45. Hamlet und Prinz Caspian
KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
Hamlet und Prinz Caspian
🌌
PAIGE ERINNERTE SICH KAUM an die Nacht, in der ihre Mutter gestorben war — es gab Zeiten, in denen sie sich an gar nichts erinnert hatte. Und doch hatte ihr Unterbewusstsein ihr irgendwann gezeigt, was sie verdrängt hatte: Dass es ihr Vater war, der dafür verantwortlich war. Doch nun war ein neues Detail hinzugekommen. Ihr Onkel war ebenfalls dort gewesen und das war etwas, was ihr nicht einmal Avan erzählt hatte, seit sie bei ihm lebte.
„Ich war dort, ja", verkündete ihr Onkel, sobald sie sich wieder wie betäubt gesetzt hatte, und in seinen Augen lag ehrliches, verletzliches Bedauern. „Ich habe es miterlebt, wie dein Vater reagierte, als er sie dort fand. Ich habe dich weggebracht, damit du ihr Gesicht nicht ansehen musstest. Nicht, dass man noch viel von ihr erkannte."
Paige schloss die Augen. Sie wollte die Details nicht. Sie wollte nicht hören müssen, wie sie ausgesehen hatte, wie sie gelitten haben musste. Wenn alle ihr sagten, wie ähnlich sie ihr war, wieso hatte sie dann nie das Recht haben dürfen, sie selbst kennenzulernen? Richtig kennenzulernen.
„Und aus diesem Grund...", fuhr ihr Onkel fort. Er zog einen Stuhl heran, um sich ihr gegenüber zu setzen, seine braunen Augen bohrten sich in ihre, „Wirst du sicher verstehen, was ich jetzt sage."
Paige zog die Augenbrauen zusammen und wollte etwas erwidern, als er fortfuhr: „Ich weiß, dass Remus ein Werwolf ist."
Auch wenn es ihr Verdacht gewesen war, stoppte ihr Herz, als sie dieses Geständnis hörte. Die Art, wie er es sagte, klang nicht gut. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, weiter zu atmen, ja keine Schwäche zu zeigen.
„Familie steht für mich an oberster Stelle", erklärte Lokesh ruhig und sah ihr lange in die Augen. Sie vermutete, es sollte seine Aufrichtigkeit beweisen. „Ich bewunderte deine Mutter, Paige. So unkonventionell wie sie auch war, sie war eine außergewöhnliche Frau... mit einem außergewöhnlichen Idealismus. Natürlich verstand sie es nicht. Ich kämpfte Jahre gegen Werwölfe, genau wie dein Vater. Selbst wenn sie in ihrer Menschengestalt niemandem etwas zu leide tun würden, in ihrer Wolfsgestalt tun sie es. Ihre Ausrottung würde allen helfen. All den Unschuldigen, die ihnen zum Opfer fielen. Eine Krankheit will man doch auch ausrotten, wieso nicht diese? Die Pestkranken ließ man auch zurück, damit sie niemanden ansteckten, selbst wenn es die eigene Familie war."
Lokesh nickte, beinahe zu sich selbst. „Dein Vater verstand das. Er wollte es beenden, gleich nachdem er verwandelt worden war. Aber dann traf er deine Mutter und glaubte durch sie daran, ein normales Leben führen zu können. Bis er sie tötete natürlich. Ich habe ihn immer davor gewarnt — es war abzusehen. Glaubst du, es wird dir besser ergehen als ihr? Glaubst du, Remus wird dich nicht eines Tages verletzen, selbst wenn es aus Versehen ist? Irgendwann passiert etwas."
Paige schnaubte ungläubig, eine eisige Hand schien sich um ihr Herz zu legen und langsam zuzudrücken. „Und das ist dein Ziel? Alle Werwölfe zu töten?" Sie würde ihn mit bloßen Händen bekämpfen, um ihn von Remus fernzuhalten, wenn es nötig war.
„Noch brauchen wir sie", erwiderte ihr Onkel ruhig und Paige runzelte die Stirn. Ihr Zauberstab in ihrer Tasche war ihr in diesem Moment mehr als bewusst. Sie könnte schnell nach ihm greifen, ihn auf ihn richten, ihn schocken... Und dann würde sie Avan schreiben und ihr Onkel würde diesen fanatischen werwolfhassenden Mann verhaften.
„Aber ich will, dass du Remus verlässt", fuhr Lokesh fort. „Ich will, dass du das Familienerbe fortführst, uns unterstützt und dich selbst schützt."
