~ 22.2 ~
»J-Jeongguk«, riss mich eine engelsgleiche Stimme aus meinen düsteren Gedanken.
Den Blick immer noch fest auf die sich mir nähernde Gestalt gerichtet, tat ich einige unbeholfene Schritte rückwärts.
Er durfte nicht näher kommen, ich würde ihn ins Verderben stürzen, ich war Schuld.
Angsterfüllt blickte ich in die Augen meines Gegenübers, der sich krampfhaft die Tränen aus dem Gesicht zu wischen schien, ehe er kraftlos seinen Arm ausstreckte, als wolle er mich über die Entfernung hinweg berühren.
Zischend rückte ich daraufhin noch etwas weiter von ihm ab, obwohl jede Faser meines Herzens sich nach seinen Berührungen sehnte. Nach seinem Duft. Nach seiner bloßen Nähe.
Als würde es mich davor bewahren, ihm näher zu kommen, grub ich meine Nägel noch etwas tiefer in den Baum neben mir.
»Ggukie, ich bins«, flüsterte der silberhaarige Engel, welchen mittlerweile bereits nur noch wenige Meter von mir trennten.
Sacht pirschte er sich an, als sei er ein Jäger auf der Lauer und ich seine arglose Beute.
Dabei war es in Wahrheit doch genau umgekehrt.
Schmerzhaft begann ich mich zu räuspern, ehe auch ich meine Stimme erhob, die in der Realität noch einiges schlimmer klang als in meiner Vorstellung: »Tae, nein bitte nicht«, wollte ich sagen, jedoch fühlte es sich bei jedem Versuch, meine Stimme zu benutzen an, als hätte ich Sand im Mund.
Krampfhaft musste ich husten, währenddessen spürte ich bereits, wie das verklumpte Blut sich mühsam einen Weg meine Kehle hinaufbahnte.
Ich hatte doch alles getan, um den Silberhaarigen zu vergessen. Hatte alles getan, um ihn hinter mir zu lassen, wie konnte das Universum mich also auf eine derart lachhafte Art und Weise nun so vorführen? Wollte es mich meiner Fehler bewusst werden lassen oder mich lediglich weiter foltern?
Zwar spürte ich schon wieder mehr und mehr, wie mich meine Kräfte verließen, doch ich schaffte es nicht, mich von dem fesselnden Blick Taehyungs zu lösen und endlich das Weite zu suchen.
Mit jeglicher Geistesstärke, die in meiner Macht stand, versuchte ich, meine Augen abzuwenden, wie ein Fisch auf dem Trockenen wand ich mich, um nicht länger die Furcht in seinen Augen sehen zu müssen, nicht das kraftlose Zittern seiner Glieder geschweige denn den Funken Hoffnung, der noch in seinem Blick zu liegen schien, seine Iris funkelte mir indes in einem hellen Bernsteinton entgegen und veranlasste mein Herz dazu, sich schmerzvoll zusammenzuziehen.
Ich musste so schnell wie möglich hier weg.
Hilflos war ich gezwungen mitanzusehen, wie immer mehr Tränen aus den Augen des Älteren strömten, seine zerkratzten Wangen benetzten und schließlich auf den harten Waldboden tropften, währenddessen drängte er mich immer weiter zurück; verzweifelt löste ich meine mittlerweile blutigen Fingernägel von der morschen Rinde und hechtete einige Schritte rückwärts, doch der Schwindel legte sich, als hätte er bereits auf der Pirsch gelegen, wie dichter Nebel um meine Glieder, beschwerte sie und zwang mich unmittelbar in die Knie.
Nein, nein, nein, noch nicht, fluchte ich tonlos.
Pfeifend füllte ich meinen noch funktionalen Lungenflügel mit der modrigen Luft, die sich zusätzlich wie Blei auf meine Schultern legen zu schien.
Ich machte mich bereits auf den harten Aufprall gefasst, der meinem erschlafften Körper unmittelbar bevorstand, da legten sich zwei starke Arme um meine Taille und drückten mich fest an einen erhitzten Körper.
Mir blieb die Luft weg, keuchend hustete ich etwas Blut, als ich warme Hände auf meinem Oberkörper vernahm, die rasch unter meinen Mantel fuhren und zart über meine eiskalte Haut glitten; sofort schickten die sanften Berührungen pulsierende Stromstöße durch meinen bebenden Körper und wurden nochmal um ein Vielfaches verstärkt, als die kratzige Stimme Taehyungs erklang; leise spürte ich das tiefe Brummen in meiner eigenen Brust, welches eine erneute Welle aus Scham und Schuldgefühlen über mich brachte.
