46. Für die Familie

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
Für die Familie

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       ANGST. Sie war eine sonderbare Sache, dieses Gefühl, das man weder steuern noch kontrollieren konnte. So natürlich trat sie auf, wann immer es der Alltag erforderte, so schnell riss sie einen von den Füßen. Paige wusste nicht, ob es Angst war, die sie empfand, als ihr Onkel die Tür des Klassenzimmers für Verteidigung gegen die dunklen Künste hinter ihnen schloss. Angst konnte Leben retten, Menschen über ihre Grenzen gehen lassen und enorme Kräfte hervorrufen — sie konnte aber auch lehmen und blockieren.

Im Moment empfand Paige jedoch nur dieses siedende Gefühl in ihrer Brust. Du warst das", ergriff sie das Wort. Bis sie hier angekommen waren, hatten sie kein Wort zueinander gesagt. „Du hast meine Bewerbung manipuliert."

Lokesh, der mit einem Wink seines Zauberstabs die Kerzen entzündete und zu seinem Lehrerpult ging, drehte sich mit einem freundlichen Lächeln zu ihr um. „Aber Paige", entgegnete er beinahe sanft, bevor er sich auf dem Tisch abstützte. „Ich habe dir gesagt, dass ich alles für meine Familie tue."

Nein, es war keine Angst. Es war Wut.

„Indem du mein Leben zerstörst?", fragte Paige sarkastisch. „Ein toller Plan."

„Du weißt, was du tun musst, um einen Platz dort zu bekommen", gab er simpel zurück.

„Ich werde mich nicht von dir erpressen lassen." Paiges Stimme blieb kühl, in ihren Adern pulsierte nur noch Wut. Ja, die Akademie war ihr Traum, aber sie würde Lokesh nicht geben, was er wollte, oder gar Remus dafür aufgeben.

„Du wirfst also dein ganzes Leben weg für irgendeinen Werwolf?", fragte ihr Onkel ungläubig und schüttelte mit einem spöttischen Lachen den Kopf. Paige wich zurück, als er ein paar Schritte auf sie zumachte. „Weißt du, was das Problem ist, Paige?", fuhr ihr Onkel plötzlich beiläufig fort. „Du hattest recht. Ich kann dich erpressen wie ich möchte, dich von Remus zu trennen, aber selbst wenn du es tust, würdest du mich für den Rest deines Lebens dafür hassen. Und ich will deinen Verstand für mich arbeiten haben, nicht gegen mich."

Darauf konnte er lange warten.

„Also habe ich einen Weg gefunden, dich von Remus zu trennen, ohne dass du mich dafür hassen wirst — ohne dass du es überhaupt wissen wirst."

Er trug sich mit einer solchen Selbstsicherheit, dass Paige Schwierigkeiten hatte, sich einzureden, dass sie hier so einfach herauskommen würde. Ihr Atem ging flach und sie merkte erst jetzt, wie sehr ihre Hände schwitzten. Sie sagte nichts. Zum einen, weil sie nicht wusste, was und darüber hinaus, weil sie sich sicher war, dass ihre Stimme zittern würde, als könne sie nicht richtig reden.

Das war Angst. Sie war endlich zu ihr durchgesickert.

„Du erinnerst dich an Nora?"

„Nora?", wiederholte Paige verwirrt.

„Nora Burke", erklärte Lokesh weiter und streckte mit einer Geste den Arm aus, als wolle er jemanden willkommen heißen. Als sein Blick hinter sie fiel und sich seine Lippen nach oben verzogen, drehte sie sich perplex um und beobachtete das Mädchen, das nur ein Jahr älter war als sie, mit ungläubigen Augen. Nora Burke bewegte sich aus der Ecke des Raumes auf sie zu. Malcolms Verlobte.

Ihre schwarzen Haare waren länger geworden, als sie sie in Erinnerung hatte, und umrahmten ihr blasses, spitzes Gesicht, als sie ein verzehrtes, freundliches Lächeln aufsetzte. „Wie schön dich zu sehen, Paige", sagte sie mit engelsgleicher Stimme.

Paige schüttelte mit dem Kopf. „Was willst du hier?"

