Kapitel 2 - Teil 1
Mitten in der Nacht entreißt mich mein Vater meinem traumlosen Schlaf. Noch bevor ich meine Augen richtig öffnen kann, ist er schon wieder durch die Tür verschwunden und ich richte mich langsam auf. Ich fühle mich nicht wirklich ausgeruht. Bilder der Skauk von gestern haben mich noch im Traum verfolgt. Ihre Worte und das Klirren der unzureichenden Goldmünzen wiederholten sich wie ein endloses Echo in meinem Kopf. Selbst mein Körper scheint den vergangenen Tag noch nicht überwunden zu haben, denn jede meiner Bewegungen straft er mit spitzen Schmerzen. Darauf bedacht, meine Geschwister nicht zu wecken, greife ich nach meinem Kleid und husche aus dem dunklen Zimmer. Mein Nachthemd lasse ich neben dem kalten Steinofen in unserer Kochstube liegen und schlüpfe schnell in mein Kleid. Mein Vater hat schon unsere Taschen gepackt und befindet sich in der Mühle. Draußen herrscht noch tiefe Nacht. Der Marsch nach Meranthis ist weit, wir müssen uns so früh auf den Weg machen, damit wir den morgendlichen Trubel in der Stadt nicht verpassen. Außerdem ist es angenehmer, in der kühlen Finsternis diesen Weg zu gehen, als wenn die Sonne ihre volle Kraft entfaltet. Eine wohltuende Brise zerrt an meinen Zöpfen, während ich zum Brunnen gehe. Das Quietschen des sich drehenden Balkens hört sich in der Ruhe der Nacht noch viel lauter an als sonst und jagt mir eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken. Ich befülle unsere Botas und mit dem restlichen Wasser versuche ich mir den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen. Meinen Shemagh binde ich mir nur um den Kopf, noch muss ich mich nicht vor der Hitze der Sonne schützen. Sobald das getan ist, wecke ich voller Widerwillen Gisela. Ohne Mina im Gehege wirkt es so leer, so verlassen. Während ich Gisela melke, höre ich, wie mein Vater unseren kleinen Karren belädt. Sobald ich fertig habe, befülle ich ein Fass mit der Milch und verschließe es mit einem Korken. Als ich um die Ecke biege, wartet mein Vater bereits auf mich. Wie ich hat er seinen Shemagh nur halb um den Kopf gebunden. Auf dem Karren befinden sich zwei Säcke Mehl und ein großer Lederbeutel, darin die Stickereien meiner Großmutter und weitere Kleinigkeiten, die wir verkaufen. Mit dem kleinen Fass, das ich noch darauf abstelle, ist er der Karren voll beladen und mit Sicherheit schwer genug. Ich reiche meinem Vater seinen Bota, als er einen kleinen Dolch hervorzieht und ihn mir entgegenhält. Ich nehme ihn wortlos an und schiebe ihn unter meinen V-Ausschnitt, wo sich auf der Innenseite des Kleides zwischen Brust und Achselhöhle eine versteckte Schlaufe befindet. Danach ziehen mein Vater und ich uns das Ledergerüst über, an dem der Karren mit dicken Seilen befestigt ist, und machen uns auf den Weg.