»Hey, Ggukie. Alles wird gut«, hauchte er beinahe tonlos in mein Ohr, währenddessen verspürte ich die salzigen Tropfen, die seine Wangen hinabliefen, warm auf meiner Haut.
Nein, es würde nicht alles gut werden, wollte ich erwidern. Nichts würde je wieder gut werden, solange der Ältere sich in meiner Nähe befand.
Solange ich ihn beschmutzte, solange ich ihn dermaßen in Besitz nahm.
Ich versuchte mit einem Aufbäumen meiner letzten Kraftreserven mich von ihm wegzustoßen, doch mein Körper weigerte sich. Wollte nicht aus der innigen Umarmung fliehen, wollte sich nicht dem herrlichen Duft entziehen und seinen zarten Berührungen entsagen.
Jeder Hautkontakt, jede Verbindung unserer Körper schickte ein weiteres Beben durch meine Glieder, es war, als hielten sich mich mit letzter Kraft bei Bewusstsein, als würde die Lebensenergie durch seine Fingerkuppen gleichmäßig auf meiner Haut verteilt werden, welche diese nur dankend absorbierte.
Das durfte nicht sein, er sollte mich endlich loslassen, schrie alles in mir.
Krampfhaft riss ich meinen Kopf herum, um in seine geröteten, von tiefen, dunklen Ringen umrahmten Augen zu schauen. »H-hast du keine Angst?«, krächzte ich.
Du solltest endlich laufen, weg von diesem Ort und mich eins mit dem Dreck zu Boden werden lassen, denn nicht mehr war ich, nicht mehr hatte ich verdient für meine egoistischen Taten.
Immer flacher ging mein Atem, je stärker ich mich darauf konzentrierte, desto mehr schien ich die Kontrolle für das richtige Maß an Atemzügen zu verlieren.
Meine Brust brannte indes als hätte ich scharfes Chilipulver eingeatmet, ich spürte die Erhebung oberhalb meines Rippenkäfigs schmerzhaft pochen, als erstes unheilvolles Omen kündigte sie bereits die mir bevorstehende Tortur an, mit dem einzigen Unterschied, dass es dieses Mal das letzte Mal sein würde, dass ich sie durchleben würde.
Meine Sicht verschwamm erneut durch die dicken Tropfen, die nicht müde wurden, meinen Tränendrüsen zu entweichen.
Nichtmal ein würdevolles Sterben schien mir vergönnt zu sein, dachte ich lediglich zynisch, sobald der Silberhaarige meinen Kopf behutsam, als wäre ich wertvolle Fracht, welches einer gewissen Ironie sicherlich nicht entbehrte, in seinem Schoß bettete und mir vorsichtig die verklumpten Haarsträhnen aus der Stirn strich.
Wie kann jemand wie er nur so liebevoll zu jemandem wie mir sein?, war die Frage, die sich indes unbarmherzig in meinem Bewusstsein wiederholte.
Kein einziger klarer Gedanke schien sich mehr genug in meinen Hirnwindungen festbeißen zu können, als dass er es schaffte, in mein wahrnehmbares Bewusstsein vordringen zu können.
Einzig und allein seine großen, funkelnden Augen waren in der Lage meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wie hypnotisiert starrte ich in sein von unzähligen Schnittwunden übersätes, gerötetes Gesicht, während es mir vorkam, als wenn jeder Kratzer, jede noch so oberflächliche Verletzung seiner zarten Haut ein weiterer Nagel zu dem Sarg meines Herzens wäre.
Taehyungs Miene war schmerzverzerrt, als hätte ich meine letzten Gedanken laut geäußert, begann er beruhigend zu murmeln: »Jetzt kannst du dich beruhigen, ich bin ja endlich da.«
Warum konnte er mich nicht endlich loslassen?
War ihm das alles hier nicht genug?
Sah er nicht, dass seine und die meinige Welt, sich diametral gegenüberstanden, dass wir zwei verschieden waren wie Tag und Nacht?
Und die Nacht würde bald gänzlich über ihn hereinbrechen, wenn er sich nicht endlich in Sicherheit brachte. In Sicherheit vor mir.
