Kapitel 1 - Teil 1
Wie in Trance führe ich die immer gleiche Abfolge an Bewegungen aus; ein paar Schläge mit der Sense gegen das fast mannshohe Weizen und zwei Schritte nach rechts. Raschelnd fällt das Getreide zu Boden. Mit jedem Hieb, den ich mache, brennen meine geschundenen Muskeln mehr. Schwer atmend ziehe ich die heiße, trockene Luft in meine Lungen. Für einen kurzen Moment halte ich inne, erwache aus dem hypnotischen Zustand, in dem ich mich befinde, und sehe mich um. Das noch vor mir liegende Feld, und somit auch die Arbeit, ist schier unendlich. Auch die Sonne ist nicht viel weiter gewandert, seit ich das letzte Mal eine kurze Pause eingelegt habe. Langsam atme ich tief ein und aus und versuche meine zitternden Muskeln zu beruhigen. Die Erntezeit war schon immer hart, denn genau zur Sommersonnenwende, dann, wenn die Tage am längsten und heißesten sind, beginnen wir mit dem Mähen. Aber dieser Sommer kommt mir noch unnachgiebiger vor als der letzte. Ich ziehe mir meinen Shemagh, ein dünnes Tuch, welches ich mir um den Kopf und das Gesicht gebunden habe, unter mein Kinn und hole meinen Bota, einen ledernen Trinkbeutel, hervor. Das Wasser darin ist so heiß wie Tee und schmeckt abgestanden. Hinter mir höre ich wie Juriso, mein einziger Bruder, die von mir abgetrennten Ähren zu Bündeln zusammen stockt. Wie ich, hat er einen Shemag um seinen Kopf gewickelt, sodass ich nur seine grünbraunen Augen sehen kann und seine von der Sonne gebräunten Hände, die zielgerichtet über den Boden huschen und alles zusammensammeln, was er findet. Er trägt eine alte, abgenutzte Leinenhose und ein weites langärmliges Hemd, dessen weiße Farbe schon lange vergilbt ist. Er ist erst zehn Jahre alt, das zweitjüngste Kind unserer Familie, trotzdem arbeitet er hart, viel härter als ich früher. Juriso musste schneller erwachsen werden als Gaya und ich. Als zuerst unsere Mutter und dann ein Jahr später unser Großvater starb, mussten wir alle umso härter arbeiten, um genug zu essen zu haben und die Abgaben bezahlen zu können. Ich mache noch einen Schluck von dem warmen Wasser und hänge mir meinen Bota wieder um. Mit einem Kopfschütteln verbanne ich meine deprimierenden Gedanken und sehe mich um. Mein Vater hat schon einen viel größeren Teil des Feldes gemäht als ich und arbeitet sich stetig weiter. Gaya, sie wurde nur zwei Jahre nach mir geboren, und meine Großmutter folgen ihm, stocken wie Jursio die Ähren auf und binden sie zu dicken Bündeln. Keiner von ihnen hebt seinen Blick. Mit gekrümmten Rücken verrichten sie die zehrende Arbeit. So wie wir es schon immer getan haben. Seit Generationen, vielleicht schon seit diese Welt existiert, beackert meine Familie diesen Ort. Beyza, meine jüngste Schwester, läuft über das bereits gemähte Feld und sammelt hin und wieder für Juriso oder meine Großmutter und Gaya ein paar liegengebliebene Ähren auf. Noch kann sie diese Zeit genießen, sie ist erst vier Jahre alt und hat noch nicht die Kraft viel zu arbeiten, doch wie ich es am eigenen Leib erfahren durfte, geht diese Zeit immer schneller vorbei, als man glaubt. Als sich Juriso hinter mir räuspert, weiß ich, dass es nun wirklich Zeit ist weiter zu machen. Mit einem tiefen Luftzug hebe ich meine Sense und versinke wieder in der Routine. Atemzug für Atemzug schlage ich gegen das Weizen, während die Sonne den Himmel entlang wandert. Ich lasse mir keinen Herzschlag Zeit, um über meine schmerzenden Muskeln nachzudenken, sonst würde ich es nicht schaffen zu arbeiten, bis die Sonne untergeht.
