Kapitel 4

Aber es wären eigentlich noch mehr., dachte sie, als sie von ihren eigenen Kindern sprach.
Mehrere Fehlgeburten, mehrere waren durch Unfälle oder Krankheiten gestorben, mehrere hatte dieses Monster umgebracht. Wenn sie könnte, hätte sie ihm das Leben genommen, auf der Stelle. Und zwar mit so viel Gewalt, wie es nur ging. Für alles, was er ihr und ihren Kindern angetan hat.
Sie war nicht sonderlich überrascht, als Michael von seinen Kindern sprach. Sie wusste, dass viele sich ein endloses Leben und grenzenlose Macht wünschten. Dabei konnten sie mit keiner Zelle ihres Gehirns ahnen, welche Folgen dies mit sich zieht und wie schlimm das eigentlich ist.
"Wie lange willst du in der Stadt bleiben?", wechselte sie das Thema.
Irgendwie mochte sie ihn von Anfang an. Aber höchstwahrscheinlich lag das nur daran, dass sie kaum Bekanntschaften hatte, nach denen sie sich jedoch sehr strebte.
"Solange es geht.", meinte plötzlich angespannt. "Und du?"
"Ebenfalls.", seufzte sie resigniert. " Na ja, wie gesagt, ich habe hier einen Sohn und weile solange bei ihm."
Plötzlich klingelte ihr Handy und sie zuckte zusammen, weshalb Michael leise lachte. Eilig kramte sie es aus ihrer neuen Tasche, dem Geschenk von Daniel, heraus und nahm ungekonnt ab.
"Wenn man grad vom Teufel spricht.", flüsterte sie ihrem Begleiter schmunzelnd zu und er schnaubte lachend. "Nein, nein, Daniel, ich habe nur hallo gesagt.", bestreitet sie die Frage, ob sie ihren letzten Satz gesagt hätte, was Michael zum Weiterlachen brachte. "Wo ich bin? Ich erkunde Berlin, ich kann schließlich nicht einen weiteren Tag zu Hause sitzen. Und natürlich bin ich nicht in Gefahr. Lasse deine Mutter ihr Leben leben." Ihre Stimme war streng, doch dann lachte sie. "Außerdem habe ich erstens dieses Handy und zweitens habe ich mir einen netten Begleiter gefunden, der ebenfalls die Stadt besser kennenlernen will."
Ihr Lächeln schwand, als Daniel sie fragte, ob Michael zu Vincents Leuten gehören könne. Sie musterte den Mann ernst und schüttelte den Kopf.
"Nein, Daniel, ich glaube nicht.", meinte sie und setzte wieder das Lächeln auf. "Mache dir nicht so viele Sorgen, Liebster, ich kann mich selbst gut beschützen. Es wird schon nichts passieren."