„Damit schütze ich nicht mich selbst", sagte sie ruhig. „Der Trank meiner Mutter—"
„—hat beim letzten Mal ja wunderbar funktioniert."
Paige schwieg und versuchte zu erkennen, ob er das tatsächlich glaubte, was er da von sich gab. „Deswegen forscht man an so etwas. Es hat schließlich nicht viel gefehlt."
„Vielleicht war es das, was deine Mutter vor ihrem Tod dachte", sinnierte Lokesh und nun war der Moment erreicht, in dem Paiges Augen wütend funkelten.
„Du beleidigst ihr Erbe, nicht ich", fuhr sie ihn an und erhob sich von ihrem Stuhl. „Wie willst du mich zwingen, mich von Remus zu trennen? Du würdest es sowieso nicht glauben, wenn ich losgehen und nur so tun würde. Was ist dein genialer Plan?"
Sie verstand, dass es nichts brachte, mit ihm zu diskutieren.
„Du willst dich nicht mit mir anlegen", gab Lokesh leise zurück und sein Gesicht zierte ein viel zu entspanntes Lächeln, das klar machte, wie sicher er sich seiner Sache war. Diese Ungerührtheit ließ Paige einen Schauer über den Rücken laufen. „Du wirst sehen."
„Woher weißt du, dass ich nicht zu einem Lehrer oder Avan gehe, sobald ich hier draußen bin und du heute hier mit gefesselten Händen herausgehst?", fragte sie herausfordernd.
„Gut, bitte." Ihr Onkel machte eine einladende Geste und deutete auf die Tür. „Für den Fall meiner Verhaftung habe ich genügend Leute hier in Hogwarts auf meiner Seite."
Paige runzelte die Stirn.
„Ach, meine gutgläubige, liebe Nichte", lachte er, bevor er seine Hand hob, um seinen linken Ärmel zurück zu schieben. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, als sie das wabernde Dunkle Mal auf seinem Arm drohend vor sich sah. Die Fratze des Totenkopfs schien sie zu verhöhnen. Wie hatte sie so blind sein können? „Lass mich verhaften und dein kleiner, lieber Cousin ist der erste, der stirbt." Er rollte seinen Ärmel zurück.
Paige wurde kalt. Aber selbst wenn das stimmte, würde sie immer noch schnell genug sein können, um Ravi hier rauszuschaffen. Professor McGonagall würde sicher die Auroren benachrichtigen und zur Not würden sich die Lehrer selbst der Sache annehmen. Ravi wäre in Sicherheit, wenn das alles vorbei wäre. Darauf musste sie sich verlassen.
Ihr war bewusst, dass sie in dieser Sekunde nichts tun konnte. Er musste glauben, dass seine Drohung ihr so viel Angst machte, dass sie sich davon einschüchtern ließ.
„Die Wahrheit ist", fuhr er fort. „Ich will, dass du uns unterstützt."
Paige hob die Augenbrauen, bedacht darauf, nach außen ruhig zu bleiben. „Uns?", wiederholte sie.
Lokesh seufzte. „Ich dachte, dir zu offenbaren, dass ich ein Todesser bin, würde das Uns klarer machen", entgegnete er sarkastisch.
Für einen Moment wünschte sie sich, einfach aufzuwachen oder über diese Situation nur in einem Buch zu lesen. Das konnte doch nicht passieren. Sie... Sie konnte nicht so direkt in diesem Krieg stecken, obwohl sie noch nicht aus Hogwarts raus war. Es war zu früh, sie war doch noch nicht so weit.
Ihre Augen fixierten ihn entschlossen, doch er lächelte nur spöttisch.
„Du willst ihn nicht verlassen, weil du ihn so sehr liebst, ich weiß", höhnte ihr Onkel. Ja, wollte Paige sagen, scheinbar verstehst du nicht, was das bedeutet. Aber sie konnte es nicht. „Wenn du ihn liebst, wünschst du dir sicher nur das Beste für ihn, nicht? Was glaubst du, wie seine Zukunft aussieht, wenn ich ihn als Werwolf registrieren lasse? Willst du daran Schuld sein, wenn ich ihm das antue?"
Paiges Welt stand für einen Moment still. Es war leicht, in Büchern über solche Situationen zu lesen und umso leichter, über sie zu urteilen. Was die Bücher vergaßen, war der Schock darüber, dass das wirklich geschah, die Scham, weil man nicht wusste, was man tun sollte, obwohl man sonst immer eine Lösung hatte, und die Hilflosigkeit, die man beim Anblick einer Person empfand, der man einmal vertraut hatte.
