~ 6.2 ~
»Tae? Tae-Liebling? Kim Taehyung!?« Die beinahe kreischende, an den Nerven zerrende, Stimme Minas riss mich aus meinen Gedanken schmerzhaft zurück in die Realität. Genervt betrachtete ich den Hörer. Wie konnte ein Mensch dermaßen anstrengend sein?
»Du hast mir schon wieder nicht zugehört. Also da war dieses Mädchen, und das ...« Gnadenlos setzte sie ihren Monolog fort, was mir zumindest unmittelbar wieder die Chance gab, geistig erneut abzudriften. Die Stimme Minas wurde zu leisem Hintergrundrauschen und ich versuchte die Situation heute auf der Arbeit Revue passieren zu lassen.
Wie zuvor merkte ich, dass mir das Blut ins Gesicht schoss unmittelbar, als Jeongguk vor meinem inneren Auge erschien.
Was wollte dieser Kerl bloß von mir? Und die noch viel bessere Frage: Was erhoffte ich mir von ihm?
In Gedanken griff ich nach seinem Mantel, der die letzten Tage unberührt über meinem Schreibtischstuhl gehangen hatte und sog den Duft ein. Von der Intensität war dieser hier keinesfalls mehr mit dem zu vergleichen, den ich heute erlebt hatte, aber es reichte, um mich etwas zu entspannen.
Sollte ich den Mantel wirklich behalten? Sachte fuhr ich mit meinen Fingern über den feinen, jedoch schweren Stoff. Was hatte er damit gemeint ›weil er ihm an mir gefiel‹?
Implizierte das nicht, dass wir uns noch häufiger treffen müssten, andernfalls würde er den Mantel ja gar nicht von mir getragen sehen. Es sei denn, er beobachtete mich heimlich. Es schüttelte mich unbewusst und leicht beschämt warf ich den Mantel wieder über die Lehne meines Stuhls.
Frustriert aufseufzend ließ ich mich rücklings wieder auf mein Bett fallen, die Arme hinter meinem Kopf verschränkt; der Telefonhörer, der schon längst in Vergessenheit geraten war, machte sich durch seinen dumpfen Aufprall auf dem Boden bemerkbar – unmittelbar gefolgt von Minas quietschiger Stimme.
»TAE!?«, donnerte es durch den Hörer und ließ mich kurz zu dem Gedanken verleiten, den Hörer, anstatt ihn aufzuheben, einfach in hohem Bogen aus dem Fenster zu werfen. »Was ist nur schon wieder los mit dir? Du hörst mir überhaupt nicht mehr zu.«
Ich verdrehte die Augen, was Mina zum Glück nicht durch den Hörer mitbekam. »Mhm«, brummte ich nur.
Ich wusste nicht warum, aber sie ging mir in letzter Zeit noch mehr auf die Nerven als sonst, egal was sie tat.
Vielleicht war es wirklich an der Zeit, sie endlich abzuschießen; den Standpunkt vor meinen Eltern hatte ich ja nun deutlich gemacht. Nur wie stellte ich das am besten an? Per Telefon? Das wäre auch gemein.
»Du kannst dich ja wieder bei mir melden, wenn in deinem Kopf mal wieder Platz für eine andere Person neben dir selbst ist!«, fauchte Mina und der Anruf brach ab.
Ihre Formulierung entbehrte nicht einer gewissen Ironie, da ich den gesamten Tag schon an nichts anderes, als eine andere Person außer mir gedacht hatte.
Aus irgendeinem Grund machte ich mir Sorgen um Jeongguk. Nicht nur, dass er so plötzlich aus dem Café verschwunden war, sondern auch der Streit mit seiner Freundin. War ich daran Schuld? Hatte er das Café deshalb so fluchtartig verlassen, weil er realisiert hatte, was er getan hatte?
Meine Stirn legte sich in Falten. Ob ich nach ihm schauen sollte?
Bevor ich meinem Gehirn die Zeit geben konnte, die folgende Handlung zu überdenken, setzten sich meine Füße in Bewegung; ich schnappte mir den Mantel, meine Kamera und hastete nach draußen.
Ich würde mich jetzt verdammt nochmal zusammenreißen und die ganze Sache klären, um endlich Klarheit zu bekommen.
