kraft schwindet, ich will mich wehren, schaffe es aber nicht mehr. Eine Stimme dringt zu mir durch, dumpf und weit weg. „Atme durch die Nase." Die Worte brauchen einen Moment, bis ich sie verarbeitet habe, dann aber folge ich dem Befehl. Meine Muskeln hören auf zu zucken und mein Widerstand bricht in sich zusammen, wie ein Kartenhaus. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Habe ich geglaubt, irgendjemand wäre hier und würde mich hören? Der Kommandant packt mich an meinen Schultern und stellt mich wieder auf meine Beine. Er hat mich hochgehoben, als wäre ich leichter als Stroh. Ich schwanke, sobald meine Füße den Boden berühren. Jegliche Kraft hat meinen Körper verlassen. Alles in mir ist in einen Nebel von gehüllt. „Hör auf mit dem Scheiß", knurrt er und tritt ganz nah an mich heran. „Ein nächstes Mal bin ich nicht mehr so gnädig." Seine braunen Augen funkeln drohend. „Und jetzt geh", blafft er.

Wir stapfen durch den Wald und eigentlich sollte ich Ausschau halten, versuchen mich zu orientieren, doch ich schaffe es nicht. Alles um mich herum fühlt sich weit weg an, so als würde ich das alles nicht wirklich erleben. Ich versuche zu gehen, schaffe es aber nur über der Boden zu schlurfen. Immer, wenn dem Kommandanten danach ist, gibt er mir einen groben Stoß gegen den Rücken. Jeder meiner schmerzverzerrten Laute wird von dem Stoff in meinem Mund verschluckt. Mein brennender Hals verlangt nach mehr Sauerstoff und nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten zu versuchen durch meinen Mund zu atmen.

Es kommt mir so vor, als würden wir eine Ewigkeit durch den Wald laufen, aber wahrscheinlich liegt das daran, dass ich noch nie in meinem Leben solche Schmerzen verspürt habe. Noch nie hat ein Schritt so viel Kraft gekostet. Nicht einmal als ich das erste Mal mähen musste oder unseren vollen Karren nach Meranthis zog, ging es mir so schlecht wie jetzt. Bei jeder Bewegung, so geringfügig sie auch ist, brennt mein Körper so, als stände er in Flammen.

Irgendwann wird der Wald lichter. Seit meinem törichten Versuch jemanden auf mich Aufmerksam zu machen, habe ich es nicht mehr gewagt, mich zu wehren. Es würde auch keinen Sinn ergeben, denn ich bin vollkommen wehrlos; selbst wenn ich nicht verletzt wäre, könnte ich nicht gegen den Kommandanten ankommen, nicht einmal, wenn ich den versteckten Dolch in meiner Hand hielte. Noch bevor ich unser Ziel sehe, höre ich es. Leises Geflüster, das Schnauben von Pferden und das Knarzen von Holz verrät mir, dass wir ihm ganz nahe sind. Einerseits bin ich froh, nicht mehr durch den Wald laufen zu müssen, denn ich weiß nicht, wie lange ich noch durchgehalten hätte. Andererseits graut es mir davor, zu sehen, wohin sie mich gebracht haben.

