Das Lachen von Derry
Zombie - The Cranberries.
30. Januar 1972, Derry, Nordirland
Klirrende Kälte lag in der Luft, als Declan O'Brian am 30. Januar 1972 das Haus verließ. Er war sie gewohnt, die klirrende Kälte, doch trotzdem fröstelte er leicht. Er zog sich die Mütze tiefer in die Stirn und hauchte warme Luft in seine Handflächen, bevor er sie aneinander rieb. Er hoffte, sich selbst wenigstens ein bisschen Wärme zu spenden, in der Stadt, die im Herzen doch so kalt war.
Er gab Derry nicht die Schuld dafür. Die Stadt hatte ihn geboren, ihn großgezogen, zu dem taffen jungen Mann gemacht, der er heute war. Und manchmal glaubte er noch das Lachen von Kindern in den Gassen wiederhallen zu hören, statt des ohrenbetäubenden Lärms einer detonierenden Bombe oder dem prasselnden Kugelregen, der die Stadt von Tag zu Tag ertränkte.
Sie nannten sie Londonderry, die Briten, so als würde die Stadt ihnen gehören. Dabei waren sie es doch, die ihr Lachen ertränkt hatten. Sie waren es, die Derrys Kindern ihre Rechte, ihre Menschlichkeit genommen hatten. Declan war gerade erst 17 geworden und er gestand sich ein, dass er nicht viel vom Leben und von der Welt und von den Briten wusste, aber er war sich sicher, dass diejenigen, die seiner Stadt das Lachen gestohlen hatten, ganz grauenhafte Menschen sein mussten.
Deshalb hatte er am 30. Januar 1972 in klirrender Kälte das Haus verlassen. Er wollte marschieren, mit seinen Brüdern, den Kindern von Derry und er wollte alle Ungerechtigkeiten herausschreien, für jeden, der im Kampf für das Lachen seiner Stadt gefallen war. Und er würde solange schreien, bis sie nach Hause gingen, die Briten. Bis sie endlich nach Hause gingen.
Declan hatte sich inzwischen an der William Street den anderen Demonstranten angeschlossen. Nie hätte er erwartet, dass sich so viele von ihnen auf die Straßen wagen würden. Vor einem Jahr hatte man ihnen das Recht auf ein Gerichtsverfahren genommen und vor zwölf Tagen das Recht zu demonstrieren. Es war, als versuchten die Briten seiner Stadt nach ihrem Lachen nun auch endgültig das Leben auszuhauchen.
Die Massen passierten das öffentliche Bad. Declan war oft dort gewesen, als er jünger war. Er war ein leidenschaftlicher Schwimmer gewesen. Doch seit die Briten da waren, traute er sich kaum noch vor die Tür. Umso machtvoller fühlte er sich nun, als er mit seinen Brüdern in einer gigantischen Welle den englischen Barrikaden entgegen schlug. Er wollte, dass die Briten die selbe Angst spürten, in der er nun schon seit Jahren lebte.
Sie näherten sich dem Stadtzentrum, als der Zug ins Stocken geriet. Fragendes Gemurmel trat an die Stelle der Singchöre, die bis eben noch die Straße durchflutet hatten. Declan reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge erkennen zu können, wer er wagte, ihnen den Weg zu versperren. Er wusste, dass es die Briten sein mussten, doch trotzdem wollte er erst die Panzer sehen und die bis auf die Zähne bewaffneten Soldaten. Nur dann konnte er sicher sein, dass die Backsteine, die sich in wenigen Minuten ihren Weg durch das Stacheldrahtgeflecht bahnen würden, gerechtfertigt waren.
Die Menge lichtete sich langsam und die Welle der Demonstranten wurde in die Rossville Street umgelenkt, wo sie friedlich und munter singend weiter floss. Bittere Ernüchterung packte Declan. Die grauenhaften Briten, die ihm nun endlich gegenüberstanden, hatten ihm seinen Großvater genommen, später seinen Onkel. Er würde nicht singend an ihnen vorbeischwappen.
Und er war nicht der einzige, der so dachte. Die Menge hatte sich zwar gelichtet, die Welle war vorbeigeflossen, doch sie hatte vereinzelte Tröpfchen auf dem Asphalt zurückgelassen. 50 Demonstranten, vielleicht auch 100 - Declan konnte miserabel schätzen - standen an seiner Seite, größtenteils Jugendliche, etwa in seinem Alter, in deren Herzen die Rebellion noch nicht verstummt war.