Wir wandern Richtung Südosten, genau dorthin, wo am Horizont die Gebirgskette zu Hügeln abflacht. Durch diese Berge führt kein Tal, weshalb wir um sie herumlaufen müssen. Der Weg bis zu den Bergen ist beschwerlich, aber noch der angenehmste Teil der Reise. Denn danach müssen wir den Karren über eine steile und steinige Straße ziehen und ihr so lange folgen, bis sie sich teilt und wir den linken, wieder einen steilen Hügel hinaufführenden Weg nehmen müssen. Meranthis ist wie die Hauptstadt Rostak in die Berge hineingebaut. Die Stadt befindet sich am nördlichen Ende der Ornyden, eines der beiden größten Gebirge in Grakok. Die Ornyden ziehen sich von Norden nach Süden, während die Torniten, die Gebirgskette im Süden Grakoks, sich von Westen nach Osten erstreckt und eine natürliche Grenze zu Adurra, dem Gebiet des Ternox Clans darstellt. Doch auch das restliche Land ist hier von Hügeln und kleineren Bergketten durchzogen, denn Torian selbst hat es nach seinen Wünschen geformt. Unser Haus und Feld befinden sich noch weiter im Norden als Meranthis, in einem breiten Tal umgeben von einer – im Verhältnis zu den Ornyden – kleinen Bergkette. Im Gleichschritt laufen mein Vater und ich nebeneinander. Das Rattern der Räder auf der steinigen Straße und unser andauernder lauter Atem sind wie eine Melodie, die uns begleiten. Unser Frühstück nehmen wir im Gehen zu uns. Mit dem trockenen Stück Brot von gestern bin ich lange beschäftigt. Es ist zwar zäh und kaum genießbar, aber es füllt den Magen und das ist das Einzige, was zählt. Die Nacht wird mit jedem Atemzug etwas heller und ich spüre bereits, wie sich die Luft erwärmt. Die Lederriemen des Karrens schneiden unangenehm in meine Haut, während wir pausenlos den Hügel hinauf stapfen. Meine Muskeln brennen bei jedem Schritt, den ich mache und das Einzige, was mich davon abhält, einfach hinzufallen, ist der Gedanke an Gaya, wie sie voller Hoffnung immer weiter macht, ohne sich unterkriegen zu lassen. Auf unserer linken Seite befindet sich ein karger Wald, der nach Osten hin immer dichter wird und sich über die gesamte Küste im Nordosten erstreckt. Dort ist die Landschaft flacher als bei uns zu Hause und bis auf wenige Viehhöfe unbewohnt. Die meisten Menschen leben in den Städten und Dörfern nahe den Bergwerken, weil dort am meisten Arbeit ist. Die Skauk hassen flache Landschaften, weshalb die großen Städte in der Nähe von Bergen oder direkt in sie hinein gebaut wurden. Wortlos folgen wir der Straße, die neben der Waldgrenze entlangläuft, bis sie nach links teilt und wir dorthin abbiegen. Der Weg ist etwas schmaler und verläuft in Kurven durch den dichten Wald und führt nach oben, Richtung Meranthis. Die letzten Schritte, bis wir die Höhe von Meranthis erreicht haben, fallen mir schwer. Immer wieder droht das Gewicht, die Überhand zu übernehmen und mich nach hinten zu reißen. Doch ich stemme meine Füße einfach fester in den Boden und lehne mich so weit nach vorne, dass ich mit der Nasenspitze fast den steinernen Untergrund berühre. Ständig blicke ich auf, um mich zu vergewissern, dass ich nicht mehr lange durchhalten muss. Nachgeben ist keine Option und wird es auch niemals sein. Als sich langsam die Spitzen der hohen Türme des inneren Rings von Meranthis im Gestein abzeichnen, weiß ich, dass wir es fast geschafft haben. Schwer atmend komme ich zum Stehen und hole ich meinen Bota hervor. Mein Mund ist staubtrocken und wenn ich nicht hier und jetzt zusammenbrechen will, brauche ich unbedingt Wasser. Hinter den Bergen leuchtet der Himmel in einem hellen Gelb, ein Vorbote für einen weiteren heißen Tag. Glücklicherweise wird Meranthis von den Bergen der Ornyden geschützt, sodass die ersten Sonnenstrahlen erst relativ spät die kalten Steinmauern der Stadt berühren. Die spitzen Berggipfel ragen wie eine Krone aus Stacheln über Meranthis empor. Selten gewähren sie einem den Blick auf sie, meist werden sie von Nebelschaden umringt, doch heute ist der Himmel wolkenlos. So als wolle Torian, der Schutzgott des Skauk Clans – unser Schutzgott, erinnere ich mich – mich einschüchtern. Jedes Mal fasziniert mich das enorme Schloss, das in den Hang des Berges geschlagen ist, aufs Neue. Es besteht aus demselben dunklen, fast schwarzen Gestein wie die Bergkette dahinter und liegt erhaben über der restlichen Stadt. Ich kann nur die spitzen Türme des Schlosses erkennen, denn alles darunter wird von einer dicken und imposanten Steinmauer umgeben. Meranthis besitzt zwei Stadtmauern, die Innere, welche das Schloss umgibt und die äußere, welche die Stadt vor Angreifern schützt. In einem Halbkreis umschlingt sie die ganze Stadt. Wachtürme, ich kann mindestens vier erkennen, ragen aus der kalten Mauer. Sie sind nach Torians Abbild geformt. Der Gott sieht aus wie ein Mensch mit einem Stierkopf. Mit einer Hand hält er eine Axt gen Himmel, während er die andere flach an seine Brust hält und die Aussichtsplattform der Soldaten bildet. Spätestens jetzt würde jeder wissen, wer diese Stadt erbaut hat. Nur Mitglieder des Skauk Clans können so etwas erschaffen. Beeindruckend und einschüchternd, nur so kann man diese Stadt beschreiben. Sie ist der beste Beweis der Überlegenheit der Clans. Kein normaler Mensch könnte etwas erbauen, das dieser Mauer – und schon gar nicht dem Schloss – ebenbürtig ist. Auch wenn ich das Schloss nie in seiner Gänze gesehen habe, denn die inneren Stadtmauern versperren die Sicht darauf, ist allein der obere Teil davon so atemberaubend, dass auch der Rest mindestens so imposant sein muss.