„Nun, es wird dir nicht gefallen", begann Nora und ihr Gesichtsausdruck war so lieblich, dass es sie anekelte, während sie neben Lokesh am Lehrerpult stehenblieb. „Aber das Schöne an diesem Plan ist ja, dass du bald nichts mehr davon wissen wirst."

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        „HAT JEMAND VON EUCH zufällig Shakespeare-Kenntnisse?"

„Shakespeare! Das war der Typ, der Hamlet geschrieben hat, danke", rief Silias erleichtert aus, als Harper endlich als erster das Wort ergriff. Remus runzelte verwirrt die Stirn, während er Paige hinterher sah. Er hatte ein komisches Gefühl dabei, vor allem wegen ihres Onkels. Umso wichtiger war es, zu verstehen, was sie gesagt hatte, bevor sie etwas Dummes taten. Oder viel eher, warum sie es gesagt hatte.

„Hat jemand von euch Hamlet gelesen?", fragte Remus angespannt.

Silias schüttelte sofort den Kopf, während Harper langsam nickte. „Ist länger her", gab er zu. „Aber ja, ein bisschen was weiß ich noch."

„Du bist unser Retter", sagte Silias dankbar. „Also: Die Gemeinsamkeit?"

„Keine Ahnung", rief Harper überfordert aus. „Hast du Narnia gelesen?"

Remus nickte. „Alle Teile", entgegnete er.

„Ich auch."

Harper und Remus wurden still. „Also, was ist in Hamlet passiert?", drängte Remus ihn. Sein Kopf drehte sich nur um Paige. Vielleicht war es paranoid, aber ihr Gesicht hatte ihn angefleht, ihre Worte zu entschlüsseln. Und für gewöhnlich waren solche Gedankengänge von ihr geniale. 

„Na ja", begann Harper hastig. Er schien so nervös, dass sich seine Gedanken überschlugen. „Hamlet ist ein Prinz — Merlin, Caspian ist auch ein Prinz!" Als er mit lauter Stimme aufsprang, drehten sich einige Köpfe zu ihm. Silias zog ihn wieder auf seinen Platz zurück.

„Was sollte uns das sagen?", murmelte Remus und schüttelte mit dem Kopf. Paige hatte sich darauf verlassen, dass Harper darauf kam, schließlich war er der einzige mit Shakespeare-Kenntnissen. „Was noch?"

„Er will seinen Vater rächen, weil Claudius, der Bruder des Königs, ihn umgebracht hat. Er..." Harper begann so schnell zu erzählen, wie er konnte, und Remus hörte angestrengt zu, um zu erkennen, wie das mit Narnia zusammenpasste — sie waren beide Prinzen, aber sonst? Oh, Paige, hätte es nicht klarer sein können? „Da gibt es Ophelia, ich weiß nicht, ob das einen Zusammenhang hat. Sie liebt ihn, aber dann bringt Hamlet ihren Vater um und dadurch wird sie verrückt und ertränkt sich."

Silias drehte langsam den Kopf zu Remus herum und verengte skeptisch die Augen.

„Hey, Caspian heiratet eine Frau, die wunderschön und zur Hälfte ein Stern ist", verteidigte er sich schnell. „Da gibt's keine Gemeinsamkeit. Hamlet war ein Arsch zu Ophelia, Caspian war nett."

Silias schien sich mit dieser Erklärung zufrieden zu stellen, wirkte aber etwas frustriert. „Und was ist sonst so mit Prinz Caspian passiert?", fragte er.

„Na ja", begann Remus und atmete tief durch. „Sein Vater wurde auch ermordet, glaube ich."

Aber Paiges Vater ging es doch gut...

„Und du bist sicher, dass du ihn nicht umgebracht hast?", fragte Harper.

Remus sah ihn ungläubig an, bis Harper schnell in einer beschwichtigenden Geste die Hände hob.

„Wie auch immer... Caspian", fuhr Remus fort. „Sein Onkel hat ihn aufgezogen — stimmt, der hat seinen Bruder ermordet — und..."

„Es sind immer die bösen Onkel", warf Silias mit einem Kopfschütteln ein und plötzlich wurde es still am Tisch.

