~ 21.5 ~
[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]
Das Erste, was dem Jungen unmittelbar, als er den überschaubaren Garten betrat, ins Auge fiel, waren die Farben; staunend blieb er noch in der halb geöffneten Terrassentür stehen, mit offenem Mund das prächtige Farbenspiel, was sich ihm bot, bestaunend, währenddessen ließ er andächtig seinen Blick über die bunte Kulisse schweifen.
Die Bäume, die die kleine Grünfläche umsäumten, leuchteten ihm in einem satten Grün entgegen, die akkurat gepflegten Beete, in denen sich die unterschiedlichsten Blumen und Sträucher dicht aneinanderdrängten, strahlten kräftig im hellen Sonnenlicht, das Lachen der ersten, bereits eingetroffenen Geburtstagsgäste ausblendend, trat der Junge überwältigt näher an wirbelnde Treiben heran, und konnte seinen prüfenden Blick dabei nicht von dem großen Geschenktisch, der in der Mitte des blühenden Paradieses aufgebaut war, sowie der riesigen, mehrfach geschichteten bunten Geburtstagstorte, die unmittelbar daneben auf einem kleinen Beistelltischen andächtig auf ihren Anschnitt wartete, abwenden.
Sofort schossen ihm abgehackte Erinnerungsfetzen durch den Kopf, die leuchtenden Farben, die abwechslungsreichen Gerüche und das Summen der unzähligen Tierchen, die zu dieser schönen Jahreszeit den Garten der Familie bewohnten.
Ein pulsierender Schmerz fuhr Jeongguk durch die Schläfen, ehe diese Bilder auch schon wieder aus seinem Gedächtnis entschwunden waren.
Verwirrt rieb er sich die Stirn, versuchte jedoch, sich nichts weiter anmerken zu lassen.
Er musste sich ja nicht unbedingt direkt zu Beginn der Feierlichkeiten schon wieder als Sonderling outen.
Obwohl ihr Anwesen um ein Vielfaches größer und pompöser war, gefiel es Jeongguk hier um einiges besser, dachte sich der Junge, als er auf die spielenden Kinder zulief.
Hier wirkte alles so freundlich und lebendig. In ihrem eigenen Haus hatte der Junge das Gefühl, es dürfte eigentlich niemand darin wohnen, so steril und penibel wurde auf Ordnung und Sauberkeit geachtet.
Für persönliche Sachen hatte er eine Schublade in seinem Nachttisch, nicht größer als ein Schuhkarton, worin er, unter ständiger Kontrolle seiner Eltern, seine wenigen Habseligkeiten aufbewahren durfte; das Notizbuch, welches seine Mutter ihm einst schenkte, eine angelaufene, stumpfe Münze mit zwei filigran eingeprägten Köpfen auf jeder Seite, die der Junge einmal auf dem nassen Asphalt während eines Regenschauers gefunden hatte und einige Staubmäuse. Mehr hatte der Schrank neben seinem Bett nicht zu bieten.
Zwar gab diese hölzerne Aufbewahrung nicht viel her, jedoch wusste Jeongguk auch nicht, was er sonst noch dort hätte lagern dürfen.
Zeitschriften, Bücher, oder gar Spielekonsolen waren strengstens untersagt im Hause der Jeons. Lediglich, was seine Eltern ihm gaben, durfte er benutzen, manchmal ein Buch, welches sie eigens ausgewählt hatten, hier, manchmal ein kleines hölzernes Spielzeug da.
Trotzdem wurde ihm alles nach einer Zeit wieder weggenommen, sodass er sich ja nicht an die Sachen gewöhnte.
Nur richtige Menschen brauchten Besitz, hatte sein Papa einmal gesagt.
Bis heute hatte er doch noch nicht verstanden, was das eigentlich hatte bedeuten sollen.
Hier hingegen wimmelte es nur so von Spielzeug in den verschiedensten Ausführungen, sowie persönlichem Hab und Gut, und sei es nur der alte Pulli vom Vortag oder die bereis geleerte Wasserflasche vom Morgen; das waren doch erst die Dinge, die ein leerstehendes Haus zu einem Zuhause machten.
Verlegen räusperte sich Jeongguk, als er bemerkte, wie still es um ihn herum geworden war.
Er war mal wieder so in seine eigene Welt abgedriftet, dass er nicht bemerkt hatte, wie eigenartig er die anderen Kinder gerade angestarrt haben musste.