Entgegen meiner Erwartungen werde ich nicht zu einem versteckten Dorf oder einem Lager geführt, wo Fürst Jalan der Dritte über mich urteilen wird, sondern zum Waldrand. Die Gegend kommt mir nicht bekannt vor und auch Berge kann ich nur in weiter Entfernung ausmachen. Zwei Frachtkutschen und eine Personenkutsche, die von je zwei Pferden gezogen werden, stehen am Wegrand. Männer, in derselben Kleidung wie der Kommandant, drehen ihre Köpfe in unsere Richtung, als wir zwischen den Bäumen hervortreten. Ich spüre, wie ihre Blicke an mir hängen bleiben und sie mich eingehend mustern. Der Kommandant versetzt mir einen weiteren Stoß und ich humple in die Richtung der fremden Männer. Wenn ich richtig zähle, sind es neun. Die Fürstin kann ich nirgends ausmachen, aber wahrscheinlich befindet sie sich schon in der Kutsche. Wenn sie wirklich eine Fürstin ist, dann reist sie allerdings sehr unauffällig. Selbst in Meranthis habe ich schon schönere Kutschen gesehen. Sie waren aufwändig verziert und mit bunten Stoffen geschmückt, aber gehörten mit Sicherheit nicht einem Fürsten, sondern reichen Händlern oder Clanmitgliedern. Vor einer Frachtkutsche bringt mich der Kommandant mit einem Ruck an meinen Fesseln zum Stehen. Die Tür knarzt, als sie aufschwingt. In ihrem Inneren befinden sich zahllose übereinandergestapelte Holzkisten. „Knie dich hierhin. Mit dem Rücken zu mir." Der Kommandant spricht leise, aber keineswegs ist sein Ton dadurch weniger bedrohlich. Er deutet auf die Kante der Kutsche und ich folge seinem Befehl, weil ich keine Kraft dafür übrig habe, mich zur Wehr zu setzen. Ich spüre, wie er auch um meine Fußgelenke ein Seil bindet, es fest zieht und an das Seil um meine Hände knüpft. Nun kann ich mich nicht mehr bewegen. Bin gefangen und diesen Menschen hilflos ausgeliefert. Die Panik, die ich eigentlich verspüren sollte, versteckt sich hinter dem Schleier, durch den ich alles wahrnehme. Ein fester Stoß, der sich anfühlt, als wäre er die Rache für mein Geschrei vorhin, wirft mich gegen eine der Holzkisten. Die Tür wird mit einem dumpfen Knall zugeschlagen und es wird mit einem Mal dunkel. Von draußen höre ich noch einen leisen Pfiff, dann setzt sich die Kutsche ruckelnd in Bewegung. Für einen Moment muss ich beinahe lachen, so ironisch ist meine Lage. Ich bin in den Wald gegangen, habe Fallen aufgestellt, um ein Lebewesen zu fangen und am Ende bin ich selbst in eine Falle gegangen. Doch, dann wird mir der Ernst der Lage bewusst. Der Dolch, der noch an seinem Versteck ist, ist unerreichbar. Wegen der Fesseln kann ich mich kaum bewegen. Ich kann keine Stelle an meinem Körper ausmachen, die mir nicht auf irgendeine Weise weh tut. Die Fesseln sind so festgezogen, dass meine Hände taub sind und ich spüre, wie mich das Gefühl auch in den Füßen langsam verlässt. Ich habe immer gedacht, dass ich machtlos wäre, aber jetzt weiß ich, was Machtlosigkeit wirklich bedeutet. In meiner Lage gibt es nichts mehr, das ich tun könnte, um sie zu verändern. Diesmal gibt es keinen Ausweg, keine Lösung – oder gar Hoffnung – so wie sonst immer. Mein Herz verkrampft, als ich an meine Familie denke. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Werden sie mich suchen, kommen oder werden sie zu sehr damit beschäftigt sein, etwas Geld aufzutreiben? Wer hilft meinem Vater, wenn ich nicht da bin? Tränen brennen in meinen Augen und ich bin zu schwach, um sie zurückzuhalten. Ich versinke in meiner Trauer und meiner Wut. Ich habe meine Familie im Stich gelassen. Meinetwegen werden sie hungern. Die Schuld, die ich empfinde, liegt wie ein Felsbrocken auf mir, so schwer, dass ich zu zerbrechen drohe. So gut es geht, kauere ich mich zusammen und lasse alles raus, weil es keinen Unterschied mehr macht.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann habe ich die letzte Träne vergossen. Mein erschöpfter Geist versucht sich in den Schlaf zu flüchten, doch das Pochen in meinem Körper lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Die ganze Zeit sitze ich einfach nur da, weiß nicht mehr, ob meine Augen offen oder geschlossen sind. Meine Gedanken sind kreischend laut und gleichzeitig doch so grauenhaft leise. Wie ein Flüstern, das vom Wind mitgetragen wird und dann in einem Tal widerhallt.

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