Kapitel 13 - Teil 1

Die letzten Tage sind gleichzeitig sehr schnell, aber irgendwie auch unheimlich langsam vergangen. Seit wir in Richtung des Tempels aufgebrochen sind – so habe ich es jedenfalls aus den Gesprächen meiner Entführer herausgehört – wird mir die Entfernung zu meiner Familie immer mehr bewusst. Es kommt mir so vor, als wären Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, obwohl es gerade einmal ein Mond her ist, seit ich in diesen verfluchten Wald gegangen und in die Falle der Obritari gestolpert bin. Hätte ich das alles, was seitdem geschehen ist, nicht am eigenen Leib erlebt, würde ich es mir selbst nicht glauben.

Ich, Lilian Ager, die Tochter eines Bauern, wird von den Söhnen der wahrscheinlich höchstrangigen Mynuas gefangen gehalten, weil sie glauben, ich besäße eine längst ausgelöschte Gabe. Selbst die Geschichten meines Großvaters waren realistischer als diese Situation. Der Teil mit der Gabe ergibt für mich immer noch keinen Sinn und je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich glauben, dass ich sie wirklich besitze. Wäre ich eine Eterin, dann wäre mir das früher aufgefallen. Ich hätte meiner Familie helfen und unser Feld wachsen lassen können, aber ich habe es weder damals gekonnt noch kann ich es heute.

Das bringt mich allerdings zu einem weiteren Problem, nämlich der Tatsache, dass wir uns gerade auf dem Weg zum Tempel befinden. Ich kann mich noch ganz genau an Ashs Worte erinnern, als sie mich gefangen genommen haben: ‚Sobald wir im Tempel sind, wissen wir es mit Sicherheit. Wenn wir uns täuschen, ist sie tot.' Das bedeutet, ich muss einen Weg finden, um zu fliehen, noch bevor wir den Tempel erreichen.

Die letzten Tage habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es schaffe unbemerkt abzuhauen, aber bisher ist mir noch keine Lösung eingefallen. Sie lassen mich wirklich keinen Herzschlag lang aus den Augen. Selbst jetzt, während wir über diese ebene Fläche wandern, geht Caelan vor mir, das Seil meiner gefesselten Hände fest in seiner Hand und Phan befindet sich hinter mir, sein aufmerksamer Blick in meinem Rücken. Ich habe keinerlei Möglichkeit zur Flucht und langsam geht mir die Zeit aus. Lange kann die Reise bis zum Tempel nicht mehr dauern, denn der Mond hat fast wieder seine volle Größe angenommen und Caelan meinte, dann würde die Aufnahmeprüfung enden.

Wir wandern bereits seit vier Tagen, das spüre ich nicht nur in meinen Beinen, sondern erkenne es auch an der Umgebung. Im Gegensatz zu dem Ort, wo ich angespült wurde, befindet sich hier kein dichter Dschungel mehr. Im Westen ist das Land flach und erstreckt sich weiter als ich sehen kann. Tiefwachsende Büsche und hohes Gras in den verschiedensten Grüntönen zieren die endlose Landschaft, nur vereinzelt ragen Bäume aus dem Boden. Wir wandern direkt neben einer grün bewachsenen Felswand, die gerade wie eine Wand in den Himmel ragt. Nach Osten hin – hinter der Felswand – wächst die Landschaft zu einem Gebirge an. Das Gebirge sieht allerdings nicht so aus wie in Grakok, wo die Berge langsam anwachsen und an ihren Gipfeln karg und grau sind. Hier ist alles grün und die Felswände sind so steil und gerade, dass sie fast so aussehen, als wären sie von Menschen gemacht – oder vielleicht von den Göttern. Sie sollen von hier aus unsere Welt geschaffen haben, vielleicht kann man ihre Spuren wirklich noch sehen.

Die Götter waren für mich immer nur Geschichten; ich wusste zwar, dass sie existieren, aber sie haben keine Rolle in meinem Leben gespielt – und tun es eigentlich immer noch nicht. Aber ich erwische mich in letzter Zeit immer öfter dabei, an sie zu denken. Manchmal verfluche ich sie dafür, in diese Situation gekommen zu sein und manchmal frage ich mich, ob und warum sie diesen Weg für mich bestimmt haben. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, denn in letzter Zeit ist so viel geschehen, das mich in meinen Grundfesten erschüttert hat, dass auch dies zu meiner plötzlichen Gottesfurcht führen hätte können. Über Silva, den Gott des Waldes, von dem ich diese angebliche Gabe habe, weiß ich ebenso wenig wie über den Eteren Clan. Mein Großvater hat nie Geschichten über die Etere erzählt; immer wenn Gaya und ich ihn darum gebeten haben, meinte er nur, dass sie ihre Gaben dem Wald geschenkt haben, damit er ihr Land beschützt. Seitdem seien sie verschwunden und nie wieder gesehen worden.