Harper sprang erneut auf. „Es ist ihr Onkel! Leute, sie hatte schon die ganze Zeit ein komisches Gefühl bei ihm und—"

Remus fuhr auf und suchte mit den Augen den Lehrertisch ab. Er brauchte nicht zweimal darüber nachzudenken, ob es das war, was Paige gemeint hatte. Die meisten waren schon gegangen, nur der Lehrer für Wahrsagen saß noch da. „Okay", begann Remus, der versuchte, klar zu denken. „Er ist vermutlich mit ihr in seinem Büro, wir müssen zu McGonagall. Wartet, ich hole die anderen."

James und Sirius brauchten nur die Kurzfassung von Remus zu hören, um alarmiert von ihren Plätzen aufzustehen, und Peter folgte ihnen hastig, während Silias und Harper Ergänzungen einwarfen. „Scheiße, die Karte ist oben", entfuhr es James und Harper runzelte die Stirn.

„Welche Karte?", fragte er.

„Ähm", begann Sirius. „Die Karte von Engla—"

„Wir haben eine Karte gemacht, die jeden in diesem Schloss zeigt und wo er ist", unterbrach Remus ihn und Harper sah begeistert aus.

„Das ist krass, Mann", entgegnete er. „Total genial."

Ähnlich hatte Paige es auch ausdrückt...

„Ich kann sie holen", schlug Peter vor.

James schüttelte mit dem Kopf. „Wir haben keine Zeit, die Karte—"

„Nein, aber wenn ihr vorgeht und sie doch nicht findet, habe ich sie in der Zeit geholt. Ihr braucht mich nicht, das wisst ihr." Peter lächelte ein wenig bedauernd. „Ich bin nicht halb so gut wie ihr."

„Aber nicht weniger wichtig", antwortete James aufmunternd.

„Trotzdem", beharrte er. „Wenn wir Paige wirklich finden wollen und sie nicht in seinem Büro ist..."

„Vielleicht ist sie auch in seinem Klassenraum", warf Silias frustriert ein.

Remus nickte, seine Gedanken drehten sich. Es musste nichts Schlimmes passieren, aber wieso hatte ihr Blick dann so dringlich gewirkt, als sie ihnen versucht hatte, mitzuteilen, was los war? „Dann teilen wir uns auf", beschloss er kurzerhand. „Ihr drei geht zu den Büros und schaut, ob Paige da ist, während einer von euch McGonagall Bescheid sagt." Dann sah er zu Sirius. „Und wir schauen im Klassenzimmer — Wenn Peter die Karte hat, kommt er zu James zu den Lehrerbüros. Falls bei uns nichts ist, kommen wir auch dorthin. Wichtig ist, dass irgendein Lehrer, den wir gut kennen, Bescheid weiß. Jemand, der uns glaubt."

Er hoffte, dass Professor McGonagall das tun würde...

❂ ❂ ❂

       PAIGE VERTRAUTE ihren Freunden und Remus, ja, aber das hieß nicht, dass sie tatenlos auf ihre Rettung warten würde. Ihre Hand war schon vor einigen Sekunden unauffällig zu ihrem Hosenbund gewandert, um nach ihrem Zauberstab zu greifen, wenn nötig — und sie würde nicht zögern, ihn zu benutzen.

Sie konnte das. Sie war besser im Duellieren geworden. Das Problem war nur, dass jemand, der sie unterrichtet hatte, ihre Techniken mittlerweile kannte.

„Also Nora, wieso bist du hier?", versuchte sie, ein wenig Smalltalk und Ablenkung zu betreiben. Sich geschlagen geben, bevor sie zuschlug, konnte nicht schaden.

„Warum ich hier bin?", wiederholte Nora. „Malcolm hat mich darum gebeten."

Paige atmete tief durch. Wer hätte gedacht, dass ihre kleine Verliebtheit aus dem fünften Schuljahr sie einmal hierhin führen würde? Andererseits bot das Paige eine gute Überzeugungsfläche für was auch immer Nora hier vorhatte.

„Okay, Nora...", begann sie langsam und trat ein wenig näher an den Tisch neben ihr heran. „Malcolm hat dich darum gebeten, weil—"

„Oh, weil er besessen von dir ist." Nora sagte es so selbstverständlich, dass Paige die Stirn runzelte. „Davon, dich auf unsere Seite zu bekommen. Er schätzt deine Art zu denken und meint, es wäre Verschwendung, dich bei Dumbledores kleinen Vasallen zu sehen." Nora schnaubte.