Als endlich der erlösende Pfiff meines Vaters ertönt, atme ich erleichtert aus. Erschöpft lasse ich die Sense fallen und strecke meinen verkrampften, in wenigen Bewegungen festgefahrenen, Körper. Ich genehmige mir nur eine schnelle Trinkpause, dann stocke ich die Bündel gemeinsam mit Juriso aufeinander, sodass sie ein hausartiges Gebilde formen. Obwohl es fast nie regnet, knicken wir die oberen Ähren so ab, dass sie wie ein Dach herunterlaufen und das darunterliegende Getreide bei einem Schauer schützen würden. Das hat aber noch einen weiteren Vorteil, denn es eignet sich perfekt, um darin zu spielen. Als Gaya und ich klein waren, haben wir darin immer Familie gespielt oder so getan, als wäre das kleine Haus ein Marktstand, in dem wir unsere Waren verkauften. Nun tun es Juriso und Beyza und irgendwann vielleicht sogar Gayas und meine Kinder. Als wir fertig sind, betrachte ich die geleistete Arbeit. Das zufriedene Gefühl, den heutigen Tag überstanden zu haben, wird von der Erschöpfung, die mir tief in den Knochen sitzt, überlagert. Auch Gaya und meine Großmutter sind fast fertig, weshalb ich gemeinsam mit Juriso unser Haus ansteuere. Der Himmel über uns glüht in warmen Orangetönen, als würde selbst er durch die Hitze verbrennen. Mein dünnes Kleid aus Leinen ist von Schweiß durchnässt und klebt unangenehm an meinem Körper. Juriso geht ein paar Schritte vor mir und zieht sich seinen Shemag vom Kopf; seine dunkelbraunen Haare stehen wild in alle Richtung ab und er wischt sich mit der Hand den Schweiß vom Nacken. Ich atme zufrieden auf, als auch ich meinen Shemag entferne und die frische Luft mein Gesicht umspielt. So unangenehm und heiß ein Shemag auch sein mag, würden wir ihn nicht tragen, könnten wir in dieser Zeit nicht arbeiten. Am aus dunklem Holz zusammengebauten Haus lasse ich mich im Schatten auf den Boden fallen und lehne mich gegen die Wand hinter mir. Juriso hat sich neben mir niedergelassen und trinkt gierig den letzten Rest Wasser aus seinem Bota. Im Gegensatz zu Beyza ist Juriso viel ruhiger. Meist ist er verschlossen und zurückhaltend. Besonders in Gegenwart von unserem Vater oder unserer Großmutter hört man nur wenig von ihm. Für mich ist seiner Art entspannend, ich muss mich nicht groß darum sorgen, irgendetwas zu sagen oder mich mit ihm zu beschäftigen, wir können wortlos nebeneinander sitzen und die Ruhe genießen - jedenfalls so lange uns Beyza nicht sieht. Schon von Weitem höre ich ihr kreischendes Lachen und sehe ihre wilden dunkelbraunen Locken wackeln. Seit unsere Mutter kurz nach Beyzas Geburt starb, hat sich Gaya, obwohl sie selbst noch ein Kind war, um sie und Juriso gekümmert. Sosehr ich die beiden auch liebe, hätte ich das nicht gekonnt. Mit ihrem Geschrei haben sie mich manchmal wirklich in den Wahnsinn getrieben. Besonders Beyza war ein furchtbar anstrengendes Baby, aber Gaya wusste irgendwie immer, was sie tun musste, um Beyza zu beruhigen. Meine Großmutter hat ihr zwar dabei geholfen, doch sie war damals schon zu alt, als dass sie unsere Mutter hätte ersetzen können. Ich hingegen unterstütze seitdem unseren Vater bei allen körperlichen Aufgaben. Ich war vierzehn, als unsere Mutter starb. Im darauffolgenden Sommer habe ich zum ersten Mal gemäht. Dies waren die anstrengendsten Tage meines Lebens. Jeden Abend haben meine Arme so stark gezittert, dass ich kaum essen konnte und jede Nacht habe ich mich gefragt, wie ich den kommenden Tag nur überstehen sollte. Doch irgendwie habe ich es geschafft und dann hat mein Körper immer länger durchgehalten, hat sich immer gezielter bewegt und schließlich an die harte Arbeit gewöhnt. Ich bin froh, dass es so ist und nicht andersherum. Durch die Arbeit fühle ich mich nützlich, etwas weniger machtlos und meistens bin ich danach zu sehr erschöpft, um mir Gedanken über unsere Lage zu machen. „Lili!" Beyza wirft sich mit ihrem zarten Körper auf meinen Schoß und reißt mich aus meinen Gedanken. Ihre großen, braunen Augen fixieren mich und auf ihrem runden Gesicht liegt ein breites Lächeln. „Du bist ja schwer", lüge ich und kneife ihr in die Seite. Sofort kichert sie und krümmt ihren kleinen, zierlichen Körper. „Ich bin ja auch schon groß", antwortet sie und verschränkt ihre dünnen Arme. Gaya und Beyza sind ein Abbild unserer Mutter. Beide haben dunkles lockiges Haar und große hellbraune Augen, während Beyzas Gesicht noch etwas rundlicher ist, hat Gaya ein schmales Kinn und hohe Wangenknochen. Wie unsere Mutter haben sie einen etwas dunkleren Hautton, der, wenn die Sonne ihre Haut berührt, bronzefarben schimmert. Obwohl ihr Tod erst vier Jahre her ist, kommt mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Würde ich sie nicht in meinen Schwestern so deutlich wiedererkennen, hätte ich ihr Gesicht vielleicht schon vergessen.
