Sinneswahrnehmung
Lucias Sicht:
,,Hast du alles, Kind?", fragte ihre Tante sie, als Lucia mit ihren Schulrucksack - den sie sich um die Schulter geworfen hatte-, ihrer schwarzen Strickjacke und ihren braunen Lederhandschuhen bewaffnet vor der Tür stand. Es war 07:00 Uhr morgens. Auch wenn der Unterricht erst in ca. 1 1/2 Stunde beginnen würde, beschloss sie früher los zu gehen, da sie eh nichts Besseres zu tun hatte und später noch Sekretariat musste, um ihre Schulbücher abzuholen.
,,Ich bräuchte noch eine Flasche Wasser.", wies Lucia sie daraufhin und bekam gleich eine von der rothaarigen überreicht.
,,Hier, ich wünsche dir viel Spaß in der Schule und ... versuche es nicht gleich am Anfang zu verbocken.", kam es vorsichtig von ihr. Tante Sue fasste sich unbehaglich an ihren Kopf, als sie das aussprach.
,,Ich werde es versuchen, aber ich kann nichts versprechen.", erwiderte die Schülerin, um sie ein bisschen zu beruhigen. Sie verstaute die Wasserflache an der Halterung an der Seite ihres Rucksacks und senkte kurz zur Verabschiedung ihren Kopf.
,,Wir sehen uns heute Nachmittag, Tante Sue."
,,Bis Später, Schatz. Solltest du jemanden kennenlernen, ist dieser herzlichst zum Essen eingeladen. Ich mache Hähnchencurry mit Reis und Buttergemüse.", sagte sie zu ihr leicht lächelnd, bevor sie sich abwand und in der Küche verschwand. Sie hörte noch den Wasserhahn angehencund das Geschirr vom Frühstück klirren, als sie das kleine Haus verließ und die Tür hinter ihr zumachte.
Lucia ging den kleinen Weg durch den Garten an grüne Büsche und einen Teich vorbei und durchschritt das kleine Gartentor, der deren Garten von der Außenwelt trennte.
Sie spürte den leichten, kühlen Wind des Morgens an ihre Wangen vorbeiziehen, der dafür sorgte, dass diese etwas rötlich glühten.
Es war faszinierend zu sehen, wie der Körper bei den unterschiedlichsten äußerlichen Begebenheiten reagierte, ohne dass man etwas dagegen tun konnte. Bei Hitze schwitzt der Körper, bei Kälte zittern die Muskeln. Der menschliche Körper war dem Lauf der Natur vollkommen ausgeliefert. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Hände wegen der Kälte aneinander zu reiben und ging stattdessen schnurstracks denselben Weg entlang, den sie gestern genommen hatte, um von der Schule aus nach Hause zu gehen. Es schien der kürzeste zu sein, auch wenn sie die anderen Wege später auch noch auskundschaften wollte. Schließlich sollte man wissen, in was für einem Gebiet man sich bewegt. Neugierig beobachtete sie die einzelnen Leute auf den Straßen, die bei dieser Uhrzeit höchstwahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit waren. Vielen von ihnen stand die Müdigkeit im Gesicht und nur wenige schienen ausgeruht und fit für den Tag zu sein. Sie selber war stets ein Frühaufsteher, da sie so viel wie möglich von dem Tag haben wollte, anstatt diesen mit Schlaf zu verschwenden. Daher war Lucia auch nachts relativ lange wach. Ihr Körper brauchte von sich aus nicht so viel Schlaf, um wieder vollkommen ausgeruht zu sein, was sie wirklich sehr befürwortete.
Geschickt wich Lucia mit einer fließenden Bewegung zur Seite einem Anzug tragenden Mann aus, der seine Aufmerksamkeit lieber seinem Handy widmete als seiner Umgebung.
,,Idiot.", murmelte sie leise und bog um die nächste Ecke, wo schon bald die Schule in ihrem Sichtfeld erscheinen musste. Sie hatte es tatsächlich geschafft, die Zeit während des Laufens schnell tot zu schlagen.
Ihr fielen sofort die neugierigen Blicke der wenigen Schüler auf, die sich schon auf dem Schulhof versammelt hatten und sie musste sich beherrschen, nicht ihre Augen zu verdrehen. Leute beobachten und neugierig zu sein, war an sich ja vollkommen in Ordnung; sie tat es ja selber. Aber da sie nicht die Fähigkeiten besaßen, das unauffällig zu tun, sondern stattdessen mehr als offensichtlich zu ihr schauten und ihre Kopfe zusammensteckten, um über sie zu flüstern, sodass sie auch ja jedes Wort von ihnen mitbekam, war dann doch mehr als lästig. Ohne den Leuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken, begab sie sich zielsicher ins Gebäude und wartete vor dem Sekretariat darauf, bis diese offiziell geöffnet war.
,,Oh, guten Morgen. Ich hoffe, du musstest nicht allzu lange warten. Ich habe so früh mit noch niemanden gerechnet.", wurde sie von einer etwas älteren Dame mit Brille begrüßt, die gerade dabei war, die Tür zum Sekretariat mit ihrem Schlüssel zu öffnen. Ihr fielen direkt ihre zittrigen Hände auf, die versuchten das Schlüssel ins Schlüsselloch zu bekommen und der Geruch von Zigarettenrauch und Alkohol stieg ihr in die Nase, als sie sich ihr näherte. Nachdem die alte Dame die Tür aufgemacht hatte, reichten sie ihr zur Begrüßung höflich die Hand.