Ich rannte bis mir die Luft wegblieb und meine Beine kribbelten. Die kühle Luft brannte mir in den Lungen, aber ich dachte nicht daran, stehen zu bleiben, zu groß war die Angst, dass ich dann doch kneifen und wieder umdrehen würde.
Ich bog in die Straße ein, die sich durch den Wald direkt zu Jeongguks Anwesen schlängelte, während ich mir meine nächsten Schritte zurechtlegte.
Sollte ich einfach klingeln? Beim letzten Mal hatte das Anwesen so einschüchternd gewirkt, was wenn es überhaupt nicht das richtige Haus war?
Laut Hobi sprach einiges dafür und Jeongguk selbst hatte ich auch nicht unweit dieses Anwesens zum ersten Mal getroffen, aber trotzdem. Oder was war, wenn mir seine Eltern öffnen, die superwohlhabenden, erfolgreichen Geschäftsführer?
Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich, bis das alles geklärt war und ich wieder zur Tagesordnung zurückkehrte, keine chronische Tachykardie entwickelte.
__
Mit großen Augen blickte ich nun abermals auf das gusseiserne Tor. Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont und tauchte alles in angenehmes güldenes Licht. Sofort verlieh dies dem Anwesen eine völlig andere Aura als das letzte Mal. Es wirkte alles so friedlich.
Langsam konnte ich den Reiz, an einem so abgeschiedenen Ort zu wohnen, nachvollziehen. Ich schlang Jeongguks Mantel enger um mich, die Hände tief in den Taschen vergrabend.
Wie bereits zuvor versuchte ich ein Klingelschild oder gar eine Klingel an der Außenmauer ausfindig zu machen, jedoch versperrte mir das an dem kühlen Stein emporwachsende Unkraut so gut wie gänzlich die Sicht. Ich überlegte. Vielleicht sollte ich einfach reingehen und dort schauen.
Unschlüssig legte ich meine Hand um das ausgekühlte Eisen, da legte sich plötzlich eine ebenso kalte Hand um mein Handgelenk und riss mich harsch einige Meter vom Tor weg.
Mein kurzer Aufschrei wurde von einer weiteren Hand, die sich auf meinen Mund legte, unterdrückt.
Fassungslos starrte ich hinauf zu meinem Angreifer, der mich mit seinen beinahe tiefschwarzen Augen böse anfunkelte und weiterhin keine Anstalten machte, mich loszulassen.
»Kein Wort mehr«, knurrte mir seine raue Stimme zornig ins Ohr, bevor er mich behände über die Schulter warf und auf direktem Wege in den Wald stapfte.
Ich versuchte mich zu wehren, doch sein Griff war eisern, seine Ausstrahlung bedrohlich. Warum hatte ich nochmal angenommen, herzukommen sei eine gute Idee gewesen?
»Lass mich runter«, wollte ich selbstbewusst rufen, jedoch war das Ergebnis eher ein heiseres Nuscheln in die Kleidung meines Peinigers.
Ich weiß nicht, wie lange er so durch den Wald stapfte, mich auf seinem Rücken zappelnd, als er mich jedoch schließlich runterließ, blies ich empört meine Wangen auf und ging nochmal tief in mich und diskutierte mit dem Pazifisten in mir, ob ich mir nicht doch den ein oder anderen Schlag ihm gegenüber erlauben dürfte.
»Was machst du hier?«, unterbrach seine Stimme meine Rachefantasien.
Ich blickte zu Jeongguk auf, er hatte sich vor mir aufgebaut, sein Blick durchbohrte mich förmlich und ließ mich leicht zusammenzucken; so aufgebracht hatte ich ihn das letzte Mal bei unserer ersten Begegnung gesehen.
Vermutlich wollte er mich wirklich nicht mehr sehen. Verlegen starrte ich zu Boden, da bemerkte ich etwas: Jeongguk - zitterte.
Seine Hände, zu Fäusten geballt, schienen unkontrolliert immer wieder leicht zu zucken, ebenso seine Beine. Sein ganzer Körper schien zu vibrieren.
»Jeongguk, w-was ist mit dir?«, fragte ich ihn schockiert.
Anstatt mir zu antworten, beugte er sich nur noch näher zu mir. »Du hättest nicht herkommen dürfen.« Seine Stimme bebte.