„Und du willst ihm einen Gefallen tun, damit ich ihm wieder näher bin?", fragte Paige mit betonter Unschuld. „Ich weiß nicht, aber sollte dich das nicht eher besorgen?"

Nora sah sie lange an und Lokesh lachte, als er sah, wie Paige versuchte, Nora von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Deine Versuche sind ja wirklich zuckersüß, Paige, aber sie steht unter dem Imperius."

All ihre Hoffnung, wenigstens an Noras Gefühle für Malcolm zu appellieren, verpufften wie Rauch vor ihren Augen.

„Du musst wissen", begann ihr Onkel und legte eine Hand auf die Schulter des verfluchten Mädchens. „Noras Großmutter kommt aus Rumänien und ist mit einigen dunklen Zaubern vertraut, die sie ihrer Lieblingsenkelin beigebracht hat. Wenn jemand die Durchführung von Ritualen kennt, die in unserem Land nicht einmal beim Namen genannt werden dürfen, dann sie."

Paige jedoch achtete nur noch am Rande auf seine Worte. Sie analysierte jeden seiner Schritte, wohin er seine Augen wandern ließ, ob seine Aufmerksamkeit ihr galt... Und dann schlug sie zu. Ihr Zauber traf ihn beinahe, hätte er ihn nicht noch rechtzeitig abgewehrt, und sie ließ sich vor einen der Tische fallen, um seinem Gegenschlag auszuweichen. Sie hatte das so oft mit Remus geübt — Instinkt, rief sie sich das schlichte Wort in Erinnerung. Sie konnte das, sie war dabei, das hier zu schaffen.

Das Überraschungsmoment wäre auf ihrer Seite gewesen, würde ebendieses nicht plötzlich sie überwältigen. „Expeliarmus!", hörte sie jemanden von der Seite des Raumes rufen und als ihr Zauberstab in die Hände von Kieron Rookwood flog, konnte sie nicht anders, als ihn stumm anzustarren. Ihr Blick wandelte sich in Erkenntnis, schließlich in Trauer und letztendlich in die Wut einer Betrogenen, die erkannte, verraten worden zu sein. Niemand hatte je den stechenden Schmerz erwähnt, der einen im Angesicht des Verrats mitten ins Herz traf.

Selbst als ihr Onkel sie mit einem Incacerus am Stuhl festband, verließen ihre Augen nicht Kieron, der genau wissen sollte, wie sehr sie ihn gerade verachtete. Wenn es ihm etwas bedeutete. Denn Paige würde gerne glauben, dass dort Schuld in seinem Blick lag, die ihr leider herzlich wenig half.

Irgendwann wandte Kieron den Blick ab.

Paige dachte an Sirius und daran, wie er tatsächlich angefangen hatte, zu glauben, dass er Gefühle für jemanden entwickeln konnte. Für jemanden, der ihn genauso verraten hatte wie sie alle. Und doch... „Du bist trotzdem ein guter Mensch, weißt du?", richtete sie das Wort an ihn und erkannte daran, wie Kieron sie wieder ansah, dass sie sich seine Zerrissenheit nicht eingebildet hatte. Wenn das ihre Chance war...

„Kieron", sprach Nora ihn in diesem Augenblick an. Er schien aus seiner Trance zu erwachen. Sie sortierte irgendetwas auf dem Lehrertisch und ihre Hände bewegten mehrere kleine Gegenstände und Zutaten, wobei sie hin und wieder Beschwörungen zu murmeln schien. Bei dem Gedanken daran, was sie Schreckliches vorhaben musste, wurde Paiges Blick wieder entschlossen. Ihr Onkel behielt sie ständig im Fokus. Unbemerkt konnte sie hier nichts machen.

Kieron bewegte sich zum Schreibtisch und gab seiner liebreizenden zukünftigen Schwägerin etwas in die Hand — etwas, das Paige von hier nicht ausmachen konnte. Es sah aus wie ein rechteckiges Stück Papier, das Nora zwischen ihre Hände nahm, bevor sie mit geschlossenen Augen etwas zu murmeln begann.