,,Guten Tag, Miss. Ich bin Lucia Graves und habe heute meinen ersten Schultag. Ich wurde informiert, dass ich hier vor Unterrichtsbeginn meine Schulbücher ausgehändigt bekommen würde.", erzählte die neue Schülerin ihr Anliegen und verschränkte die Hände hinter ihren Rücken, während sie sie mit scharfen Augen musterte. Durch das Namensschild an ihrer weißen Bluse wusste jetzt auch, dass sie mit Nachnamen Evans hieß. In ihrem Gesicht waren schon einige Falten zu erkennen und in ihren dunkelblonden nach hinten gebundenen Haaren waren schon einige graue Strähnen zu sehen. Sie wirkte auf junge Mädchen von der Körperhaltung her etwas erschöpft und Müde, was an ihren leichten Augenringen gut zu erkennen war und dennoch strahlten ihre Augen freundlich und sanftmütig auf sie herab.
Erkenntnis machte sich in den grauen Augen der alten Dame breit, nachdem sie ihren Namen erfahren hatte. Mit sanften Druck, den sie mit ihrer Hand auf ihrer Schulter ausübte, bugsierte die Sekretärin sie zu ihrem Arbeitsplatz, auf dem sich ein großer Stapel mit Büchern befand. Der restliche Platz des Schreibtisches war sehr ordentlich gehalten, da jeder Gegenstand einen festzugeschriebenen Platz zu haben schien. Sie musste eine sehr ordentliche und engagierte Person sein, wenn sie sogar schon ihre Bücher besorgt hatte.
,,Miss Graves, Ich war so frei und habe gestern schon ihre Bücher bereit gestellt. Ich habe noch ein paar Unterlagen für deine Tante und dich und einen Stundenplan auf dem alle wichtigen Informationen bezüglich der Lehrer und der Klassenräume stehen.", berichtete Miss Evans ihr, während sie dabei war, aus einem Fach für sie ein paar Unterlagen heraus zu suchen.
,,Sehr freundlich von ihnen.", merkte sie an und verstaute die Unterlagen, die sie größtenteils in der Email auch schon bekommen hatte, und den Großteil der Bücher in ihren eben noch fast leeren Rucksack. Das nicht alle Bücher Platz in ihren Rucksack finden würden, war ihr im vornhinein klar gewesen. Es störte sie nicht, sie mit ihr herumzutragen, auch wenn sie zugeben musste, dass der Heimweg mit der zusätzlichen Belastung auf Hand und Rücken etwas ungemütlicher zugehen sein wird, als zuerst angenommen. Es waren dann doch mehr Bücher als erwartet, die sich am Ende auf ihren Händen stapeln werden.
,,Ihr Klassenlehrer, Mister Jones, wird sie vor dem Sekretariat abholen und sie zu ihrer neuen Klasse begleiten. Sie sollen draußen einfach warten, bis er kommt.", erklärte sie ihr und setzte sich an ihrem Schreibtisch.
,,Gut, das werde ich machen. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag.", verabschiedete Lucia sich höflich, wie man eben sein musste, bei ihr, nahm die restlichen Bücher vom Schreibtisch und ging zur Tür, die seit unserem Eintreten die ganze Zeit offen stand.
,,Einen schönen ersten Schultag, wünsche ich ihnen, Miss Graves."
Bevor sie die Tür hinter sich zu machte, beschloss die Schülerin sich noch einmal zu ihr umzudrehen und etwas zu sagen: ,,Miss Evans.".
Leicht erschrocken blickte die alte Dame, die sich schon anderen Dingen widmen wollte, wieder zu ihr und sah sie erwartungsvoll an.
,,Ich an ihrer Stelle würde ihn anzeigen und schleunigst verlassen. Er ist es nicht wert.", sagte sie eindringlich zu ihr, da Lucia sehr wohl die geschwollene Wange aufgefallen war, die sie versucht hatte mit Schminke zu überdecken. Nachdem sie den Bilderrahmen auf dem Schreibtisch gesehen hatte, der als einziger Gegenstand auf ihrem Schreibtisch mehrfach verrückt und in Mitleidenschaft gezogen worden ist, wurde ihr klar, dass ihr Mann, der der Kleidung von Miss Evans nach auch ein Raucher und Alkoholiker zu sein schien, ein Schläger war und sie mies behandelte. Die Frau sollte sich schleunigst von ihm abwenden, bevor noch etwas schlimmeres als eine geschwollene Wange passierte.
Geschockt und blass im Gesicht starrte Miss Evans sie mit offenem Mund an. Sie fragte sich wahrscheinlich, woher das Mädchen davon wusste, dabei konnte man sich das ganze logisch zusammenreimen, wenn die Leute nur endlich mal ihre Sinne richtig einsetzen würden. Dass der Mann Alkoholiker und Raucher war, roch man alleine schon an der Kleidung der Frau, da der Geruch sehr penetrant daran haftete. Die geschwollene Wange war der Beweis, dass er sie schlägt und zudem wurde das Ganze mit der psychischen Verfassung von Miss Evans weiter verschärft, deren Hände unkontrolliert zitterten. Ihren Augenringen nach konnte sie auch nicht gut schlafen und zudem wirkte sie sehr erschöpft, was darauf hindeuten lässt, dass sie unter psychischen Stress leidet.
,,Ich wünsche ihnen einen schönen Tag noch.", verabschiedete sie sich nochmal bei ihr, zwinkerte ihr zu und schloss dann die Tür. Jetzt musste sie nur noch auf ihren neuen Lehrer warten.
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