16. Imaginärer Onkel
KAPITEL SECHZEHN
Imaginärer Onkel
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PAIGE HATTE die ganze Aufregung um den Jahreswechsel und Vorsätze für die kommende Zeit nie verstanden — wofür brauchten die Menschen eine neue Zahl im Kalender als Anstoß dafür? Doch dieses Jahr wollte auch sie sich etwas vornehmen: Sie wollte offener sein und aufhören alles zu überdenken, bevor sie es kaputt machte.
Zugegeben, dabei ging es hauptsächlich um Remus. Nach ihrem ersten Kuss hatte Paige mit einem breiten Grinsen im Bett gelegen und sich beim Abendessen bemüht, nicht durchleuchten zu lassen, dass sie ihre Familie am liebsten umarmen würde, um ihre Freude irgendwie zu kompensieren. Dann hatten sich die ersten zweifelnden Gedanken in ihren Kopf geschlichen.
Sie wollte nach Hogwarts nach Irland gehen — die Akademie für Zaubertränke und Alchemie wäre ein Ort, um jemanden kennenzulernen, mit dem man sich eine Zukunft aufbaute. Was, wenn es gut zwischen ihnen laufen würde und sie zu lange voneinander getrennt werden würden? Er wollte den Widerstand gegen Voldemort unterstützen... sie nicht.
Paige war sich bewusst, dass es nicht der Zeitpunkt war über solche Dinge nachzudenken, da sie sich nur einmal geküsst hatten. Aber sie mochte ihn wirklich. Gerade deswegen hatte sie beschlossen ohne zu viele Grübeleien an die Sache heranzugehen. Sie waren im sechsten Schuljahr und konnten sich über die Zukunft später Gedanken machen, richtig? Zu einem Zeitpunkt, an dem es ein Später gab.
Es war der 6. Januar und Paige hatte bereits Schwierigkeiten mit diesem Vorsatz. Mittlerweile war der erste Donnerstag nach den Ferien und bis auf den ersten Schultag, wo sie ihn kurz gesehen hatte, ließ Remus sich nicht blicken. Die Tatsache, dass es ihm völlig egal zu sein schien, frustrierte sie.
„Sirius, es ist wichtig." sagte sie mit fester Stimme, als sie ihn auf dem Weg zu Pflege magischer Geschöpfe abfing. Augenblicklich musste sie sich ihn dabei vorstellen, wie er einen Bowtruckle jagte und sich vernarrt um einen Hippogreif kümmerte, was eine köstliche Vorstellung war.
„Stalkst du mich etwa?" fragte Sirius mit einem Grinsen. „Weißt du, du hättest dich auch in die Liste eintragen können, um ein Gespräch zu vereinbaren."
Paige hob eine Augenbraue. „Ich sage dazu am besten nichts." merkte sie trocken an. „Ich wollte nur fragen, wo Remus ist. Ich habe ihn seit den Ferien nur einmal gesehen und... naja..."
„Du würdest gerne weiter knutschen?" bot Sirius an und legte einen Arm um sie. Paige wehrte sich spielerisch, gab aber mit einem Seufzen nach, als er sich die Hand auf die Brust legte. „Ich hatte übrigens auch wunderschöne Ferien. Das erste Weihnachten, an dem ich nicht angesehen wurde, als wäre ich ein Gryffindor, der nur mit Blutsverrätern befreundet ist. Oh warte, der bin ich ja auch. Wie gütig, dass du nachgefragt hast."
Er sagte dies mit Leichtigkeit in der Stimme, aber gerade das machte es für Paige so schwer darauf zu reagieren. „Ach Sirius... Ich hätte dich doch spätestens bei den Verwandlungs-Hausaufgaben gefragt, wenn unser gemeinsamer Montag nicht für die Zugfahrt draufgegangen wäre, hm?" Sie fuhr ihm mit einer gespielt sanften Geste über den Arm und sah amüsiert zu ihm auf.
Mit einem leichten Lachen tätschelte er ihren Rücken und ließ sie anschließend wieder los. „Also, was führt dich zu unserem geliebten Remus?"