Sein Blick fiel noch einmal auf Paige, bevor er kurz ihrem Onkel zunickte und mit entschlossenem Schritt den Raum verließ. Sie biss die Zähne zusammen.

„Willst du denn gar keine Fragen stellen?", fragte Lokesh fast schon ein wenig enttäuscht.

„Nein", antwortete Paige kühl. „Ich will, dass du tot umfällst."

Zu ihrer Überraschung lachte er.

Es war kein Witz gewesen.

Sie konnte hören, wie die Tür hinter ihr erneut geöffnet wurde. Als sie sah, wer den Raum betrat, wollte sie die Augen schließen. Es war Remus. Mit Kieron hinter ihm, der einen Zauberstab auf ihn gerichtet hatte.

Paige runzelte die Stirn. Remus entwaffnet? Kieron war im anderen Kurs für Verteidigung gegen die dunklen Künste gewesen und sie hatte ihn nie im Duellierclub gesehen, aber dass er so gut sein sollte? Und wäre Remus wirklich alleine gekommen? Ihr Herzschlag beschleunigte sich bei dem seltsamen Gefühl in ihrem Magen.

Remus sah sie an, doch sein Blick galt als erstes den Seilen, die um ihre Arme und Beine geschlungen waren, um sie auf dem Stuhl festzuhalten.

„Er scheint Ihnen gefolgt zu sein, Sir", erklärte Kieron und Remus zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht wollte ich auch einfach nur spazieren gehen", entgegnete er trocken.

Da Kieron nach vorne trat, bewegte sich auch Remus mit und Paige versuchte in seinem Blick irgendeine Gefühlsregung zu erkennen, als er fast genau neben ihr stehenblieb. Es war schwer, ihn zu lesen. Doch dann fiel Paiges Blick auf seine Hüfte, über die er den grünen Pullover trug, die sie ihm geschenkt hatte. Und wenn sie sich nicht irrte, sah sie auf dem Stoff an seiner Seite den Umriss des unverkennbar runden Knaufs seines Zauberstabs.

Kieron hatte ihn nicht entwaffnet.

„Lass ihn gehen", sagte Paige mit fester Stimme und als der Blick ihres Onkels auf sie fiel, funkelten ihre Augen entschlossen. Wenn seine Aufmerksamkeit auf ihr lag, konnte Remus...

Und das tat er auch. Sobald Lokesh ihn nicht mehr im Visier hatte, griff er nach seinem Zauberstab und schleuderte einen Fluch auf ihn. Ihr Onkel reagierte gerade noch so und Paige sah zu Kieron, der zu ihrem Stuhl rannte und einen Spruch sprach, um sie von ihren Fesseln zu befreien.

Ja, Kieron hatte ihn tatsächlich nicht entwaffnet — und das war Absicht gewesen. Als er ihn dort mit Sirius im Gang zu dem Klassenraum hatte laufen sehen, hatte er es nicht gekonnt. Er hatte Sirius gestoppt, während die beiden ihn schon mit Fragen überwältigt hatten. Seine einzige Antwort war es gewesen, Sirius zu umarmen, wissend, dass er es ihm nie verzeihen würde, egal, was er nun tun würde.

Sirius war niemand, der gut damit umgehen konnte, solche Gesten zuzulassen, und doch war es der Moment, den Kieron genutzt hatte, ihn schnell außer Gefecht zu setzen. Nicht, dass er damit bei Remus' Anwesenheit weit gekommen war, aber darum war es ihm auch nicht gegangen. Er war das im Kopf durchgegangen — Sirius würde sich nicht daran erinnern, was zwischen ihnen gewesen war, sobald der Plan von Paiges Onkels aufging. Und so ersparte er sich wenigstens Sirius' Reaktion auf seinen Verrat.

Er war froh, dass Remus ihm anschließend noch zugehört und mitgespielt hatte, auch wenn es recht schwer war, zu reden und zu erklären, wenn ihn ein Duellant wie Remus mit dem Gesicht gegen den Boden gedrückt hielt. 