Was würde sie einer Buchfigur raten? Mit Remus zu reden? Vermutlich. Sie würde das hier nicht alleine lösen oder sich gar von ihm trennen, um ihn zu schützen. Das würde sie nicht ohne ihn entscheiden. Sie würden eine Lösung finden, wenn ihr Gehirn nicht aussetzte, weil ihre Atmung aussetzte.
Aber wenn Lokesh das herausfand... Wenn er ihn wirklich registrierte oder Ravi etwas passierte, nur weil sie etwas sagte...
„Und du denkst, damit hättest du mich auf deiner Seite?", fragte Paige ruhig.
Lokesh schien ihre Fragen zu mögen. Sein Lächeln zeigte Amüsement. „Versuch es", entgegnete er. „Erzähl ihm hiervon und du wirst sehen, was passiert. Mach dir keine Sorgen, ich zeige dir bald, wie viel Einfluss ich habe."
Und damit erhob er sich und ließ sie in seinem Büro zurück, das sich plötzlich um einiges kälter anfühlte.
❂ ❂ ❂
SIE WUSSTE NICHT, was der Hauptgrund war, warum sie niemandem davon erzählte. Es gab genügend. Vielleicht, weil es ihr immer noch surreal vorkam? Weil sie nicht wusste, wie sie es sagen sollte? Weil sie kein Wort herausbekam, sobald sie darüber sprechen wollte? Weil sie abwarten wollte, was ihr Onkel mit Ich zeige dir bald, wie viel Einfluss ich habe gemeint hatte, bevor sie irgendetwas Dummes tat? Sie hatte Angst — und das eigentlich hauptsächlich wegen Ravi. Der Gedanke, dass ihm etwas zustieß, weil sie unvorsichtig war, brachte sie um. Jedes Mal, wenn Remus ihr einen Kuss auf die Schläfe gab oder sie sich an ihn lehnte, zog sich ihr Herz zusammen. Wie weit würde Lokesh wirklich gehen?
Er hatte seitdem nichts mehr gesagt oder das Gespräch mit ihr gesucht. Der einzige Vorteil war, dass sie sich nun nicht mehr so viel über Sirius den Kopf zerbrechen musste, mit dem sie immer noch weniger redete.
Der einzige Lichtblick kam in der folgenden Woche. Ein Brief landete auf ihrem Tisch und Paige betrachtete das fremde Siegel auf der Rückseite, bis sich ihre Augen weiteten. Sie verschluckte sich fast an dem Huhn in ihrer Suppe und hustete wild, als Silias ihr auf den Rücken schlug.
„Soll ich Remus holen?", fragte Harper, als er aus ihren Worten verstand, dass es sich um einen Brief der Zaubertrankakademie handelte.
Sie schüttelte schnell den Kopf. „Ich muss ihn jetzt aufmachen", sagte sie, als sie halbwegs wieder reden konnte. Mit einem tiefen Durchatmen gab sie den Brief Harper. „Du musst."
„Paige, das entscheidet über mein ganzes Leben, bist du sicher—?"
„Du bist mein ganzes Leben", gab Paige fast schon etwas panisch zurück.
„Okay okay." Harper erkannte wohl, dass Rationalität jetzt nichts brachte. „Ich mach schon auf." Sonst machte Paige sich immer darüber lustig, wie fein säuberlich er Briefe aufmachte, weil sie ihre immer zerfetzte, als hätte eine Eule an ihnen herumgerissen, heute aber war sie dankbar, dass er dieses wichtige Stück Pergament nicht beschädigte.
Paige schloss die Augen, als er das gefaltete Formular herauszog, und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Und?", fragte sie, als selbst nach ein paar Sekunden kein Freudenschrei folgte, der ihr Trommelfell attackierte.
Sie hörte das Pergament knistern, als Silias sich scheinbar nach vorne beugte, um es Harper aus der Hand zu nehmen. Unsicher ließ Paige ihre eigenen Hände nach unten wandern. Ihr Herz sank, als wöge es fünf Tonnen, als sie ihre Blicke sah. Okay, sie verarschten sie sicher. Richtig?
„Was ist denn?"
Aber es folgte kein freudiges „Du hast es geschafft!", als hätten sie sie hingehalten, es folgte nur Silias' und Harpers unentschlossener Gesichtsausdruck, bevor Silias ihr den Brief reichte. Ihre Hände zitterten verunsichert, als sie ihn entgegennahm.
Sehr geehrte Ms. Arora,
Nach ausführlicher Begutachtung Ihrer Bewerbung bedauern wir, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihnen keine Aufnahme an der Flamel Akademie für Zaubertränke und Alchemie gewähren können.