Die ersten Backsteine flogen. Declan hatte nichts anderes erwartet. Auch er hatte sich in weiser Voraussicht an einem der vielen Trümmerhaufen bedient, die die Menge passiert hatte. Er zog einen Backsteinsplitter aus seiner Manteltasche. Der Stein wog schwer in seiner Hand. Er warf ihn einmal kurz in die Luft, bevor er Anlauf nahm und ihn mit aller Kraft in Richtung der Soldaten schleuderte. Und mit dem Stein all den Hass, den er auf die Briten hegte.
Ein Funken Triumph lag in der sonst so kalten Luft. Declan mochte diesen neuen Beigeschmack, den Derrys Straßen schon lange nicht mehr gespürt hatten. Er genoss die wenigen schönen Sekunden, bevor ein harter Wasserstrahl ihn in die Realität zurückschleuderte. Sein Hinterkopf prallte hart auf den Asphalt und der pochende Schmerz, der kurz danach einsetzte, übertünchte jeden Anflug vom eben noch da gewesenen Triumph.
Declan rappelte sich auf, als eine zweite Welle den Jugendlichen entgegen strömte. Er wusste was sie erwartete. Das einzige, was er aus seinen Zeiten als leidenschaftlicher Schwimmer noch besaß, war eine Schwimmbrille, die gerade noch so um seinen Kopf passte. Er hatte sie mitgenommen, weil er gewusst hatte, dass ein Protest gegen die Briten, die einer ganzen Stadt das Lachen genommen hatten, niemals friedlich verlaufen könnte.
2-Chlorobenzalmalononitril, umgangsprachlich auch CS-Gas genannt, tränkte die Luft. Declan war ein begnadeter Chemiker, doch die Tatsache, dass er das Tränengas chemisch identifizieren konnte, hielt es nicht davon ab, gnadenlos in seine Nasenlöcher zu strömen. Er atmete heftig prustend aus, doch das Gas klebte hartnäckiger in seinen Nasenhöhlen, als er erwartet hätte.
Seine Brüder schienen unbeeindruckt von der Gegenwehr der Briten. Weiter flogen Backsteine durch die nun in Flamme stehende Luft. Jegliche Kälte war vertrieben. Bis ein Knall den Lärm durchschnitt.
Declan fuhr herum, sein Herz hämmerte schneller als das eines verschreckten Kaninchens. Ein und derselbe Gedanke raste unaufhörlich durch seinen Kopf. Sie schießen auf uns. Die Briten schießen auf uns. Wir sind doch noch Kinder! Er versuchte verzweifelt zu begreifen, was gerade um ihn herum geschah. Fallschirmjäger, die einen verlassenen Wohnblock zu seiner Rechten besetzt hatten, feuerten auf die Jugendlichen herab.
Die ersten Demonstranten fielen. Wenige Meter neben Declan ging ein Junge zu Boden. Er erkannte ihn innerhalb von wenigen Sekunden. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Manteltasche, so groß, dass die Fallschirmjäger es sehen mussten, und rannte auf den am Boden liegenden Jungen zu, unermüdlich das weiße Taschentuch wedelnd.
Declan ging neben seinem Freund in die Knie. Er drehte ihn auf den Rücken und zuckte erschrocken zurück, als er in kalte, tote Augen blickte. Er hatte kaum eine Sekunde Zeit um zu verarbeiten was gerade passiert war oder um auch nur den Anflug einer Emotion zu spüren, als sich eine Kugel von hinten durch seinen Brustkorb bohrte.
Declan stöhnte auf, bevor er zur Seite wegsackte und mit dem Hinterkopf hart auf dem Asphalt aufprallte. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Zum letzten Mal in seinem kurzen Leben.
Declan O'Brian ist zwar eine fiktive Person, aber nichtsdestotrotz beruht diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit - dem Bogside Massaker, das 14 unbewaffneten Demonstranten das Leben kostete und den Konflikt zwischen Loyalisten und Republikanern in Nordirland noch weiter in die Eskalation trieb. Diese Kurzgeschichte ist also zum einen mein Beitrag zu fe_345 Schreibwettbewerb, zum anderen mein Gedenken an die Opfer des Bloody Sundays und des nordirischen Bürgerkriegs.
John Duddy. Michael Kelly. Hugh Gilmour. William Nash. John Young. Michael McDaid. Kevin McElhinney. James Wray. William McKinney. Gerard McKinney. Gerard Donaghy. Patrick Doherty. Bernard McGuigan. John Johnston.
Ich möchte noch hinzufügen, dass die Geschichte nicht ganz historisch korrekt ist und die meisten der Opfer nicht in der William Street gefallen sind, sondern als sie in Rossville Street geflüchtet sind - das hätte die Story aber einfach noch mehr übers Limit in die Länge gezogen ^^
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