Ein verlegenes Lächeln schlich sich auf sein gerötetes, pausbäckiges Gesicht und während die restlichen Gäste weiterhin nicht mehr taten, als verwunderte Blicke auszutauschen, erlöste die erhobene Stimme der Mutter des Geburtstagskindes schließlich den, sich in der Bredouille befindenden, Jungen, indem sie zum Kuchen anschneiden rief.
Allmählich löste sich die Menge auf, die Kinder begaben sich nach und nach zu den aufgebauten Bänken und Tischen, die bereits mit Papptellern und Plastikgeschirr eingedeckt waren, da löste sich auch Jeongguk aus seiner Schockstarre.
Als er den braunen Schopf des Geburtstagskindes entdeckte, beschleunigte er rasch seinen Schritt, bevor er eifrig neben ihm herlief. „D-danke Minhyuk.", stotterte der Junge, währenddessen kratzte er sich verlegen am Hinterkopf, sobald der Angesprochene sein Gesicht zu ihm wandte und ihm ein ebenso warmes Lächeln, wie bereits schon seine Mutter zuvor an der Haustür, schenkte. „I-ich freue mich wirklich sehr, dass du mich dahaben wolltest.", fügte Jeongguk mit gesenkter Stimme noch hinzu, doch Minhyuk erwiderte lediglich mit einem Strahlen: „Gerne. Ich mache gern neue Freunde."
Kichernd lief er daraufhin seiner Mutter entgegen, die bereits den Kuchen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hatte, doch Jeongguk war für einen kurzen Moment lang viel zu beschäftigt mit dem kribbelnden Gefühl, welches sich in seinem Körper ausbreitete, nachdem der Braunhaarige das Wort ‚Freunde' in den Mund genommen hatte.
Benommen gesellte er sich zu den restlichen Geburtstagsgästen und sah, bis über beide Ohren grinsend, seinem neuen Freund dabei zu, wie er lachend zusammen mit seiner übervorsichtigen Mutter, die ihrem 9-jährigen Sohn nicht alleine das scharfe Messer in die Hand geben wollte, seine, mit einer massiven Schicht Zuckerguss überzogene, Torte zerteilte.
Gemeinsam wurde der Kuchen daraufhin verspeist, es wurde gelacht und gleichzeitig gezuckerte Süßgetränke aus quietschbunten Plastikbechern getrunken, zum ersten Mal hatte der Junge das Gefühl, dazuzugehören und nicht nur als Aussätziger am Rand stehen zu müssen.
Obgleich seine Eltern so krampfhaft versuchten, ihn von jeder weiteren prägenden zwischenmenschlichen Erfahrung weitestgehend fernzuhalten, um seinem eigenen Willen und Charakter so wenig Düngemittel wie möglich zukommen zu lassen, sog der kleine Junge diese winzigen Momente, so kurz sie auch sein mochten und so schnell sie auch verstreichen würden, auf wie ein Schwamm, der zu lange auf dem Trockenen gelegen hatte.
Sobald der Kuchen zur Gänze verputzt war, begannen auch schon die Partyspiele. Mit rumorendem Bauch, ob vor lauter Aufregung oder zu viel Zucker konnte der Junge nicht genau ausmachen, gesellte er sich stumm zu den anderen Kindern und genoss es schlicht, in ihrer Nähe zu sein, ohne weggestoßen zu werden.
Minhyuks Mutter hatte den Rasensprenger aufgestellt, kichernd wirbelten die Grundschüler nun also durch die eiskalten Strahlen, die der metallene Sprenger mit seinen mechanischen Bewegungen in einem Umkreis von mehreren Metern gleichmäßig verteilte.
Auch Jeongguk, der zunächst erst zögerlich daneben gestanden hatte, begann nach einiger Zeit und durch die Ermunterungsversuche des Geburtstagskindes selbst, durch die kühlen Tropfen zu springen, da passierte es; zunächst war es nicht mehr als ein schwaches Ziehen, welches der Junge vernahm, als er das Hundegebell hörte.
So nebensächlich, dass es nichtmal bis in sein Bewusstsein vordrang.
Jedoch dauerte es nicht lang, da begann auch der nächste Vierbeiner, wahrscheinlich als Reaktion auf den ersten, zu kläffen, das Ziehen verstärkte sich, Jeongguk wurde schwindelig, mit einer Hand am wackligen Hartplastiktisch gelehnt, presste er sich die andere verzweifelt an die schier glühende Stirn, die ersten Kinder begannen verwundert zu ihm herüberzusehen, doch dann war Jeongguk auch schon weg.
