Kapitel 21 - Teil 1
Als sich der feste Griff des Schlafs langsam lockert, bin ich für einen Moment völlig orientierungslos. Entweder ich bin tot oder ich habe mich auf einer Wolke schlafen gelegt; anders kann ich mir den weichen Untergrund nicht erklären. Einen Herzschlag lang verweile ich in meiner Position, bis ich unweigerlich meine Augen aufschlagen muss. Sofort durchflutet eine Welle aus Erinnerungen meine Gedanken und ich realisiere, dass ich nicht tot bin, es mir aber vielleicht wünschen sollte.
Über meinem Kopf laufen durchsichtige, violette Vorhänge zusammen, die das Bett wie ein seidener, violettfarbener Fluss aus Stoff umgeben. Ich befinde mich in einem dichten Gewirr aus warmen, weichen Laken, die sich sanft an meine Haut schmiegen, wie eine zutrauliche Katze. Mein Kopf ist in einem Kissen versunken, das weicher ist als alles, was ich jemals berührt habe.
Während ich mich langsam zwischen den Decken hervor kämpfe, höre ich ein leises Klopfen an der Tür und wenig später schwingt sie knarrend auf. „Wenn man schon anklopft, dann wartet man normalerweise darauf, bis man hereingebeten wird", zische ich in der Erwartung, dass Caelan sich zu meinen Gemächern Zutritt verschafft hat. Durch den Stoff erkenne ich allerdings eine zierliche Silhouette, die hastig hereintritt. Ich höre, wie etwas abgestellt wird und dann schnelle Schritte, die auf mich zukommen.
„Entschuldigt", ertönt eine piepsige Stimme und erst jetzt erinnere ich mich wieder an Rea, das junge Dienstmädchen, welches mich gestern Abend hier empfangen hat. Ich ziehe einen der Vorhänge beiseite. „Ich bitte um Entschuldigung, ich wollte Euch nicht wecken oder verärgern", erklärte sie mit etwas Angst in der Stimme. „Schon gut, du hast mich nicht geweckt. Ich dachte, du wärst jemand anderes", versuche ich sie zu beruhigen. „Und nenn mich Lilian, ich bin deine Höflichkeiten nicht wert", füge ich schnell hinzu, weil mir diese seltsame Anrede langsam zu viel wird. Ihre dunklen, rehartigen Augen weiten sich für einen Moment, bevor sie erschrocken, aber bestimmt ihren Kopf schüttelt. „Das geht nicht, diesen Wunsch kann ich Euch nicht erfüllen", sagt sie nur, ohne sich weiter erklären zu wollen. So als wäre dies eine unbestreitbare Regel, genauso unumgänglich wie man Luft zum Atmen braucht. Um Rea nicht weiter zu verängstigen, nicke ich und widersetze ich mir ihrer unterwürfigen Art nicht mehr. Sie wurde wahrscheinlich dazu erzogen, so zu sein; unsichtbar, ergeben und gehorsam und ich werde das nicht ändern können.
„Habt ihr Hu-", mein lauter Magen unterbricht sie, „Hunger?" Sie beendet ihren Satz und gibt respekthalber vor, das laute Grummeln meines Magens nicht mitbekommen zu haben. „Ich habe Euch Frühstück gebracht. Falls dies nicht Euren Wünschen entspricht, kann ich Euch auch etwas anderes bringen", sagt sie energisch und zeigt auf ein vollbeladenes Tablett, das auf einem verschnörkelten Tisch platziert wurde. Sofort zieht sich mein Magen mehr zusammen. Etwas hastiger befreie ich mich nun von den Laken und stehe auf.
Während ich nur mit großen Augen auf das Tablett starren kann, beginnt Rea damit, das Bett zu machen, welches ich vollkommen durcheinander zurückgelassen habe. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich das später selbst machen kann, doch ich bezweifle, dass sie auf meinen Widerspruch eingehen würde.