„Er hat mir gesagt, er würde sich meinen Aufsatz in Verteidigung gegen die dunklen Künste durchlesen, bevor ich ihn abgebe... und ich dachte schon, ich hätte jemanden gefunden, der mich nach meinen schlaflosen Vollmonden ein wenig mit Harper aufbaut, aber er war ja immer krank."
Mitten im Redeschwall bemerkte sie nicht, wie Sirius sich leicht versteifte. „Und ja, bevor du mich weiter so vorwurfsvoll ansiehst, ich will ihn natürlich auch wiedersehen." gab sie zu und von ihm schien die plötzliche Anspannung abzufallen, als er sie anlächelte.
„Das habe ich mir gedacht nach eurem Date."
Sie verdrehte bei seinem Tonfall die Augen. „Er hat dir davon erzählt?"
„Paige, ich erkenne einen Jungen, der gerade mit jemandem rumgemacht hat. Er genießt es vielleicht schweigend, aber dieses Grinsen... das sehe ich sofort."
„Wir haben uns geküsst. Nenn es nicht Rummachen." schnitt Paige ihm etwas empfindlich das Wort ab, während Sirius sich mit seinen Fähigkeiten brüstete. „Also, was ist mit ihm?"
„Süß, wie du dich sorgst."
Paige warf ihm einen genervten Blick zu.
„Er ist krank. Fieber, Schnupfen... eklige Angelegenheit."
„Du musst nicht mit der Ausrede ankommen. Er hat es mir erzählt." entgegnete sie leichthin und Sirius verschluckte sich förmlich an der Luft.
„Er...?" begann er, ungewöhnlich aus der Fassung gebracht. „Du weißt es?"
„Ja. Und ich meine, er kann ja nichts dafür und es ist auch verständlich, dass er sich solche Sorgen deswegen macht."
Das erste Mal, seit sie Sirius kannte, erlebte sie ihn sprachlos. „Bis wir dahinter kamen, hat es lange gedauert." Er hielt kurz inne. „Er macht sich ziemliche Selbstvorwürfe und ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht für ihn ist, aber cool, dass du darüber stehst. Klar, es war ein Unfall und er kann nichts dafür, aber es gibt genug Leute, die... naja..." sagte er überrascht und nun verzog Paige verwundert das Gesicht.
„Ein Unfall?" Bei Paiges Gesichtsausdruck sah Sirius erst irritiert und schließlich schockiert aus. „Seine Mutter ist wegen eines Unfalls krank?"
„Hope ist krank?" entfuhr es ihm entsetzt.
„Darum ging es doch gerade." Paige trat ein wenig verunsichert zurück und als sie sah, wie Sirius' Ausdruck sich veränderte und neutraler wurde, zog sie misstrauisch die Augenbrauen zusammen. „Oder nicht?" schob sie skeptisch hinterher.
„Ich wusste nur nicht, dass er dir davon erzählt hat." sagte er schnell und lachte betont locker.
Irgendetwas stimmte nicht. Wenn Sirius Black unsicher lachte, war etwas im Busch.
❂ ❂ ❂
„Hey Peter!"
Paige war nicht blöd. Sie würde sich keine Lügengeschichte von Sirius aufbinden lassen, nur weil er der Ansicht war, sie würde sie ihm ohne weiteres abnehmen. Er war immer noch in Pflege Magischer Geschöpfe und bevor er irgendetwas mit seinen Freunden abklären könnte, würde sie sie selbst abfangen.
Jemand schien es gut mit ihr zu meinen. Peter hatte mit ihr gemeinsam eine Freistunde und saß in der Großen Halle.
„Hallo Paige." erwiderte er, mittlerweile viel selbstsicherer in ihrer Nähe, als sie sich neben ihn setzte. Paige mochte Peter. Er war besessen von Comics, Musik und Filmen aus der Muggelwelt und es hatte sie reichlich überrascht, dass er daran die Schuld trug, dass Sirius Queen und Pink Floyd so sehr vergötterte. James sah meistens verwirrt aus, wenn Peter Referenzen zur Muggelkultur machte, da er bis auf Sirius' Musik überhaupt keine Ahnung von nichtmagischen Dingen hatte. Während Peter ihn unabsichtlich verwirrte, streute Remus hin und wieder Kommentare ein, die darauf bewusst abzielten.
