Kapitel 10
Am späten Abend stand Michael schließlich auf. "So, ich sollte jetzt vielleicht gehen."
"Ich komme mit raus.", meldete sie sich.
Er winkte eilig ab. "Nein, nein, brauchst du nicht."
Damit verriet er, dass er durchaus etwas zu verbergen hatte.
"Doch, brauche ich.", beharrte sie und stand ebenfalls auf.
"Dann muss ich dich ja wieder zurückbringen.", lachte der Vampir.
Sie wusste, er wollte sie ablenken, aber das würde er nicht schaffen.
"Von mir aus.", zuckte sie die Schultern. Sie musste ihn etwas fragen und würde nicht einfach nachgeben und hier bleiben.
"Cecile, bleibst du heute bei uns?", fragte Daniel inzwischen.
"Gern doch.", lächelte diese fröhlich.
Sie selbst folgte Michael schweigend in den Flur. Er wirkte sehr angespannt. "Und Daniel.", meinte er. "Ich rufe später an."
Worüber hatten sie geredet? Es musste etwas wirklich Ernstes sein. Etwas Gefährliches? Höchstwahrscheinlich. Für sie war das Ernste und Gefährliche Vincent. Doch Michel konnte Vincent doch nicht kennen, oder?
Sie beide zogen ihre Schuhe an und verließen nach kurzem Abschied die Wohnung, stiegen angespannt schweigend die Treppe runter. Draußen seufzte sie und fragte schwer: "Was ist dir zugestoßen?"
"Ich..." Er überlegte kurz. "Ich werde verfolgt. Ich war mir nicht sicher, ob ich es dir erzählen soll. Wozu dir den Kopf schwer machen, sind doch meine Probleme. Ich meine, dir müssten doch deine eigenen schon zu viel sein."
Er wurde verfolgt? Ja, das war etwas Ernstes. Sie hatte schlechtes Gewissen, weil sie nicht nachzugeben gewollt hatte. "Von wem... Wer verfolgt dich?"
"Es ist mein zweiter Clan, die Dakes. Ich hatte sie vor etwa hundert Jahren verraten, aber dazu gab es gute Gründe. Tja, jetzt muss ich mit meinem ruhigen Leben und... meinen Kindern dafür bezahlen.", erzählte er bitter.
Sie klappte die Hände vor den Mund und sah ihn entsetzt an. Sie töteten Kinder... Unschuldige Kinder, die in dieser Situation überhaupt nichts dafür hatten.
"Wie viele schon?", fragte sie leise. "Wie viele Kinder hast du schon verloren?"
"Für dich wäre es besser, das nicht zu wissen, aber okay.", seufzte er. "Mittlerweile sind es schon sieben.", beendete er ebenfalls leise.
"Sieben Kinder wegen nichts...", flüsterte sie schockiert.
Das erinnerte sie so sehr an Vincent. Er war so kaltherzig! Er machte sich überhaupt nichts draus, SEINE EIGENEN Kinder zu schlagen oder, wenn sie ihm zu sehr im Weg standen, zu töten. Und er verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, wie es IHR dabei ging. Die Kinder tauchten ja aus dem Nichts in ihrem Zuhause auf!!!
Michael sah sie kurz an und zog sie in eine Umarmung. Sie hätte weinen können, so sehr tat ihr Herz weh.
"Ich werde es ihnen zurückzahlen, sobald ich kann.", versprach er ihr entschlossen.
Ja, das glaubte sie ihm. Sie würde Vincent auch heimzahlen, sobald sich die Chance ergab. WENN sich die Chance ergab.
"Ich... will dir erzählen, warum ich hier bin.", flüsterte sie zögerlich.
Sie merkte, wie überrascht er war. Aber wenn er ihr vertraute, würde sie ihm auch vertrauen.
"Ich verspreche, es nicht weiterzusagen.", meinte der Vampir, behielt sie immer noch in seinen Armen.
Es tat so gut, so nah bei ihm zu sein. Als ob es nur sie beide in der ganzen Welt gäbe. Sie wusste, sie konnte ihm alle ihre Geheimnisse anvertrauen und er würde sie für sich behalten.
Also bat sie ihn, Daniel anzurufen und ihm Bescheid zu sagen, dass die beide noch spazieren gehen würden.
So musste sie Michael auch nicht dabei ansehen, wenn sie vor Pein und Wut und Verzweiflung platzte.