Ich bin ganz erstarrt von dem Überfluss, der mir angeboten wird. Brötchen, von denen noch Dampf aufsteigt, weil sie gerade erst aus dem Ofen kommen, Marmeladen aus allen möglichen Früchten, Käse, Wurst und frisches Obst – alles, was ich mir vorstellen kann, befindet sich auf dem Tablett vor mir. Davon würde meine ganze Familie satt werden.
Ich weiß nicht, wie lange ich das ganze Essen einfach nur anstarre, bis ich mich auf den Stuhl setze. Sofort taucht Rea neben mir auf, so als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet, und greift nach zwei Kannen, aus denen Dampf aufsteigt. „Hättet Ihr lieber Tee oder Kaffee?" Ihr fragender Blick trifft meinen. „Kaffee?", wiederhole ich staunend, was sie als Grund dafür nimmt, eine der Kannen wegzustellen und aus der anderen eine dunkelbraune, intensiv riechende Flüssigkeit in die verzierte Porzellantasse vor mir zu schenken. „Möchtet Ihr etwas Sahne oder warme Milch dazu?", will sie wissen und hat bereits zwei andere, kleinere Kannen in ihrer Hand. „Warme Milch?" Ich kann nichts tun, als einfach irgendetwas zu sagen.
Ich habe doch keine Ahnung, wie und ob Kaffee mir schmeckt. Meine Eltern haben stets Tee getrunken, nicht nur, weil er ihnen geschmeckt hat, sondern weil Kaffee auch etwas ist, das wir uns nicht einmal im Traum hätten leisten können.
Rea gießt etwas Milch in die Tasse, woraufhin die Flüssigkeit einen dunklen Beigeton annimmt und dann tritt sie beiseite. Neugierig greife ich nach der Porzellantasse, auf der Bäume aus hellem Holz mit leuchtenden rosa Blüten gezeichnet sind. Das Bild ist so detailliert, dass ich jede einzelne Blüte zählen könnte, doch in diesem Augenblick bin ich interessierter an der Flüssigkeit darin als an dem schönen Porzellangefäß.
Zögerlich hebe ich die Tasse an meine Lippen und der herbe Duft des Kaffees steigt mir in die Nase. Dann nehme ich einen kleinen, zurückhaltenden Schluck davon und sofort zieht sich mein Mund wegen des bitteren Geschmackes zusammen. Etwas enttäuscht stelle ich die Tasse beiseite. Irgendwie habe ich erwartet, dass dieses Getränk besser schmecken würde, wenn es doch so kostspielig und begehrt ist.
Mein grummelnder Magen lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf das vollbeladene Tablett. Für einen Moment kann ich es nur anstarren, überfordert von der üppigen Auswahl. Dann greife ich nach einem Brötchen – etwas Bekanntes, so wie zu Hause – und beginne damit zu essen. Ich probiere von allem ein bisschen. Die Früchte hier schmecken intensiver als alles, was ich je gegessen habe. So kraftvoll sind auch die verschiedenen Marmeladen – Himbeere, Aprikose, Pflaume, Erdbeere, jede habe ich einmal versucht und sie alle waren köstlich. Auch den Ziegenkäse habe ich probiert, doch die Erinnerung an Gisela, unsere Ziege zu Hause, hat ihn verdorben schmecken lassen.
Irgendwann bin ich so satt, wie noch nie in meinem Leben. Ich lehne mich zurück und lege meine Hände zufrieden über meinen Bauch. Die Schuldgefühle in meinem Hinterkopf versuche ich so gut es geht auszublenden. Was würde meine Familie sagen, wenn sie wüssten, wo ich gerade bin und wie sie mich hier behandeln? Tatsächlich war es einfacher, in Gefangenschaft mein Elend zu rechtfertigen, als diesen Luxus.