Wir ziehen unseren Karren die steinerne Straße entlang zum riesigen Stadttor. Die zwei Skauk Wachen dort beachten uns nicht einmal, als wir an ihnen vorbeigehen. Trotzdem lasse ich meinen Blick gesenkt. Für einen Moment schießen mir die Gesichter der drei Clanmitglieder durch den Kopf, die uns überhaupt dazu gebracht haben, hierhin zukommen. Kaum habe ich einen Fuß in das Stadtinnere gesetzt, umgibt mich Trubel. Die verschiedensten Menschen eilen an uns vorbei, Kinder schreien laut herum und Hufe klappern auf dem steinernen Untergrund. Es ist, als hätten wir ein Tor zu einer anderen Welt betreten. Ich kann die Male, an denen wir in Meranthis waren, an einer Hand abzählen. Aber egal, wie oft ich hier herkomme, ich werde mich wahrscheinlich nie daran gewöhnen. Zu Hause ist es immer ganz still, man hört nur das Rascheln des Getreides, das Pfeifen des Windes oder die Rufe der Vögel. Das hier ist das völlige Gegenteil. So viele Menschen leben auf so engem Raum beieinander. Dementsprechend riecht es hier auch. Die Luft hier ist abgestanden und steht völlig still. „Trödel nicht", mahnt mein Vater mit lauter Stimme, um sich zwischen den zahllosen Geräuschen zu behaupten. Wir ziehen unseren kleinen Karren die Hauptstraße entlang und versuchen so gut es geht, den vielen Menschen auszuweichen. Die Häuser hier sind eng aneinander gebaut, die Dächer aus Stroh und das Holz bereits morsch. Hier leben keine Clanmitglieder, die würden nie in einem Haus leben, das nicht aus Stein ist. An den äußeren Grenzen der Stadt lebt die unterste Schicht der Bevölkerung. Aus manchen Gassen strömt ein Geruch nach Fäulnis und Fäkalien, der mir Tränen in die Augen treibt. Doch je weiter wir uns in das Innere der Stadt hineinwagen, desto eindrucksvoller werden die Häuser, Holz und Stroh weicht Stein und buntem Glas. Die Gesichter der Menschen sind nicht so eingefallen wie noch am Anfang der Stadt, und sie tragen immer aufwendigere Kleider. Hier strömt aus manchen offenen Türen ein so köstlicher Duft, dass mein Magen verkrampft. In den Gaststätten wird bereits jetzt für die Mittagszeit vorgekocht und mit jedem Schritt läuft mir das Wasser im Mund mehr zusammen.