»Tae?«, brachte ich unter multiplem Röcheln hervor. Jeder Atemzug glich einer neuen Herausforderung, ich konnte die Flüssigkeit deutlich in meiner Brust spüren, wie sie sich immer neue Wege durch meinen zuckenden Körper bahnte. Es war wie Ertrinken bei vollem Bewusstsein.
»Ja! Ich bins: Taehyung.« Er fuhr mit seinen zitternden Fingern sacht über meine blutige Wange, seine Fingerkuppen brannten in den frischen Wunden, jedoch überwog das wohlige Gefühl, welches sich bei jeder unserer Berührungen langsam unter meiner Haut ausbreitete.
Mit Entsetzen musste ich jedoch feststellen, dass er mit der anderen Hand flink auf seinem Handy herumtippte und mich überkam eine schreckliche Befürchtung.
Mit letzter Kraft zwang ich mich dazu, meinen Arm zu heben, kraftlos ließ ich ihn sogleich fallen, doch ich schaffte es nicht, ihm das kleine elektronische Gerät zu entziehen, zu schwer wog die Weste aus Schwäche und immer mehr in den Vordergrund tretender Müdigkeit auf meinen Gliedern. »Bitte«, hauchte ich verzweifelt, ein sich neu aufbäumender Husten schüttelte mich. »Bitte nicht«, presste ich noch hervor, ehe mich mein Würgereflex jäh unterbrach und neues Blut meinem Mund entfloh.
Flehend schaute ich ihm in die strahlenden Augen und hoffte, dass er nur dieses eine Mal auf mich hörte.
Beinahe tadelnd hielt er meinem bettelnden Blick stand, umfasste das Mobiltelefon hingegen jedoch umso fester mit seiner Faust. »Es muss sein«, hauchte er gegen meine Lippen und ich sah eine weitere Träne wie in Zeitlupe seine Wange hinablaufen, welche sobald sie auf meinem verkrusteten Gesicht auftraf, schreckliche Schuldgefühle in meinem, sich im Ausnahmezustand befindenden, Körper freisetzte.
Zum letzten Mal würde ich den Älteren heute zum Weinen bringen.
Nur noch ein bisschen, dann würde die Nacht einbrechen, jedoch nur für mich.
Sehnsüchtig fieberte ich diesem Moment entgegen, eigentlich schon mein ganzes Leben lang. Nun hatte ich endlich einen Grund, die lähmende Angst vor dem Tod beiseite zu schieben und mich einfach treiben zu lassen. Für ein höheres Ziel.
Nur noch einmal wollte ich ihn berühren, mir mein Gesicht einprägen, besser als jede teure Kamera dazu je in der Lage wäre.
Nur noch ein einziges Mal, dann könnte ich gehen. Dann wäre ich frei und er ebenso frei von mir.
»Nein, Tae.« Ein blecherner Husten erfasste meine Glieder, der Schwall Blut, der erbarmungslos in meiner Kehle steckte, floss aus meinem Mundwinkel und verteilte gleichzeitig viele feine Spritzer unmittelbar vor mir.
Selbst mein letzter Atemzug würde ihn noch beschmutzen.
»Du darfst nicht weinen.« Nie wieder, fügte ich in Gedanken noch hinzu, ehe ich in einem letzten Akt der Kraftmobilisation meine Hand erhob und verzweifelt versuchte, mein Blut von der Wange des Älteren zu wischen, doch sobald sich meine Finger an seine erhitzte Haut schmiegten, erfasste mich sein Blick und ließ mich in der Bewegung stocken.
All der Schmerz, all das Leid, jedoch auch all die Vertrautheit und all die Geborgenheit, die wir zusammen erlebt hatten, die der Silberhaarige mir geschenkt hatte, ohne je eine Gegenleistung zu verlangen, flackerte in seinen wunderschönen Augen auf, und da wusste ich, dass meine Zeit nun gekommen war.
Dass ich nun bereit war, ihn loszulassen.
Mich loszulassen.
Das Brennen in meiner Brust hatte seinen Höhepunkt erreicht, unregelmäßig pulsierte die nunmehr starke Erhebung unter meiner Haut, während bereits punktgenau das altbekannte Taubheitsgefühl einsetzte und nacheinander meine übrigen Gliedmaßen außer Kraft setzte, ehe ich in einem Morast aus Schwärze, begleitet von den herzzerreißenden Schluchzern Taehyungs versank.
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