Zum ersten Mal sehe ich das Zimmer – nein, meine Gemächer, so nannte sie der König –, in dem ich mich befinde, richtig an. Neben dem Bett und dem Tisch befindet sich wie im Zimmer gestern ein ovaler Spiegel an der Wand, ein schmaler Tisch und ein Hocker ohne Lehne davor. Ebenfalls befinden sich zwei massive Schränke an einer Seite. Das Bett wird von zwei hohen Fenstern flankiert. Von hier aus überblickt man über die Nordseite des Palastes und hinter einem felsigen, tief abfallenden Abgrund erstreckt sich der Ozean, soweit das Auge reicht. Die Gärten kann man zwar nicht sehen, doch diese Landschaft ist ebenso atemberaubend.
Die knarrende Tür zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und ich wende mich wieder um. Entgegen meiner Erwartung ist Rea nicht verschwunden, sondern Caelan hereingetreten. Seine mittlerweile etwas längeren Haare stehen wild von seinem Kopf ab und sind an den Spitzen feucht.
„Guten Morgen", begrüßt er mich freudig. Sein Blick fällt auf mich und erst als seine waldgrünen Augen langsam über meinen Körper wandern, wird mir bewusst, dass ich lediglich ein weißes, beinahe durchsichtiges Nachthemd trage. Ich muss mich anstrengen, um meine Arme nicht schützend vor meinen Körper zu legen. „Schon mal etwas von Klopfen gehört", fauche ich im Versuch, mein Unbehagen mithilfe von Wut zu verbergen.
„Heute beginnt dein Training", übergeht er meine Worte, „ich hoffe, du bist bereit dafür." Ein schelmisches Grinsen schleicht sich auf seine geschwungenen Lippen. „Zieh ihr das an", er drückt Rea ein Stoffbündel in die Hände und dreht sich ohne eine Aufforderung meinerseits um, sodass er mit dem Gesicht gegen die Wand schaut.
„An deiner Stelle würde ich mich beeilen, ich werde nicht ewig so auf dich warten." Als diese Worte seinen Mund verlassen haben, bin ich bereits hastig aufgesprungen. Rea breitet die mitgebrachten Klamotten akribisch auf dem Bett aus und betrachtet sie skeptisch. Entsetzt muss ich feststellen, dass mir Caelan kein Kleid, sondern eine enge Hose aus elastischem Stoff gegeben hat und dazu ein etwas längeres, cremefarbenes Hemd, das mich sehr an die Uniformen der Initianten erinnert. „Eine Hose?", frage ich entgeistert. Reas abschätzigen Gesichtsausdrucks nach scheint sie genauso wenig von dieser Kleidung zu halten wie ich. „Ich habe doch gesagt, dass du trainieren wirst. Wenn du geglaubt hast, du würdest hier den ganzen Tag nur schöne Kleider tragen und Teekränzchen veranstalten, dann muss ich dich leider enttäuschen", erwidert er bissig und ich verkneife mir eine weitere Bemerkung.
Am schlimmsten ist das Korsett aus dunklem Leder, welches Rea mir zum Schluss um die Brust schnürt. Während das Dienstmädchen hinter mir steht und ich das Korsett mit beiden Händen gegen meinen Körper presse, dreht sich Caelan ohne einen Hauch von Zurückhaltung um.
Innerlich danke ich den Göttern, dass ich bereits vollkommen bedeckt bin. Als ich jedoch seinen aufmerksamen Blick an mir herab wandern spüre und ihm folge, ist die Dankbarkeit von zuvor wieder verschwunden. Diese Stoffhose liegt so eng an meinen Beinen an, dass er keinerlei Fantasie benötigt, sich meinen Körper darunter vorzustellen. Ich könnte genauso gut nackt sein. „Ist das wirklich nötig?", frage ich unzufrieden und verschränke meine Arme vor meiner Brust. „Ja, danach, sobald du siehst, wie dein Training abläuft, wirst du mir noch danken, dass ich dich nicht habe ein Kleid anziehen lassen", würgt er die zahllosen Beschwerden ab, die bereits auf meiner Zunge liegen.