Erst wieder blicken ließ er sich, als das Bellen aufgehört hatte.
Die umstehenden Leute hatten nichtmal gemerkt, dass die, durch die Hunde erzeugten, Geräusche an der plötzlichen Veränderung des Jungen Schuld gewesen waren.
Wie lange?, war die Frage, die sein gesamtes Denken sogleich beherrschte.
Und was hatte ich getan in der Zwischenzeit?
Beziehungsweise was hatte mein Körper mal wieder ohne meine Erlaubnis getan?
Eine Mischung aus Sorge und Verwunderung spiegelte sich in sämtlichen Gesichtern.
Ihre Augen jedoch, das hatte Jeongguk schon öfter schmerzlich feststellen müssen, sprachen eine andere Sprache; Sonderling, schrien sie allesamt.
Verrückt, durchgeknallt, unnormal, säuselten die Stimmen in seinem Kopf, als sich die Blicke bohrend in sein Fleisch gruben, immer lauter zischten sie schreckliche Sätze und Phrasen in die Ohren des Jungen, bis er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht eben diese zuhielt und leise zu sich selbst zu sprechen begann.
Nicht, dass das die Situation verbessert hätte; doch eben auch nicht mehr verschlimmert.
„Hier bitte.", mit einem liebevollen Ausdruck im Gesicht überreichte Minhyuks Mutter dem nassen Jungen Wechselkleidung, nachdem sie ihn vorsorglich den Blicken der anderen entzogen und behutsam mit sich ins Haus bugsiert hatte, ob zu seinem oder dem Schutze der übrigen Kinder wagte sie indes nicht zu hinterfragen, der sie hingegen daraufhin nur panisch anzustarren begann.
„I-ich-", stammelte der Junge sichtlich überfordert. „Es geht schon.", stotterte er leise, während er sich einige Schritte von ihr entfernte.
‚Nicht zu viel reden, nicht zu wenig reden, stets lächeln, nichts sagen, was eine Bestrafung herbeiführen würde und in keinem Fall das Oberteil ausziehen.' Stumm murmelte er sein Mantra, an dem sich der Rest seines schlüpfrigen Bewusstseins gerade klammerte, vor sich hin, währenddessen versuchte er, ein lockeres Lächeln aufzusetzen, welches jedoch eher einer grotesk verzerrten Fratze glich.
Der Anblick allein ließ die Mutter des Geburtstagskindes erzaudern.
Nicht lange dauerte es, bis Jeongguks Eltern dem darauffolgenden Anruf nachgekommen waren und ihren Sohn abgeholt hatten.
Er hätte sich äußerst sonderbar vernommen, hörte er die Erwachsenen nur zwischen Tür und Angel noch reden.
Mehr brauchte er schon nicht zu hören.
Gleich einem leisen Hintergrundrauschen ließ er das restliche Gespräch an sich vorbeiziehen, während der sich innerlich bereits auf seine Bestrafung vorbereitete.
Seit neuestem wusste er nämlich, was ihm als Bestrafung tatsächlich widerfuhr.
Erst einige Male zwar, doch es hatte bereits dafür gesorgt, dass der Junge sich veränderte.
Noch verschlossener wurde.
Und ruhiger.
Der aufgeweckte Junge von der sommerlichen Blumenwiese war nicht mehr als eine verblasste Erinnerung.
Ein ausgedientes, abgegriffenes Foto, was mehr und mehr seiner Farbpigmentierung verlor.
Doch eigentlich wusste der Junge selbst nicht, was er eigentlich war.
Seine Gefühlslage änderte sich schneller und öfter als jemals zuvor. Und Jeongguk?
Der konnte nichts tun außer Weitermachen.
Was blieb dem Jungen denn anderes übrig?
Seine Mutter hatte sich von ihm abgewandt, sein Vater war teuflischer denn je zuvor, ja selbst seine letzte, halbwegs beständige Bezugsperson, die auf ihn aufpasste, wenn seine Eltern auf Geschäftsreise waren, war nach einer Auseinandersetzung mit seiner Mutter nicht nochmal aufgetaucht.
Ob sie wohl ebenso verschwand wie alle Menschen, auf die seine Mama oder sein Papa sauer waren?
Ein unbändiger Schwindel ergriff erneut Besitz von dem Jungen, der Druck, der auf seinem Brustkorb lastete, stieg ins Unermessliche, ehe er auch schon gänzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde.
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