Peter las nicht viel, aber was Filme anging, konnte sie sich ausgiebig mit ihm unterhalten. Sie bereute es häufig, Muggelkunde abgewählt zu haben, da sie sich für eine Hexe nicht schlecht mit ihnen auskannte.
„Hast du eigentlich schon die Hausaufgaben für Arithmantik gemacht? Ich habe nur ein Buch zu dem Thema gefunden und es ist so schwammig erklärt." begann Paige nachzufragen, da sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte.
„Ich wusste auch nicht, wie wir das machen sollen. Ich wollte Professor Vector nochmal deswegen fragen." antwortete Peter und Paige lächelte leicht, da er sehr viel mit seinem Händen sprach. James tat dies auch und schien trotz seines Selbstbewusstseins regelmäßig damit zu hadern, was er sagen sollte. Sein Problem war, dass er zu viel redete und seinem Gehirn freien Lauf ließ — Paige konnte ihn immer besser nachvollziehen, wenn sie bei ihm war.
„Gut, dann bin ich nicht die einzige, die das nicht verstanden hat."
„Wenn du es nicht verstehst, wird Professor Vector bestimmt nochmal darauf eingehen." sagte Peter und sah mit einem leichten Lächeln zu ihr, das Paige verlegen erwiderte.
„Sag mal, weißt du, wo Remus ist? Ich suche ihn schon die ganze Woche."
Wenn sie eben noch unsicher gewesen war, ob sie zu paranoid reagierte, war ihr spätestens jetzt klar, dass Remus' Freunde etwas vor ihr verbargen. Peters Blick flatterte unruhig umher und Paige erkannte jemanden, der sich eine Antwort aus den Fingern zog, sofort.
„Der ist auf der Beerdigung seines Onkels." sagte er schließlich schnell und Paige setzte ein betroffenes Gesicht auf, als würde sie diese Neuigkeit mitnehmen.
„Danke dir, Peter." Sie lächelte sanft. „Wo ist denn James?"
„Der hat Kräuterkunde."
Perfekt.
❂ ❂ ❂
Harper war immer der erste Schüler, der den Klassenraum verließ. Das war im Normalfall gut, wenn sie auf ihn wartete, aber wenn sie zusammen Unterricht hatte, war er schrecklich ungeduldig, weil sie ihre Sachen ewig zusammenpackte und meistens noch fünf Minuten mit ihren Lehrern redete.
„Und auf zu Verwandlung." sagte Harper mit gespielter Motivation und wollte sich schon mit ihr auf den Weg machen, als sie ihn unterbrach.
„Ich muss noch was mit James klären. Du wartest doch bestimmt noch, oder?"
Harper nickte mit unverhohlener Neugier, fragte aber nicht weiter nach, da er sich sicher war, dass sie ihm später davon erzählen würde. Früher oder später rückte sie immer damit raus, was in ihrem Kopf vorging.
Als James endlich aus dem Gewächshaus kam, stellte sie sich ihm direkt in den Weg.
„James, mein Liebling?" machte sie ihn auf sich aufmerksam und James strahlte sie an, als er neben ihr stehen blieb.
„Ja, Schätzchen?" entgegnete er lieblich und Paige erwiderte sein Grinsen mit schief gelegtem Kopf. „Was bedrückt dich?"
„Verrätst du mir, wo Remus ist?"
„Es ging seiner Mutter wieder schlechter..." antwortete er sofort — ein wenig zu schnell nach Paiges Geschmack.
„Hm." entgegnete sie leise und auch, wenn sie schnell lächelte, um ihre Gedanken nicht zu zeigen, hätte sie frustriert schreien können. Laut James ging es also seiner Mutter schlecht, laut Peter war sein Onkel gestorben und laut Sirius war er krank... und bei Erwähnung war der Grund doch seine Mutter. „Danke James..."
Sie brachte nicht die Kraft auf, länger so zu tun, als wäre sie dankbar für die Antworten, die sie bekommen hatte, wenn es offensichtlich nur Lügen waren. Doch viel größer als ihr Ärger war ihre Verwirrung: Wieso logen sie? Was war wirklich mit Remus los?