Mein Blick trifft Gayas, sie steht nur wenige Schritte von mir entfernt und sieht auf uns herab. Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, bei welchem meine trockenen Mundwinkel schmerzen. „Eza", ein mahnender Unterton liegt in ihrer Stimme. Den Spitznamen Eza hat sich Bezya als Kind selbst gegeben. Meine jüngste Schwester zappelt auf mir herum und ihre Locken kitzeln in meinem Gesicht, während sie sich in Gayas Richtung dreht. „Lilian muss sich ausruhen, aber du kannst mit Juri etwas spielen bis wir uns waschen". Für einen kurzen Moment bleibt Beyza still, scheint zu überlegen, ob ihr die Idee gefällt oder nicht. „Ja! Wir spielen fangen", ruft viel zu nah an meinem Ohr und springt auf, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie greift nach Gayas Hand und will sie bereits mit sich ziehen, doch diese bleibt stehen und dreht sich zu mir. „Geh dich waschen, ich mach' das mit den Kleinen schon", ruft sie noch schnell und wird dann von meiner zwar kleinen, aber dafür sehr penetranten kleinen Schwester wieder zurück ins Feld gezogen. Normalerweise gehen wir Kinder uns immer zusammen waschen, nachdem mein Vater und meine Großmutter fertig sind. Oft ist es recht amüsant, aber fast immer anstrengend und ich bin froh heute einmal die Ruhe genießen zu können. Der steinerne Brunnen macht nicht viel her. Eigentlich ist er nicht viel mehr als ein Erdloch, das von aufgestockten Steinen umringt wird, doch er sichert unser überleben. Der nächste See ist einen halben Tagesmarsch entfernt, müssten wir jedes Mal dorthin laufen, wären wir schon lange verdurstet oder verhungert, denn manchmal bleibt der Regen so lange aus, dass wir das Feld von Hand bewässern müssen. Über dem Erdloch ist ein hölzernes Dach, das von vier Säulen in der Luft gehalten wird. Darunter befindet sich ein schmaler Balken, an welchem ein langes, abgenutztes Seil hängt. Als ich damit beginne am Hebel zu kurbeln, wickelt sich das Seil langsam um den Balken, der bei jeder Umdrehung laut quietscht. Die Muskeln in meinem Arm ziehen unangenehm während ich kurble und erwartend in das schwarze Loch blicke. Schwankend erhebt sich ein voller Eimer aus der Dunkelheit und sobald ich ihn zu fassen bekomme, greife ich danach. Ich ziehe die kühle, feuchte Luft, die aus dem Brunnen strömt in meine Lungen und der Gedanke, dass das Wasser ebenso erfrischend sein wird, löst entspannende Vorfreude in mir aus. Woher das Wasser im Brunnen kommt, weiß ich nicht. Früher, als ich noch klein war, hat mein Großvater mir erklärt, dass man fast überall einfach ein Loch in den Boden graben kann und dann würde man irgendwann Wasser finden. Ob das stimmt, habe ich noch nie ausprobiert. Auch der Gedanke unter unserem Boden befinden sich zahllose Seen und trotzdem wächst nicht viel, ist so abwegig, dass ich die Geschichten meines Großvaters als das sehe, was sie sind: Erfundene Erzählungen um die nicht enden wollenden Wissensdurst eines Kindes zu stillen.