Verzweifelt schaue ich ihn an, doch ich sehe in seinen waldgrünen Augen, dass keiner meiner Widersprüche auf offene Ohren treffen würde. Ob ich will oder nicht, diese Kleidung werde ich heute tragen müssen. Nachdem Rea meine Haare noch zu einem engen Zopf geflochten hat, verlassen wir die Gemächer und machen uns auf den Weg zu diesem Training, wobei ich mir darunter noch nicht viel vorstellen kann.
Während ich Caelan durch die hohen Flure folge, begegnen uns glücklicherweise kaum andere Menschen. Hauptsächlich kreuzen wir den Weg von gelangweilten Wachleuten, doch selbst in diesen Momenten glaube ich, ihre gierigen Blicke auf meinen Beinen zu spüren.
„Wo findet dieses Training denn statt?", frage ich ihn neugierig und gleichzeitig misstrauisch. Was wird dieses Training wohl beinhalten? Ob sie mir so ein Schwert in die Hand drücken, wie Caelan es immer auf den Rücken geschnallt hat? „Draußen", erwidert Caelan knapp. Er hätte mir auch keine Antwort geben können, da hätte ich genauso viel gewusst. „Wirst du mich trainieren?", versuche ich weitere Informationen aus ihm herauszubekommen. Ein belustigter Laut geht ihm über die Lippen und er schüttelt seinen Kopf, wobei sein dunkelbraunes Haar, das auf dem Weg wieder getrocknet ist, auf und ab wippt. Zahllose weitere Fragen gehen mir durch den Kopf, doch Caelans bisherigen Antworten nach glaube ich nicht, dass er sie mir zureichend beantworten würde. Er scheint an sich immer nur das Nötigste zu sagen und mir keine Information zu viel geben zu wollen. Ob ihm das der König befohlen hat oder ob es ihm Spaß macht, mich in Ungewissheit zu lassen, weiß ich nicht.
Sobald wir die kühlen, weißen Mauern des Palastes verlassen, umschließt mich die Sonne. Ihr warmes Licht besänftigt die Gänsehaut, die sich über meine Arme gelegt hat – ob wegen der Kälte oder den bevorstehenden Ereignissen, bin ich mir nicht sicher.
Die frische Morgenluft ist wie bei meiner Ankunft getränkt von einem blumigen Geruch und Vögel, die sich in den rund geschnittenen Büschen verstecken, singen den frühen Stunden ihr Loblied. Meine Geschwister würden sich hier wohlfühlen; Gaya würde mit Beyza Kränze aus Blumen basteln, während ich Juriso beim Fangenspielen durch die Gärten jagen würde. Das einzige Problem an der Sache: das ist der Palast des Königs und nirgendwo würde ich meine Geschwister schlechter aufgehoben wissen als hier. Dennoch erlaube ich mir dieses Bild für einen Moment, allerdings nur, um mir vor Augen zu führen, für wen ich das alles hier mache. Wenn ich mit Reichtum zu meiner Familie zurückkehre, können sie mir vielleicht meine lange Abwesenheit verzeihen.
Das Gelände um den Palast herum ist riesig. Die Gärten ziehen sich endlos lang; von hier aus kann ich nicht einmal die Mauern sehen, die das Schloss, welches sich auf einer Klippe direkt über dem Meer befindet, zur Südseite hin von der Stadt Meranthis trennen.
Auf dem Weg zu diesem ominösen Training kommen wir an Kunstwerken aus Blumen, hohen Hecken, die ein Labyrinth bilden, und Statuen aus glänzendem Stein vorbei. Obwohl ich hier von Natur umgeben bin, fühlt es sich ganz anders an als in einem Wald. Dort ist jegliches Gewächs stur und eigensinnig; widerspenstig wächst es dorthin, wohin es will, während die Pflanzen hier in Formen gezwungen werden, um den Prunk des Palastes zu untermalen. Selbst die Natur unterwirft sich dem Mynua König.
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