❂ ❂ ❂
„Du solltest mit Paige reden." sagte James über seine Zeitung hinweg, kaum dass Remus am Freitag Morgen anfing zu frühstücken.
„Das hatte ich vor." entgegnete er knapp und runzelte die Stirn, als Sirius, James und Peter sich einen Blick zuwarfen, als hätten sie etwas ausgeheckt. Normalerweise war Remus in die Sache eingeweiht... er war es meistens, der die Ideen hatte, die James so makellos umsetzte. Dass sie ihm etwas verheimlichten, hieß nichts Gutes. „Was ist passiert?" fragte er skeptisch und James fuhr sich durch die Haare.
„Weißt du, Moony..."
„James." unterbrach er seinen Versuch eine Ausrede zu finden und sah zu Sirius, der ihn unschuldig ansah.
„Sie hat uns völlig überrumpelt. Wir konnten überhaupt nicht—"
„Was ist passiert?" Remus sah ernst zwischen den drei Gryffindors hin und her, bis Peter zu James sah und nachgab.
„Sie hat uns alle gefragt, wo du bist." begann er zögerlich und Remus hob die Augenbrauen. Er hoffte inständig, dass seine Freunde nur übertrieben, denn wenn Paige es wüsste... Er wusste nicht, ob er damit leben könnte, wenn sie ihn deswegen hasste. Oder schlimmer: Ihn trotzdem wollte und er sie von sich stoßen müsste. Vielleicht wäre es gut so. Er hätte sich nicht darauf einlassen sollen und die Tatsache, dass er ein Monster war, ignorieren. Es war egoistisch gewesen.
„Und ihr habt was gesagt?" versuchte er es weiter, etwas aus ihnen herauszukriegen. Schließlich war es Sirius, der ihm eine Antwort lieferte
„Nachdem sie mich gefragt hat, wollte ich sofort den anderen sagen, dass wir die gleiche Ausrede verwenden sollen, aber sie hat wohl was geahnt und James und Peter schon gefragt, bevor ich sie warnen konnte und wir haben wohl alle andere Ausreden benutzt." ratterte er ohne Punkt und Komma seine Erklärung runter und Remus fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Sie wird es bestimmt rauskriegen." murmelte er pessimistisch und Peter warf ihm einen aufmunternden Blick zu.
„Wir haben zwei Jahre mit dir zusammengelebt und nichts geahnt." redete er ihm gut zu und Remus lachte verzweifelt.
„Wir sind auch aus einem Grund nicht in Ravenclaw." antwortete er und hörte sich viel zu ruhig an. Doch dann warf er die Serviette frustriert von sich weg und als er schnell ein- und auszuatmen begann, zögerte James nicht. Er kletterte unter dem Tisch hindurch, um sich neben ihn zu setzen und ihn zu beruhigen.
„So schlimm war es nicht, versprochen." sagte James mit sanfter Stimme und Remus warf ihm einen kurzen Blick zu.
„Warum wollt ihr mir dann nicht erzählen, was genau ihr ihr gesagt habt?"
„Ich habe ihr gesagt, es ginge um deine Mum." antwortete James leichthin.
„Ich habe gesagt, du wärst krank und als sie meinte ‚Haha ja genau...'" Er imitierte ihre Stimme und macht ihr Lachen nach. „‚Ich weiß, was wirklich los ist.' war ich nur kurz irritiert, aber dann hat sie mir erzählt, dass sie das mit deiner Mum weiß und ich habe natürlich so getan, als hätte ich nur dein Geheimnis bewahren wollen."
„Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass du das wunderbar bewerkstelligt hast." entgegnete Remus trocken und nun sahen sie alle zu Peter. „Was hast du ihr erzählt?"
„Dass..." Peter wich seinem Blick unruhig aus und seine Stimmlage wurde mit jedem Wort höher. „...dein Onkel gestorben ist?"