Schlussendlich kam es dazu, dass sie nicht bei Daniel übernachtete, sondern bei Michael. Er wollte sie so spät nicht allein nach Hause fahren lassen und für's Mitkommen war es wegen seiner morgigen Arbeit zu spät. Außerdem wollten Daniel und Cecile bestimmt alleine sein. Und Michaels Grinsen, als er ihren Sohn noch einmal anrief, stimmte ihrem Gedankengang voll und ganz zu.
Ein Anruf weckte ihn um sechs auf. Ich hätte noch zwei Stunden zu schlafen., dachte er verärgert. Eilig nahm er ab, damit Emilia im Nebenzimmer nicht ebenfalls wach wurde.
"Aufgeweckt?", meldete sich Daniels heitere Stimme.
Im Hintergrund war ein Wasserkocher zu hören, der aber immer leiser wurde. Offensichtlich verließ der Vampir gerade seine Küche.
"Aufgeweckt.", knurrte Michael schlaftrunken.
"Tut mir leid, es musste sein. Ich weiß, dass meine Mutter um diese Zeit noch schläft, also können wir ungestört reden."
"ICH schlafe um diese Uhrzeit aber auch noch. Und was ist eigentlich mit Cecile, sie ist doch genauso ein Frühaufsteher wie du?"
"Ehm... Nochmals tut mir leid, aber sie hat mich erpresst."
"Womit?", fragte er genervt, dann grinste er jedoch. Aaalles klar.
Was Daniel wohl herausgehört haben musste. "Ach, sei leise."
Er lachte leise und setzte sich auf dem aufklappbaren Sofa auf.
"Also.", begann sein Bekannter wieder. "Wegen Vincent. Warum hat er dich aufgesucht? Weil... ich dachte, ihr kennt euch nicht. Sonst hättest du ja auch gewusst, dass Emilia und ich Verwandte sind."
Diesmal benutzte Daniel wohl extra Emilias Namen, anstatt sie Mutter zu nennen. Das klang für seine Ohren ungewöhnlich.
"ICH kannte Vincent nicht. Aber ER hat mich gekannt. Er..." Er überlegte. Wie vielen Worten durfte er wirklich Preis geben? "Er hat gesagt, dass wir uns kannten, also deine Mutter und ich." Er schüttelte den Kopf und fuhr sich durch die Haare. "Das alles zu erklären, ist zu umständlich."
Doch er erzählte trotzdem, was genau Vincent gesagt hatte und wie Lidia sich verhielt.
"Unser Problem ist größer als ich dachte. Mist, Vincent wird herkommen. Ich muss meiner Mutter eine Wohnung suchen.", meldete sich Daniel nach kurzem Schweigen angespannt zu Wort.
"Sie kann bei mir wohnen, Daniel. Ich bin ja umgezogen.", schlug er leicht vor.
Wieder herrschte eine Weile Stille.
"Sie wird nicht bei dir wohnen.", sagte sein Bekannter schließlich. "Sie will andere nicht stören. Aber na ja, du kannst durchaus versuchen, sie zu überreden. Übrigens...worüber habt ihr beiden gestern geredet?"
"Ich habe ihr erzählt, dass ich verfolgt werde, um ihr nicht von Vincent erzählen zu müssen. Mein zweites Problem war mit genau rechtzeitig eingefallen - zumindest etwas Gutes hat es mir gebraucht. Und dafür hat sie mir von Vincent erzählt. Jetzt will ich ihn nur noch mehr umbringen. Und zwar eigenhändig.", berichtete er und gähnte.
"Sie hat dir von Vincent erzählt?", wunderte sich Daniel. "Jetzt wirklich? Mein Freund, ich muss dir sagen, du hast ihr volles Vertrauen gewonnen. Sie hatte nie von ihren Leiden berichten wollen. Immer hielt sie alles in sich. Wir hatten ihr immer unsere Hilfe angeboten und jedes Mal verneinte sie."
"Sie sorgt sich sehr um euch."
"Aber kein bisschen um sich selbst."
Ja, als sie gestern spazieren waren und sie ihm alles erzählte, liefen haufenweise Tränen über ihre Wangen, doch sie ließ den Kopf gesenkt und sprach mit fester aber leiser Stimme weiter.
"Da stimme ich dir zu.", nickte er, obwohl Daniel es ja gar nicht sehen konnte. "Aber mach dir nicht so viele Sorgen, ich passe auf Emilia auf." Außerdem hatte er wohl mehr Kraft, sie zu beschützen, als Daniel.