Die Sonne hat ihren Zenit bereits überwunden, trotzdem ist ihre Hitze unerträglich. Da sich die Felswand östlich von uns befindet und das Land im Westen flach ist, haben wir keinen Schatten und wandern seit Stunden in der prallen Sonne. Meine Beine fühlen sich bleischwer an und bei jedem Schritt, den ich mache, glaube ich, den nächsten nicht mehr zu schaffen. Doch irgendwie gelingt es mir, meine zitternden Beine immer wieder anzuheben. Der Schweiß sammelt sich bereits unter meinem Kleid und klebt unangenehm an meiner Haut. Obwohl ich mir meine Erschöpfung nicht anmerken lassen will, kann ich mein lautes Keuchen nicht unterdrücken.

Ich habe immer gedacht, die Wanderung nach Meranthis wäre herausfordernd, aber zu dem hier, ist das ein Katzensprung. Das einzig Gute ist, dass ich hier keinen Karren mitschleifen muss. Obwohl so gut ist das dann auch wieder nicht, denn ich würde alles dafür geben jetzt bei meinem Vater zu sein und einen vollen Karren nach Meranthis zu schleppen. Auch wenn die Luft in Baleros feuchter ist als zu Hause, ändert das nichts daran, wie kräftezehrend diese Reise ist.

Ein Zittern im Boden reißt mich aus meinen Gedanken und ich sehe mich verwirrt um. Die anderen scheinen es ebenfalls gespürt zu haben, denn sie sind auch stehen geblieben. Es erinnert mich an damals, als ich mit meinem Vater in Meranthis war und eine Mine eingestürzt ist; der Boden hat so gewackelt, dass ich fast umgefallen wäre. Caelans waldgrüner Blick bohrt sich in meinen, als ich mich zu ihm drehe. Seine Stirn liegt in Falten und er sieht mich fragend an, so als hätte ich dieses Beben ausgelöst.

„Was war das?" Phans helle Stimme ertönt hinter mir. Er spricht genau das aus, was mir auch durch den Kopf geht. „Ich.."- beginnt Caelan, doch seine Stimme bricht mitten im Satz ab, als ein ohrenbetäubendes Knacken ertönt. Keinen Herzschlag später erzittert der Boden wieder. Diesmal stärker. Ich taumle. Ein Geräusch – es klingt wie ein Schaben oder Kratzen, ist aber viel zu laut dafür – erfüllt die Luft. „Bei Lessuro", flucht Ash aufgebracht und als ich meinen Blick zu ihm wende, verstehe ich auch warum. Keinen Schritt vor ihm wächst ein Felsbrocken aus dem Boden und wird immer größer.

Was passiert hier? Wie von allein sehe ich zu Caelan; er wird mir erklären können, was das ist. Aber dieser starrt mit weit aufgerissenen Augen an mir vorbei und als ich seinem Blick folge, ist ein zweiter Felsbrocken direkt hinter Phan aufgetaucht, welcher ebenso immer größer wird.

„Wir müssen hier weg." Erhebt sich Zerans Stimme über das laute Beben der Erde. Er ist der erste von uns, der versteht, was in diesem Moment geschieht. Die Felsbrocken vor und hinter uns versperren uns den Weg nach vorn oder zurück. Die riesige Felswand, an der wir zuvor entlang gewandert sind, bildet jetzt die dritte Wand, sodass uns nur noch ein Ausweg bleibt.