„Die Beerdigung meines imaginären Onkels rührt mich immer noch zu Tränen." kommentierte Remus seine Antwort betont ruhig, hielt inne und atmete schließlich angespannt aus. „Aber wenigstens weiß ich jetzt, warum ich mit ihr reden soll." Da lief etwas in seinem Leben einmal gut und es wurde ihm so schnell entrissen... Vielleicht war das sein Schicksal. Vielleicht war es nur gerecht.
„Reden." Sirius malte Anführungszeichen in die Luft und grinste vielsagend.
James warf ihm einen ernsten Blick zu. Anscheinend hatte er erkannt, dass Remus jetzt nicht nach seinen Scherzen zumute war. „Reden." stimmte James zu. „Aber erst isst du deinen Toast. Du lagst einen ganzen Tag im Krankenflügel. Beim letzten Mal hat eine morgendliche Kontrolle bei Madam Pomfrey gereicht und du konntest zurück zu uns."
Remus runzelte die Stirn und warf ihm einen befremdlichen Blick zu. „Deine Fürsorge ist ja wirklich rührend, Krone, aber—"
„Iss dein Frühstück."
❂ ❂ ❂
Als Paige Remus am nächsten Morgen mit den Rumtreibern am Gryffindor-Tisch sitzen sah, wandte sie sich mit einem missmutigen Zusammenpressen ihrer Lippen ab und stellte mit unbeabsichtigter Wucht ihren Teller auf dem Tisch ab.
„Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung." kommentierte Harper ihre Reaktion und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Es ist nur... Ich mag ihn wirklich. Und das macht mir sowieso schon Angst genug, also muss jetzt nicht noch die Scheiße anfangen." sagte sie, während sie griesgrämig in ihrem Pancake herumstocherte.
„Ach Paige..." Harper sah sie mitfühlend an und Paige imitierte seinen leidenden Blick mit einem Schmollmund. „Er ist übrigens auf dem Weg zu dir."
„WIe schö—" Sie unterbrach sich mit großen Augen und drehte sich um, bevor sie sich unter ihrer Hand versteckte.
„Paige, jetzt reiß dich zusammen." meinte Harper und sie hob ihre Hand in einer amüsierten Geste.
„Sagst du?" Sie erinnerte sich an gestern Nachmittag, an dem Harper völlig aufgelöst erzählt hatte, dass Calista auch Heilerin werden wollte und er sie vielleicht im St. Mungos wiedersehen würde. Die Stimmung zwischen den beiden war wohl immer noch... seltsam.
„Morgen, Paige."
Paige hatte zeigen wollen, dass sie sich zurückgewiesen fühlte und sie niemand war, mit dem man so eine Nummer abzog, aber als sie Remus' warme, tiefe Stimme hinter ihr hörte und sich eine Gänsehaut über ihren Körper zog, konnte sie überhaupt nicht abweisend reagieren.
„Morgen." entgegnete sie mit belegter Stimme und drehte sich zu ihm um. Er lächelte und schien sich unsicher zu sein, wie er sich verhalten sollte. Um ihm die Sache zu vereinfachen, schwang sie ihre Beine über die Bank und stellte sich vor ihn. „Können wir reden?"
Remus nickte, während sein Blick unbeholfen von ihren Augen zu ihren Lippen huschte. Auch Paige war unsicher, wie die angemessene Begrüßung aussah, nachdem er sie erst geküsst, anschließend eine Woche verschwunden war und diese Abwesenheit von widersprüchlichen Geschichten gestützt wurde.
Sie verließen die Große Halle und während sie ein paar Schritte nebeneinander hergingen, ergriff Remus das Wort. „Okay... ich hätte dir vermutlich diese Woche wenigstens etwas sagen sollen, bevor ich wortlos verschwunden bin." begann er und mit einem Schulterzucken nickte Paige. Sie sah auf den Boden, bemüht darum, sich nichts ansehen zu lassen, wo sie doch selbst viel zu verwirrt war, um zu wissen, was sie denken sollte.
„Hättest du vermutlich." wiederholte sie so trocken wie möglich, doch ihre Mundwinkel zuckten leicht, als sie sah, wie Remus sich unsicher durch die Haare fuhr. Diese Geste bei ihm und nicht nur bei James zu sehen war überraschend.