Auf dem Marktplatz sind überall Stände aufgebaut; einige Händler haben sie bereits dekoriert und präsentieren ihre Waren. Zwischen den Tischen hätte man keine Übersicht, wo man sich befindet, stände die Statue von Torian nicht in ihrer Mitte. Er ist hier in der Stadt überall abgebildet; als Statue, eingemeißelt in Wände oder seine Silhouette auf edlen Stoffen in Rot und Schwarz. Der Gott mit dem Stierkopf steht auf einem Podest in einem großen Brunnen in der Mitte des Platzes. Nicht so ein Brunnen, wie wir ihn haben; das Wasser muss nicht mit Seil und Eimer hochgezogen werden, sondern es fließt unter seinen Füßen hervor und umringt ihn, wie ein Schutzwall. Torian überragt uns alle, seine Axt reckt er gen Himmel und sein kämpferischer Blick fällt zu Boden, so als ob er überlegt, aus seiner Starre zu erwachen und die Stadt in Schutt und Asche zu verwandeln. Der Marktplatz ist riesig – viel größer als unser Getreidefeld und wird von hohen, aus stein gebauten, Häusern umringt. Doch wegen der vielen Menschen fühlt es sich hier klein und eng an. Wir halten uns am Rand des Platzes, damit wir mit dem Karren einfacher durchkommen. „Warte hier", befiehlt mein Vater. Er drückt mir das Ledergerüst des Karrens in die Hand und verschwindet in das Innere der Marktverwaltung. Dort bekommen wir einen Stand zugeteilt. Noch müssen wir nicht dafür bezahlen, erst wenn der Markt am Abend schließt, werden sie kommen und sich ihren Teil von unserem Geld nehmen. Während ich auf ihn warte, wende ich mich der Nachrichtenwand zu. Das Pergament, das daran befestigt ist, wurde mit feinen Linien verziert, manches ist an den Ecken abgeknickt und vergilbt, während anderes noch in hellem Weiß strahlt. ‚Alljährliche Aufnahmeprüfung: beweise deine Stärke vor den Göttern und werde Mitglied' , steht in großen Buchstaben auf einem davon. Darunter prangt eine elegante Zeichnung der schwarzen Silhouette Torians mit seiner roten Axt in der Hand. ‚Anmeldung erfolgt im Schloss Meranthis', steht etwas weiter unten, in kleiner, schnörkeliger Schrift geschrieben. An mich richtet sich diese Nachricht nicht. Göttliche Kräfte, so nennen sie ihre zerstörerischen Fähigkeiten, die sie von den Göttern erhalten haben. Die Kräfte der Mitglieder eines Clans sind alle miteinander verwandt und gehen auf ihren Schutzgott zurück. Aber keiner von ihnen kann alle Ausprägungen einer Kraft anwenden, so wie es die Götter tun können; jeder hat nur eine besondere Fähigkeit erhalten. Noch bevor ich die anderen Meldungen betrachten kann, steht mein Vater wieder neben mir. „Siebenundvierzig", brummt er und hält ein unterschriebenes Blatt mit der Nummer unseres Standes in die Luft. Während mein Vater die bemalten Steine an den Kanten der Tische nach der richtigen Nummer absucht, versuche ich mich mit dem Karren so gut wie möglich zwischen den Ständen und Menschen vorbeizuzwängen. Immer wieder werfen mir Passanten mit aufwendigen Kleidern funkelnde Blicke zu, wenn ich ihren Weg kreuze und sie stehenbleiben müssen. Auch wenn wir nur einen kleinen Stand haben, ist die Lage nicht einmal unvorteilhaft; wir sind genau an der Ecke einer schmalen Gasse. Das Holz des Tisches sieht so alt und morsch aus, dass ich befürchte, er könnte unter unseren Waren zusammenbrechen. Aber welche andere Möglichkeit bleibt uns? Wenn wir auf dem Markt nichts verkaufen, dann können wir die Abgaben nicht bezahlen.
Ich breite ein Stofftuch, das ich um meine Schultern gelegt habe, über der Holzplatte aus und verteile unsere Waren darauf. Heute verkaufen wir Ziegenkäse, Brot, getrocknetes Nacrongras, Himbeeren, Mehl, Giselas Milch und die Stickereien meiner Großmutter. Einen Teil der Güter lege ich in Tonschalen, die ich auf dem Tisch verteile, während ich den Rest in ihren Beuteln lasse. Als ich alles vorbereitet habe, stelle ich mich neben meinen Vater. „Komm, nimm deinen Shemagh ab", meint er. Verwirrt betrachte ich ihn. „Vielleicht können wir dadurch zahlungsfreudige Kunden anlocken", fügt er schnell hinzu. „Wenn du ein hübsches Mädchen brauchst, um etwas zu verkaufen, hättest du Gaya mitnehmen sollen", antworte ich tonlos, schiebe meinen Shemagh aber trotzdem von meinen Zöpfen und zwinge mich zu einem Lächeln. „Das ist wohl wahr", gibt er mir recht, „aber den Karren kann sie selbst mit ihrer Schönheit nicht ziehen." Für einen Moment ist mein Lächeln nicht gestellt, sondern wirklich ehrlich. An Gayas Schönheit würde ich wahrscheinlich nie herankommen, aber ich bin stark.
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