Ihre Stimme war noch sanfter geworden als die ganze Zeit davor. Liebster... Er lachte innen drin. Schließlich sprach sie wahrscheinlich zu jeden ihrer Kinder so. Aber Daniel... Sein Bekannter hieß doch auch so. War er vielleicht ihr Sohn? Konnte sein, dass er das noch rausfinden würde. Schließlich hieß es für ihn: je mehr Kontakte, desto besser.
" Wenn du dir wieder Sorgen machen wirst, ruf mich an.", verabschiedete sie sich von ihrem Sohn, nachdem sie eine Weile nur schweigend zugehört hatte. Dann wandte sich Emilia wieder ihm zu. "Es scheint mir so, als würdest du ein Ziel haben, wo du hingelangen willst.", bemerkte sie.
"Ehm... So ist es. Aber da ich die Lage meines Ziels nicht genau weiß, laufe ich einfach nur mit dir durch die Stadt."
Empört blieb sie stehen. "Du kennst die Stadt. Sei ehrlich, du warst hier schon oftmals."
Er blieb ebenfalls stehen. Sie hat die Lüge rausgefunden. Die anderen auch? Sie sah jedenfalls nicht danach aus - gut.
Aufgebend hob er kurz die Hände. "War wohl ein blöder Anfang. Entschuldige. Ich wollte nur ein bisschen Gesellschaft haben."
"Wo gehen wir hin?", fragte sie angespannt, fast erschrocken.
Was war mit ihr los? Und dann noch das Gespräch mit ihrem Sohn, wo sie von Gefahr sprachen. Wurde sie vielleicht von jemandem verfolgt? Oder einfach nur bedroht?
"Gaanz ruhig. Ich bin auf dem Weg zu einem Treff mit einem Einheimischen, meinem Bekannten. Er wollte mich in das berlinische Leben einweihen, sage ich mal. Ich habe keine Hintergedanken, werde dich nicht misshandeln. Es ist so, wie ich es gesagt hab, ich wollte nur Gesellschaft haben. Ich bin keine Gefahr."
Kein guter Start der neuen Bekanntschaft, auf jeden Fall kein guter Start.
Sie seufzte. War das ein Seufzer der Erleichterung? Oder weil sie sich lächerlich vorkam, ständig auf der Hut zu sein?
"Das scheint zumindest, der Wahrheit zu entsprechen. Verzeih, dass ich manchmal so alarmiert reagiere, ich habe meine Gründe. So wie du welche hast, um mich zu belügen. Außerdem sind wir doch unbekannt, wir haben keine Gründe, dem anderen die Seele zu öffnen.", meinte sie ernst.
"Emilia, entschuldige mich noch mal. Ich habe dich wohl sehr erschreckt. Ich sollte... Ich sollte vielleicht allein weitergehen.", stammelte er und ging los.
"Nein, nein, Michael, warte!", rief sie und eilte ihm hinterher. "Ich will dir wirklich Gesellschaft leisten. Ich kann im Moment nur niemandem außer meinen Kindern vertrauen. Darf ich immer noch mit dir mitkommen? Aber führe mich bitte in keine verlassenen Gassen." Sie lachte nervös.
Sie hatte offensichtlich wirklich Probleme. Er könnte ihr zwar seine Hilfe anbieten... Aber erstens wäre er ihr keine Hilfe und zweitens wenn, würde sie die Hilfe bestimmt nicht annehmen. Außerdem war ihr Leben vielleicht gar nicht seine Angelegenheit.
"Versprochen.", lachte er mit. "Wir haben anderthalb Stunden und ich kann dir auf dem Weg zum Brandenburger Tor so einiges zeigen."
Er war begeistert, die Stadt, wo er vor fünfunddreißig Jahren gelebt hatte, jemandem zu zeigen, der sich dafür wirklich interessierte.

Sie war froh, jemanden gefunden zu haben, der sie von ihren Sorgen ablenken konnte. Es war ein schöner Zufall, diesen Michael getroffen zu haben. Er schien wirklich nett zu sein und Spaß zu verstehen. Mit ihm konnte sie sogar Vincent vergessen.
"Guck mal, da ist das Brandenburger Tor.", brachte Michaels Stimme sie aus ihren Gedanken.
Sie hob den Kopf und blickte in die Ferne. Tatsächlich, da, am Ende der Staße war es. Es sah... interessant aus. Sie konnte es zwar mit nichts vergleichen, da sie immer nur in ihrem 'Knast' gefangen war, aber SO großartig war das Brandenburger Tor auch wieder nicht. Viel mehr mochte sie die Unterhaltungen mit Michael.
"Dann muss ich jetzt wohl nach Hause.", sagte sie ein bisschen traurig. Es war ihr schade, den Spaziergang jetzt abzubrechen. Aber sie konnte nicht fragen, ob sie bleiben dürfte.
"Weißt du zumindest den Weg, wie du nach Hause fährst?", schnaubte Michael lachend.
"Ehrlich gesagt....", lachte sie verlegen. "weiß ich es nicht. Wie komme ich von hier zur Osloer Straße?"
"Zuerst kommst du mit zur S-Bahn. Und dann zeige ich dir auf der Karte, wie du hin fährst." Er lächelte. "Ach, und übrigens." Er holte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus seiner Jeanstasche und schrieb etwas. Dann reichte er ihr das Blatt. "Ehe ich es vergesse. Das ist meine Nummer. Falls dir langweilig wird, oder dein Sohn keine Zeit hat, ODER ETWAS IST, ruf einfach an. Einverstanden?"
Sie nahm den Zettel unsicher entgegen. " Wenn du meinst."
Sie fand es falsch, ihn anzurufen, nachdem sie sich erst zwei Stunden kannten. Außerdem wollte sie ihn nicht mit ihren Problemen beschäftigen. Aber wenn er wollte, würde sie ihn anrufen.

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