„Ich habe selbst den Jungs nicht alles erzählt, bevor ich gegangen bin. Es kam sehr überraschend und... okay, ich hör auf mich zu rechtfertigen: Es tut mir leid." Er blieb stehen, was auch Paige dazu brachte, innezuhalten und ihm in die Augen zu sehen. „Du hasst mich vermutlich. Ich habe mich wie ein Riesen Idiot verhalten... erst haben wir uns in den Ferien..."
Als er mit den Händen fuchtelte und nach dem Wort zu suchen schien, lächelte Paige sanft. „—geküsst?" schlug sie vor und Remus nickte.
„Ja."
„Ja." stimmte sie leise zu und er schien erleichtert, als er sie wieder lächeln sah. „Ich hasse dich doch nicht."
Das solltest du vielleicht, dachte Remus bitter. Wieso konnte er sie nicht von sich stoßen, so wie es richtig wäre?
„Ich dachte schon, ich wäre so eine schlechte Küsserin." scherzte sie weiter und Remus lachte leicht.
„Bist du nicht." Als er merkte, was er gesagt hatte, sah er verlegen fort. „Ich meine—"
„Jaja." Paige unterbrach ihn grinsend und bemerkte plötzlich den breiten dunkelroten Kratzer, der unter dem Ärmel seines braunen Pullover ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie konnte manchmal tollpatschig sein, aber so etwas sie sich noch nie zugezogen. Woher hatte er diese frische Verletzung bekommen?
Plötzlich kam ihre Skepsis zurück und kurz fühlte es sich an, als würde jemand ihr Herz mit einer eiskalten Hand zusammendrücken. Sie sollte nicht zu viel in die Sache hineininterpretieren...
Und ich dachte, ich hätte jemanden gefunden, der mich nach meinen schlaflosen Vollmonden ein wenig mit Harper aufbaut, aber er war ja bisher immer krank, wiederholten sich ihre eigenen Worte in ihrem Kopf. Als sie sie zu Sirius gesagt hatte, waren sie bedeutungslos gewesen, aber nun...?
Nein. Sie würde diese Zweifel ignorieren. Sie war nicht wie ihre Eltern. Sie würde ihre Geschichte nicht wiederholen.
Ihre Fantasie ging mit ihr durch, weil sie gestern Nachmittag ihren Aufsatz über sie abgegeben hatte. Ihr Gehirn spann Geschichten, um ihre Gefühle zu verkomplizieren.
Es gab eine Erklärung dafür, dass Remus einmal im Monat verschwand: Er half seiner Mutter oder war selbst krank. Sie hatte ihn erst an drei Vollmonden erlebt, wie sollte sie etwas interpretieren? Es gab eine Erklärung für die Narben und Kratzer: Er würde sie ihr irgendwann anvertrauen.
Es gab eine Erklärung, die nicht auf etwas hinauslief, vor dem sie sich fürchtete.
Remus Lupin war kein Werwolf.
„Darf ich es wieder gutmachen? Gehst du Ende Januar mit mir nach Hogsmeade?" fragte Remus und Paige sah geschockt auf, immer noch wie in Trance, als sie nach Worten suchte.
„Ich..." begann sie hastig. „Ich habe Harper versprochen, das nächste Mal mit ihm zu gehen."
„Oh." Er fing sich schnell wieder. „Klar, das verstehe ich."
Paige schluckte fest, selbst verwirrt über ihre plötzliche Lüge, und lächelte hastig, wenn auch dieses Mal nicht mit ihren Augen.
„Wir sehen uns in Verwandlung." fuhr er fort und sah kurz unsicher zu ihr, bevor er näher an sie herantrat. Sie schloss automatisch die Augen und unterdrückte das Bedürfnis, ihn zu umarmen, als er ihr eine Haarsträhne zur Seite strich und sie sanft auf die Stirn küsste. Stattdessen legte sie ihre Hand auf seinen Arm und atmete zittrig aus, als sie in dieser Haltung verharrten.
„Bis später." wisperte sie und Remus lächelte glücklich.
Er konnte kein... Nein, dieser Junge mit dem weichen Pullover, der nach frischem Kaffee roch und dessen Hand ihre Haut zum Kribbeln brachte, konnte kein Werwolf sein.
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