Bedacht darauf nichts vom Wasser zu verschütten stelle ich den Eimer hinter die Holzwand, die etwas Sichtschutz bietet. So schnell ich kann, befreie ich mich aus meinem klebrigen Kleid und lege es neben den Brunnen. Es hatte meiner Mutter gehört und auch wenn es mir nicht ansatzweise so gut steht wie ihr, meine Arme und Beine sind einfach zu drahtig, meine Hüften zu schmal und meine Brüste zu flach, trage ich es wie eine zweite Haut, denn auf diese Weise fühlt es sich an, als wäre ich ihr nahe. Die ehemals dunkelrote Farbe ist mittlerweile schon verblasst, doch das stört mich nicht, überschüssige Münzen für neue Kleidung haben wir nicht und so tragen wir alles, was wir haben so lange wie möglich und flicken jedes Kleidungsstück, bis es zerfällt. Eine frische Abendbrise umzüngelt meinen nackten Körper und jagt mir eine angenehme Gänsehaut über den Rücken. Ich tauche einen Lappen in das kalte Wasser und schrubbe mir den Dreck und Staub von meinen geschundenen Gliedern. Die Sonne ist bereits hinter den Bergen im Westen verschwunden, doch der Himmel ist immer noch orange gefärbt, wie die Glut eines langsam verglühenden Feuers. Mit zitternden Muskeln hebe ich den Holzeimer über meinen Kopf und lasse das restliche Wasser langsam durch meine Haare laufen. Mit den Fingern fahre ich durch meine hellbraunes, welliges Haar und versuche die zahllosen Knoten darin zu entwirren. Sobald ich fertig bin, ziehe ich mich schnell an und hoffe, dass ich nicht allzu lange gebraucht habe. „Bin fertig", schreie ich so laut ich kann. Ohne abzuwarten, ob mich meine Schwester gehört hat, drehe ich mich um und befestigte einen Eimer am Seil und kurbele ihn nach unten. Wenn ich ihr schon nicht helfe, dann kann ich ihr mindestens etwas Arbeit abnehmen. Nachdem ich drei Eimer zuerst nach unten getrieben habe und dann befüllt nach oben, schwitzte ich wieder. Zwei Eimer lasse ich für meine Geschwister stehen und mit einem gehe ich an die Rückseite unseres Hauses. Noch bevor ich um die Ecke biege, höre ich bereits das Meckern unserer Ziegen. So wie mich die beiden ansehen und ihrem drängenden Gemecker nach, haben sie schon auf mich gewartet. Ich entleere den ganzen Eimer in ihrem Trog und werfe ihnen etwas Stroh ins Gehege. Sofort schnappen sie mit ihren Mäulern nach der Nahrung und beachten mich gar nicht mehr, während sie gemächlich kauten. So eine Ziege müsste man sein, herumstehen, hin und wieder Milch geben und sich über nichts als die nächste Mahlzeit Gedanken machen. Mein knurrender Magen signalisiert mir, dass ich mir wahrscheinlich ebenso viele Gedanken über Essen mache, wie die zwei Ziegen, und kehre um, damit ich mich noch etwas ausruhen kann, bevor es Abendbrot gibt.
Ohne meine Geschwister zu beachten, laufe ich an ihnen vorbei. Vor unserem Haus lasse ich mich wieder auf den Boden sinken und blicke in den Himmel. Das leuchtende Orange ist mittlerweile verblasst. Nicht mehr lange und die Nacht wird die gesamte Landschaft verschlucken. Während im Westen, hinter den hohen, spitzgipfligen Bergen, der Himmel noch erleuchtet ist, wie eine schwach brennende Kerze, breitet sich die Dunkelheit im Osten immer weiter aus. In dieser Richtung befindet sich nur flaches, karges Land. Grakok, die Region, in der wir leben, befindet sich im Nordwesten Krynias. Südlich von unserem Hof ist das Gebiet gezeichnet von hohen Gebirgen mit Gipfeln so spitz, dass sie Wolken zerschneiden könnten und schmalen Tälern, die tief in die Berge hineinreichen. Hier im Norden flacht das Land wieder ab, trotzdem ist es nicht der ideale Ort für einen Hof und eine Mühle. Der Boden ist trocken und nicht so fruchtbar wie in anderen Regionen. Landwirtschaft ist hier nicht üblich. Aber es ist besser, auf dem Hof zu arbeiten, als in einem der Bergwerke oder den Minen. Ich war zwar noch nie dort, doch die Geschichten, die mein Großvater mir darüber erzählt hat, waren so schaurig, dass ich auch nie in meinem Leben ein Bergwerk betreten möchte. Da arbeite ich lieber auf dem Feld, trotz der Sonne und der ermüdenden Aufgaben.
Als mir auffällt, dass ich vergessen habe, meinen Bota aufzufüllen, stehe ich wieder auf. Ich will mich schon von der Landschaft abwenden, doch in diesem Moment bemerke ich etwas. Ich kneife meine Augen zusammen und fixiere einen Punkt in der Entfernung. Für einen Moment stehe ich wie angewurzelt da. Dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Hastig wende ich mich um. „Skauk!", schreie ich so laut ich kann in das Haus hinein.
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