"An dir zweifle ich ja gar nicht. Es ist Vincent, der irgendwie jedem zuvorkommt."
"Daniel, ich verspreche dir, er wird sie nicht kriegen. Und jetzt mach ich Schluss, ich muss noch einen Anruf erledigen."
Sie verabschiedeten sich kurz, dann ging Michael in die Küche und stelle die Kaffeemaschine an. Er hatte auf's Ausschlafen gehofft, verdammter Daniel.
Nachdem er eine Tasse Kaffee mit einem Croissant gefrühstückt hat, kam er zurück in sein Arbeitszimmer und griff wieder nach seinem Handy. Mit Zögern ging er die Namensliste durch. Obwohl er aufgrund des Löschens seiner Erinnerungen ziemlich sauer war, brauchte er gerade dieses Gespräch.
Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.
"Hallo Lidia.", begrüßte er seine Vampirmutter.
"Teufel!", stieß sie überrascht hervor. "Michael, bist du es etwa?"
"Ja. Schön, dich zu hören."
Wegen ihrer Reaktion musste er lächeln. Das letzte Mal hatte er sie vor fünfzig Jahren angerufen, er sollte sich nicht wundern. Und gesehen hatte er sie noch länger nicht.
"Und mir wie. Ich hatte schon gedacht, dir ist etwas zugestoßen. Du hörst dich unglücklich an. Probleme?"
"Immer doch. Aber ich rufe eigentlich aus einem anderen Grund an, der jedoch damit zu tun hat. Bist du zufälligerweise irgendwo in der Nähe von Berlin?"
"Zufälligerweise bin ich IN Berlin. Bist du auch hier?"
Das überraschte ihn. Er hatte nicht erwartet, sie hier zu treffen, da sie einmal meinte, sie möge die Stadt nicht so sehr. Offensichtlich hat sich ihre Meinung verändert.
"Wohl oder übel. Und noch gewisse andere Personen..." Er seufzte. "Können wir uns sehen? Ich werde dich in die derzeitige Situation einweihen."
Kurz war es still. Er glaubte, sie verstand, was er meinte, und war davon ganz und gar nicht begeistert.
"In einer Stunde am Alex, vor dem Fernsehturm, gegenüber dem Bahnhof.", sagte die Vampirin schließlich ernst und angespannt und legte auf.
Er legte das Handy auf den Tisch und saß bewegungslos eine Minute lang da, in der darauf folgenden Stille. Irgendwie lief gerade alles wieder aus dem Ruder.
Dann rief er seinen derzeitigen Chef an und meldete sich für diesen Tag krank. Er würde nicht zur Arbeit schaffen.
Als er aus dem Arbeitszimmer ins Wohnzimmer trat, saß Emilia auf dem Sofa und trank Tee. Sie lächelte. "Guten Morgen."
"Guten Morgen.", lächelte er zurück.
Wenn sie ihn anlächelte, musste er es einfach ebenfalls tun. Jedes Mal bereitete sich dabei eine angenehme Wärme in ihm aus, nach der er nun jede Minute strebte und von der er nie genug hatte.
Sie liebte es, wenn er lächelte. Jedes Mal bereitete sich dabei eine angenehme Wärme in ihr aus, nach der sie nun jede Minute strebte und von der sie nie genug hatte. Sie wollte aufstehen, zu Michael gehen und ihm einen Guten-Morgen-Kuss geben, doch sie war sich nicht sicher, ob sie es sollte. Waren sie jetzt zusammen? Oder hatte der gestrige Kuss nichts zu bedeuten?
Sie stellte die Tasse ab und wollte schon aufstehen, doch da setzte sich Michael schon daneben, beugte sich über sie und drückte ihr einen zärtlichen Kuss zu. Tausend Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch und es war einfach nur so schön wie noch nie.
Doch dann stand er leider wieder auf. "Emilia, ich muss gerade eine Sache erledigen gehen. Warte bitte hier, okay? Ich muss so oder so noch mit Daniel reden. Kannst dich in der Wohnung umsehen oder was auch immer. Aber warte hier auf mich, ja? Mit dir muss ich nämlich auch noch eines besprechen. Blut findest du im Kühlschrank."
Sie sah verwirrt drein, nickte aber. Was er wohl am so frühen Morgen zu erledigen hatte...
Sie ging mit ihm in die Küche, um die Tasse wegzubringen, er trank sein Blut und ließ sie in der großen Drei-Zimmer-Wohnung allein. Wie lange würde sie warten müssen, bis er zurückkam?
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