Doch nun kämpfte Kieron mit ihm, was ihm deutlich lieber war. Während er Remus unterstützte, hechtete Paige zu ihrem Zauberstab in der ersten Tischreihe und wich einem Fluch aus, den ihr Onkel ihr entgegen schleuderte. Er hatte nicht die Oberhand im Kampf gegen die drei, aber er wirkte auch nicht so, als wäre er kurz davor, aufzugeben. Natürlich, er war ihr Lehrer. Er wusste, wie sie kämpften.

Nora werkelte seelenruhig daran herum, was auch immer sie plante, und Paige kam vor ihrem Tisch zu stehen, immer noch auf ihren Onkel fokussiert. Nur kurz ließ sie ihren Blick darüber schweifen, was auf dem Lehrerpult lag — und als sie einen der Gegenstände sah, hielt sie inne.

Es war das Bild von ihr und Remus auf dem Weihnachtsmarkt, das sie mit der Polaroidkamera des jungen Paars geschossen hatten.

Erst als Lokesh einen Zauber auf sie schleuderte, reagierte sie wieder. Der Rückprall ließ sie gegen den Tisch krachen, aber sie blockte den Fluch ungenau, aber noch rechtzeitig ab. Kieron jedoch schaffte das beim nächsten Angriff nicht. Mit einem lauten Schlag wurde er gegen die Wand geschleudert und kam auf dem Boden auf. Er bewegte sich nicht mehr.

Remus und Paige richteten weiter ihre Zauberstäbe auf Lokesh. Sie tauchten einen kurzen Blick aus. Die anderen sind bestimmt gleich da, versuchte Remus ihr zu sagen, aber das verstand sie natürlich nicht. Sie mussten ihn nur hinhalten.

Doch sie fokussierten sich auf den Falschen.

Als Nora ihre Hände ineinander schlug und in ihre Richtung bewegte, war es zu spät. Paige keuchte auf, als die Druckwelle sie in den Bauch traf und nach hinten schleuderte. Ihre Welt drehte sich, bevor sie völlig stillstand. Sie schnappte nach Luft, als sie hart auf dem Rücken aufprallte und griff sich panisch an die Brust, als die Versuche, zu atmen, so schrecklich schwer fielen. Ihr Kopf fühlte sich benommen an, aber ihr Onkel griff schon nach ihr, um sie wieder an den Stuhl zu binden. Sie konnte ihre Hände kaum zur Wehr setzen und atmete laut ein, als sich die Bilder vor ihren Augen wieder klar zusammensetzten. Es war, als wäre ihre Seele wieder in ihren Körper zurückgekehrt.

Nora hatte Remus auf einem Stuhl schräg hinter ihr gefesselt und Paiges Blick ruhte auf der Hexe, die sie damals immer als aufgesetzt und oberflächlich wahrgenommen hatte. Dabei war sie mächtig — so mächtig, dass sie ohne Zauberstab zwei Menschen auf einmal hatte überwältigen können.

„Ich dachte schon, du hilfst gar nicht mehr", sagte Lokesh nur zu ihr.

„Ich war beschäftigt", erwiderte Nora knapp, bevor sie zurück vors Lehrerpult ging und die Gegenstände zusammensuchte, die sie vorbereitet hatte. Nur das Foto nahm sie in die Hände und Paige konnte nicht leugnen, dass ihre Gedanken rasten. Sie versuchte, das Zittern in ihren Atem und ihrem ganzen Körper zu unterdrücken, aber ihre Nerven reagierten nicht.

Nora kniete sich plötzlich nieder und atmete tief durch. Sie hob ihre Hände vor die Brust und begann, fremde Worte zu sprechen, die Paige nicht verstand. Sie hatte nie die Urform der schwarzen Magie gesehen, wie sie damals auch in England praktiziert worden war — der wirkliche Ausmaß dunkler Rituale. Noras Körper zitterte vor Anstrengung und ihre Augen verdrehten sich nach oben, sodass nur noch das Weiß in ihnen zu sehen war. Paige wandte ihren Kopf zu Remus um, nicht nur, weil sie den Anblick nicht vertrug.

Ihr wurde kalt, doch sie wusste nicht, ob es an ihrer Magie lag oder nicht. Die Kerzen erloschen.

Remus' Augen fanden sofort ihre und sie spürte ihren Hals ziehen, als sie ihn mit ihren hinter dem Rücken gefesselten Händen so sehr verdrehte. Dann sah sie wieder zu Lokesh.