Wollte er mir jetzt eine Szene á la Twilight machen oder was?
Zu Boden gefallenes Laub und Äste knackten bedrohlich unter seinem Schritt, als er noch näher an mich herantrat.
Wie versteinert harrte ich aus. »Jetzt sag mir doch, was mit dir los ist. Du zitterst am ganzen Körper«, flehte ich.
Jeongguk hielt in seiner Bewegung inne. Angestrengt schien er einen Punkt außerhalb meines Blickfelds zu fixieren.
Vorsichtig, um ihn nicht weiter zu erschrecken, hob ich meine Hand und legte sie behutsam an seine Wange. Ein Zucken durchfuhr seinen Körper, bevor sich sein Blick langsam klärte und er mich zum ersten Mal richtig ansah.
Ein erleichtertes Lächeln umspielte meine Lippen. Jeongguks Blick hingegen beinhaltete gleichviel Verwirrung wie Desinteresse. Anders war ich es auch nicht gewohnt.
»Jeongguk, was war das eben? Warum hast du mich hierher geschleift und dich so komisch verhalten?«
Seine Miene verdüsterte sich. »Warum bist du hergekommen, obwohl ich dir gesagt habe, dass du nicht an diesen Ort kommen sollst?«, antwortete er mir mit einer Gegenfrage.
»Naja, du hast nicht spezifisch dein Haus mit eingeschlos-«, doch sein Blick ließ mir die Worte im Hals steckenbleiben, »ich wollte dir nur deinen Schal wiederbringen«, fügte ich rasch hinzu.
»Gut, dann gib ihn mir jetzt.«
»Was soll ich dir geben?« Ich starrte ihn perplex an.
»den- Schal?« Er legte die Stirn in Falten und bedachte mich eines Blickes, denn man sonst nur Hunden gibt, die vergeblich versuchten, in ihren eigenen Schwanz zu beißen oder Kleinkindern, die die Schminke ihrer Mutter gefunden und überschwänglich ausprobiert hatten.
Wie auf Knopfdruck schoss mir das Blut ins Gesicht. »D-den hab ich vergessen«, stammelte ich, seinen Blick meidend. Ich konnte ihn mir auch vorstellen, ohne mich diesem direkt aussetzen zu müssen.
Ich hörte Jeongguk heiser lachen. »Ich hatte Recht«, meinte er dann zusammenhangslos.
Verwirrt blickte ich auf »Womit?«, entgegnete ich perplex.
»Dir steht mein Mantel wirklich ausgezeichnet«, erwiderte er und legte seinen Kopf schief, während er mich weiter musterte.
Verlegen zupfte ich an dem viel zu langen Ärmel und überlegte, was ich äußern könnte, ohne mich weiter zu blamieren, doch mein Gehirn hatte mal wieder seinen Dienst eingestellt.
Jeongguk seufzte langgezogen. »Taehyung, du solltest wirklich nicht mehr herkommen.«
Ich sah zu ihm hoch und versuchte meine Enttäuschung zu überspielen.
Warum bist du enttäuscht, genau das wolltest du doch. Eine klare Ansage, damit du dein Leben ungestört fortführen kannst.
Trotzdem konnte ich das mulmige Gefühl in meiner Magengrube nicht abschütteln.
Da streckte Jeongguk mir plötzlich seine langen, eleganten Finger entgegen. »Gib mir dein Handy«, befahl er.
Zögernd kramte ich das Telefon aus meiner Manteltasche hervor, bevor ich es in seine geöffnete Handfläche legte.
Mit schnellen Bewegungen entsperrte er es und tippte etwas ein. Danach reichte er es mir. »Hier. Wenn irgendwas ist, egal was, dann meldest du dich bei mir und ich komme. Aber bitte komm nicht mehr her«, sagte er mit Bestimmtheit, doch in seiner Stimme schwang noch etwas anderes mit – Sorge?
Weshalb sollte er sich um mich sorgen? Wollte er mich vor seinen Eltern verstecken und ich sollte deshalb nicht herkommen? War ich ihm peinlich?
»Taehyung?«, riss mich seine dunkle Stimme aus den Gedanken.
»Verstanden. Aber warte bloß nicht darauf«, meinte ich schnippisch, bis ich realisierte was ich da gerade gesagt hatte. Schnell wandte ich meinen Blick ab.
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