Plötzlich verstummt das Geräusch und auch die Felsbrocken bleiben stehen; mittlerweile sind sie zwei Mann hoch. „Das glaube ich nicht", mischt sich eine unbekannte Stimme ein. Ich reiße meinen Blick von dem Fels, der einfach aus dem Nichts erschienen ist, und fahre herum. Zwei großgewachsene Männer mit breiten Schultern versperren uns den Weg. An ihrer Brust und ihren Schultern ist ein Geflecht aus Metall in ihre Kleidung eingewebt. Trotz ihrer kantigen Züge und des strengen Ausdrucks erkenne ich, dass sie ebenfalls sehr jung sind und wahrscheinlich nicht älter sind als meine Entführer. Das müssen andere Anwärter sein. Mein Herz macht einen Satz, sobald der Groschen bei mir fällt. Skauk. Wir werden von Anwärtern des Skauk Clans angegriffen. Wie von allein weiche ich so weit zurück, bis ich die von der Sonne erwärmte Felswand in meinem Rücken spüre.

„Was wollt ihr?", knurrt Zeran. Die Streitaxt, die er sonst immer um den Rücken geschnallt hat, liegt jetzt in seiner Hand. Das Licht der Sonne spiegelt sich angriffslustig in der eisernen Klinge. Der Mann, mit tiefschwarzen, kurzen Haaren und dem ebenso dunklen Bart, greift ohne seinen Blick von uns zu nehmen auf seinen Rücken. Als ich erkenne, was er hervorholt, verkrampft mein Magen. Ein Hammer. Der Griff länger als mein Arm, der Kopf des Hammers größer als der Kopf einer Ziege und die gesamte Waffe besteht aus dunklem Metall. Als mein Blick auf den Mann neben ihm fällt – sein Gesicht ebenso emotionslos wie das des anderen und sein braunes Haar kürzer als ein Fingernagel – hält dieser ebenfalls eine Waffe in der Hand. Ein Schwert aus demselben dunklen Metall wie der Hammer.

Das Seil meiner Fesseln rutscht Caelan aus der Hand und landet neben seinen Stiefeln. Wie unser Angreifer zuvor zieht er ebenfalls sein Schwert. Das helle Geräusch, das dabei ertönt, lässt mir die Haare auf meinen Armen zu Berge stehen.

Der Mann mit dem Hammer macht einen Schritt auf uns zu. Sofort spannt sich Caelan vor mir an. Er geht etwas in die Hocke. Mit zwei Händen umklammert er den Griff seiner Waffe, dabei treten seine Adern und Muskeln hervor. Er könnte jeden Moment angreifen. „Rache", zischt der Schwarzhaarige. Seine verengten Augen huschen über unsere Gesichter. Für einen Moment bleibt er an mir hängen und zieht die Augenbrauen zusammen, doch nur kurz, denn dann wandert sein Blick zur anderen Seite. In Richtung von Zeran und Ash.

„Du hast ihn getötet." Jetzt ist seine Stimme laut, fast vorwurfsvoll. „Du wirst der Erste sein, der stirbt", fügt er bedrohlich hinzu. Seine Zähne sind gebleckt, so als würde er gleich zubeißen. Er fokussiert Zeran, so als wäre kein anderer von uns hier. Ich muss kein Gefühlsmanipulator sein, um zu wissen, dass er wütend ist.

„Da musst du schon etwas genauer sein. Wir haben viele getötet", mischt sich Ridge ein. Sein Ton ist dabei so entspannt, als würde er über etwas Belangloses wie das Wetter reden. Der Blick des Schwarzhaarigen schnellt zu ihm herum. Wütende Röte steigt ihm ins Gesicht. Er öffnet seinen Mund, um zu antworten.

Doch plötzlich ruckt sein Kopf zur Seite. Seine Haut nimmt eine dunkelgraue Farbe an. Noch bevor ich mich fragen kann, was hier geschieht, fliegt etwas durch die Luft. Der Gegenstand, den ich jetzt als Dolch identifiziere, zielt genau auf seinen Brustkorb. Obwohl er den Dolch sieht, weicht er bis zur letzten Sekunde nicht aus.

Jetzt ist er tot, denke ich mir noch, doch, anstatt dass der Dolch sich in sein Fleisch bohrt, prallt er einfach ab und fällt zu Boden. Wie kann das sein?

Für einen Moment ist es totenstill. Ich blicke zu Ash, der schon einen weiteren Dolch in der Hand hat. Danach sehe ich zu dem Schwarzhaarigen, dessen Haut immer noch grau schimmert, Zorn verzerrt sein Gesicht. Ich verstehe immer noch nicht, wie das möglich sein kann, doch dann geht alles viel zu schnell, um mich diesen Fragen zu widmen.

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