„Was macht sie?", wagte sie es, zu fragen. Vielleicht war es ihr Eingeständnis einer Niederlage. 

„Keine Sorge", hörte sie die Stimme ihres Onkels, der an sie herantrat. „Du wirst nicht um ihn trauern, wenn er dir nichts bedeutet. Ihr werdet nicht umeinander trauern."

Paige versuchte, ihren Gesichtsausdruck so stark wie möglich zu halten. Sie hatten genug Andeutungen gemacht, damit sie verstand, was er geplant hatte. „Obliviate war dir wohl zu langweilig", spottete sie.

„Nicht effektiv genug", sagte er nur. „Dieser Zauber, den Nora gnädigerweise spricht, wird eure Liebe aus jedem Gedächtnis dieser Welt löschen. Es wird sein, als hätte es sie nie gegeben."

Ihr Herz stoppte kurz. Das würde nicht funktionieren. Kein Zauber konnte... Oh doch, das konnte er. Sie musste sich nichts vormachen. Sie wusste, dass es sehr wohl möglich war — natürlich war es das. Es gab einen Zauber, um zu töten — wenn dunkle Magie Leben nehmen konnte, dann gab es auch Zauber, die über einen simplen Erinnerungszauber hinausgingen.

„Warum machst du das?", fragte Paige. „Wofür das Ganze?"

„Für unsere Familie", antwortete Lokesh und sie konnte in seinen Augen sehen, dass er das wirklich glaubte. „Ich habe einen Bruder verloren und eine intelligente Frau wie deine Mutter musste sterben, weil sie zu liberal war. Das wird dir nicht auch passieren."

„Wo hast du deinen Bruder verloren?", schrie Paige und als Lokeshs Mundwinkel sich zu einem Lächeln formten, wusste sie, dass er es erkannte: Seine Nichte, die mit Tränen in den Augen an den Fesseln um ihre Handgelenke zerrte, war panisch, weil ihr klar wurde, dass sie hier nicht mehr herauskam. In ihrer Brust formte sich ein Knoten aus kaltem Zorn, der sich zu entladen drohte. Sie wollte ihn in Fetzen reißen, als sie ihn dort stehen sah.

„Sir", warf Remus deutlich ruhiger ein. Bei Gott, er und seine beschissenen Manieren. „Ich weiß, dass Sie so lange gegen Werwölfe gekämpft haben und dass Sie vermutlich Schreckliches gesehen haben. Aber ich..." Paige drehte leicht den Kopf zu ihm, als sie hörte, wie seine Stimme brach. „Ich bin kein Monster. Ich will niemanden verletzen."

„Vielleicht bist du das nicht", entgegnete ihr Onkel und machte fast schon ein mitfühlendes Gesicht. „Und es tut mir leid für dich, dass du diese Krankheit mit dir herumträgst. Du scheinst ein netter Junge zu sein, wirklich. Aber ich will das Beste für meine Nichte und das bist nicht du."

„Und das willst du beurteilen können?", fragte Paige, deren Blick ihn in Flammen aufgehen lassen könnte. Er lehnte sich eine Reihe vor ihr gegen einen Tisch. Paige spürte, wie ihre Sicht langsam verschwamm.

„Ich will nur das Beste für dich", erklärte er ruhig. „Verstehst du denn nicht? Wir werden gewinnen, Paige." Die Stimme ihres Onkels klang energisch. „Alle Zeichen deuten darauf. Du wirst also uns helfen, nicht ihnen. Wir werden in seiner Gunst stehen, wenn er gewinnt. Du weißt, was mit den Verlieren passieren wird. Ich will nicht, dass du zu ihnen gehörst."

„Ich werde nie auf deiner Seite stehen", spie sie. „Glaubst du, nur weil ich mit Remus zusammen bin, bin ich gegen Todesser?"

„Nein", antwortete ihr Onkel leichthin. „Aber früher wolltest du dich aus allem raushalten. Das kannst du nicht mit Freunden, die so offensichtlich im Widerstand sein wollen. Ich helfe dir dabei, dein Leben nicht kaputt zu machen."