Wir bedanken uns für die Zeit und Energie, die Sie in Ihre Bewerbung gesteckt haben, und gratulieren Ihnen für Ihre bisherigen akademischen Errungenschaften. Die Zahl der Bewerber war in diesem Jahr hoch und machte uns eine Entscheidung sehr schwer, da uns nur limitierte Plätze zur Verfügung stehen.
Paige las nicht weiter und ließ schweigend den Brief in ihrer Hand auf den Tisch sinken. Sie blinzelte und erwartete, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Doch ihr Inneres fühlte sich einfach nur leer an. Es war ihr Traum, seit sie dreizehn war, es war alles, worauf sie hingearbeitet hatte. Und so blöd es sich anhörte, sie war sich sicher gewesen, angenommen zu werden.
„Jetzt kannst du Remus holen", hörte sie Silias zu Harper sagen und als Harper zu ihr sah, nickte sie schwach. Paige legte den Brief zur Seite und aß schweigend weiter, während sie ihre Gedanken sortierte. Das... Das musste ein Fehler sein. Nicht einmal auf die Warteliste? Einfach eine Absage?
Sie zuckte zusammen, als Remus von hinten seine Hände auf ihre Arme legte und sich vorsichtig neben sie setzte. „Paige...?", fragte er leise, als sie einfach weiter ihre Suppe löffelte und ihr Gesicht keine Gefühlsregung zeigte. „Alles in Ordnung?" Harper hatte es ihm wohl schon gesagt.
„Mein Leben hat nur gerade seinen Sinn verloren", erwiderte Paige entspannt. „Natürlich ist alles in Ordnung."
Remus wollte sie an sich ziehen und sie umarmen, doch Paige stieß ihn schnell von sich. „Nicht hier", gab sie grob zurück und Remus, der wusste, dass sie nur nicht hier einen Gefühlsausbruch bekommen wollte, mitten im Gelächter und Geschnatter der anderen Schüler, nickte nur besorgt.
Ihr Kopf bewegte sich zum Lehrertisch und blieb an Professor Slughorn hängen, der ihr eine wundervolle Empfehlung geschrieben hatte, genau wie Professor McGonagall. Erst dann fiel ihr auf, dass ihr Onkel sie direkt anblickte. Er lächelte und hob seinen Kelch, als wolle er anstoßen.
Und da wusste Paige, dass das sein Werk war. Es war kein Zufall gewesen. Es war ihr Onkel, der daran Schuld war. Es lag nicht wirklich an ihr.
„Remus...", begann sie und drehte sich hastig zu ihm um, doch dann wandte sie sich an alle ihre Freunde. „Ich muss euch was sagen." Sie atmete tief durch, unsicher nach den richtigen Worten suchend. „Mein—"
„Paige."
Eine Gänsehaut überkam sie, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte. Langsam drehte sie sich zu ihrem Onkel um, der vom Lehrertisch direkt zu ihrem Tisch gekommen war. Das war wohl der Nachteil, direkt vorne zu sitzen...
Und dann tat sie, was man einer solchen Situation eben tat: Sie lächelte lieblich. Sie spielte mit. „Ist alles in Ordnung?", fragte sie höflich.
„Ja", antwortete ihr Onkel, der langsam den Blick über den Brief in ihrer Hand schweifen ließ. Ihre Muskeln versteiften sich. „Ich wollte kurz mit dir reden... Jetzt."
Paige erhob sich beinahe sofort und strich ihren Rock glatt. Sie spielte mit — und als Ravenclaw plante sie ihre Züge, bevor sie bluffte. „Ich bin gleich wieder da", sagte sie grinsend zu ihren Freunden. „Und vergesst nicht, worüber wir gerade geredet haben — die Gemeinsamkeit zwischen Hamlet und Prinz Caspian wird mir auch zum Verhängnis."
Ihre Freunde sahen sie an, als wäre sie verrückt geworden, doch Paige wandte sich schon zum Gehen. Ihr Onkel schien sich dabei nichts zu denken.
„Prinz Caspian?", fragte Remus verwirrt.
Paige fuhr ihm durch die Haare und sah ihn ernst an. „Von Narnia", ergänzte sie mit einem Lächeln und strich ein letztes Mal mit ihrem Daumen über seine Wange.
Ein Teil ihres spontanen Plans bedeutete, sich auf die Intelligenz und Literaturkenntnisse ihrer Freunde zu verlassen. Nun, vielleicht war sie in diesem Fall nicht ganz verloren...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top