Paige schnaubte schwach, ihre Augen fielen fast von alleine zu. Dass er diese Information von Kieron haben musste, ging ihr nur kurz durch den Kopf. „Du bist krank", stellte sie schlicht fest.

„Paige", hörte sie Remus' Stimme neben sich und drehte sich ein letztes Mal zu ihm. Sie schüttelte leicht mit dem Kopf, als er angestrengt versuchte, zu lächeln. Noras Beschwörungsformeln im Hintergrund rückten in die Ferne. „Sieh mich an." Sie versuchte, sich nur auf seine Augen zu konzentrieren. „Nichts wird mich vergessen lassen, dass ich dich liebe, okay?"

Sie wollte lachen, aber es kam nur ein leiser Laut über ihre Lippen. „Ich dachte, wir wären zu realistisch, um das zu glauben", murmelte sie.

„Wir finden uns wieder", versprach Remus und in ihren schwirrenden Gedanken kam ihr seine Stimme sonderbar laut und entschlossen vor. „Hör zu, vergiss nicht, dass—"

„Hey, wir sterben noch nicht, hör auf damit", versuchte Paige, stark zu bleiben.

„Dich zu verlieren läuft auf's gleiche hinaus", gab Remus zurück.

Lokesh verdrehte die Augen.

„Scheiße", murmelte Paige, „Wir sind wirklich nicht realistisch, sondern hoffnungslos romantisch."

Remus lächelte leicht, als sie ihn ansah, und in ihren Augen bildeten sich Tränen. Sie wollte es glauben, wirklich. Vielleicht funktionierte der Zauber nicht.

Sie versuchte all die Momente in ihrem Kopf zu bündeln, die sie mit ihm erlebt hatte. Sie dachte an ihr erstes richtiges Gespräch, an die Nervosität, wann immer sie in seiner Nähe gewesen war. Vielleicht gab es keinen festen Augenblick, in dem sie sich in ihn verliebt hatte, aber jeder, der ihn kennenlernte, würde wissen, wie schwer es war, es nicht zu tun. Er war so gütig und liebenswert, dass sie ihm mit jedem Lächeln, das er ihr damals entlockt hatte, mehr und mehr verfallen war. So sehr, dass sie gewusst hatte, wie wert er es war, um ihn zu kämpfen, trotz seiner Zweifel, trotz seiner Besorgnis.

Ja, stimmte sie ihm stumm zu, um alles in der Welt würde ich ihn wieder finden. Den Einfluss, den sie aufeinander gehabt hatten, würde kein Zauber so einfach nehmen können. Und dann kam ihr ein anderer Gedanke: Was war mit Sirius, Peter und James? Wenn sie nie mit Remus zusammen gewesen wäre, wären sie nie Freunde gewesen... Und die letzten Tage mit Sirius waren unnötige Streitereien gewesen. Ein Teil in ihr zerbrach bei diesem Gedanken und sie versuchte, ihre Gesichter vor sich zu sehen, ihre Erinnerungen aufrecht zu halten. Und dann wurde ihr Geist schwächer, die Bilder blasser.

Remus sah sie an, die stumme Hoffnung nicht aufgebend, dass James bald hier war... Dass McGonagall kam... Er hasste sich dafür, so hilflos zu sein, sich geschlagen zu geben. Dass er nichts dafür tun konnte, Paige und ihn vor diesem grausamen Schicksal zu retten.

Er wusste nicht, dass Professor McGonagall tatsächlich auf dem Weg war und James, Peter, Silias und Harper ihnen natürlich folgten, sobald sie ihre Namen auf der Karte gesehen hatten. Doch sie würden zu spät sein... Sie würden vergessen, wohin sie hatten gehen wollen. Wofür die Aufregung gewesen war. Selbst Sirius, der in diesem Moment draußen aufwachte, würde lange darüber nachgrübeln, was er dort auf dem Boden gemacht hatte.

Als Remus' Sicht verschwamm und Noras Stimme erstarb, verlor Paige langsam das Bewusstsein.

Und von einem Moment auf den anderen waren Remus Lupin und Paige Arora Fremde und keine Menschenseele erinnerte sich daran, dass es je anders gewesen war.

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ANMERKUNG

💀💀

Es kommt noch ein Kapitel, don't worry

aber was sagt ihr so zum Finale??

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