~ 19.2 ~

Die Nacht, in der der Silberhaarige mich vollkommen betrunken angerufen hatte, war für mich Beweis genug gewesen, dass lediglich ich es war, der das Gefahrenpotential in seinem kostbaren Leben erhöhte.

Schon als seine brüchige, weinerliche Stimme durch die knackende Leitung an mein Ohr gedrungen war und auch später, als ich überstürzt an der Kneipe angelangt und dem vermeintlich besten Freund des Älteren beinahe an die Gurgel gesprungen wäre, hatte ich es gewusst: Nur wegen mir litt der Kleinere immer wieder.

Nur wegen mir, der seine Gefühle ins Chaos gestürzt und ihn derart geblendet hatte, sodass Taehyung sich mittlerweile tatsächlich eingeredet hatte, ich würde ihm etwas bedeuten.

Ich.

Ein Schluchzer des Älteren hatte genügt und schon wieder war ich in alte Muster verfallen, schon wieder hatte ich alle Restriktionen, die ich mir in meinem dröhnenden Schädel unter den schmerzhaften Einwirkungen meiner Erzeuger, hatte auferlegen müssen, missachtet und war blindlings ohne Absicherung, ohne zweiten Boden, zu ihm geeilt.

Im schlimmsten Fall hätte ich von Spionen meiner Eltern verfolgt werden können, im besten würden sie lediglich mich auf den Überwachungskameras erblicken, wie ich mich mit letzter Kraft, entgegen ihrer ausdrücklichen Befehle, als sie das letzte Mal abgereist waren, vom Anwesen schleppte.

Doch all diese Hindernisse waren in diesem Augenblick nicht bis in meinen Denkapparat vorgedrungen; kopflos war ich losgelaufen, um für den Älteren in die Bresche zu springen, was auch immer vorgefallen sein mochte.

Allein beim Klang seiner weinerlichen Stimme war mein Herz schmerzhaft in tausende Teile zersprungen.

Sobald ich an besagtem Abend dann schließlich angelangt war, sobald ich ihn endlich wieder in meinen Armen hatte halten können und seine salzigen Tränen hatte trocknen können, da wurde mir abermals schmerzlich bewusst, warum ich mich unbedingt gänzlich von ihm entfernen würde müssen.

Unsere Welten waren zu unterschiedlich, die Dunkelheit in meiner würde irgendwann zwangsläufig das Licht in seiner gänzlich verschlingen.

Darüber hinaus hatte er bereits Leute, die sich um ihn kümmerten. Yoongi, Jimin; das waren die Leute, an die er sich halten sollte.

Nicht an solch beschädigte Ware wie mich.

Und obwohl ich mir die Nacht, die ich daraufhin bei ihm verbracht, um die Ohren geschlagen hatte, im Takt seines schlagenden Herzens und seines ruhigen Atems, mit quälenden Gedanken, wie ich die Sache nun ein für alle Mal beenden konnte, war sie mit Abstand die schönste meines ganzen Lebens gewesen; oder gebührender Abschluss eben dieses.

Sein makelloses, vom schwachen Mondlicht beschienenes Gesicht, welches seelenruhig, als würde es auf dieser Welt nicht auch nur ein einziges Unrecht, nicht ein einziges Böses geben, ruhend auf meiner vernarbten Brust, seine Lider, umrahmt von den dichten Wimpern, geschlossen, sein Brustkorb regelmäßig auf- und abgehend, während er seinen Arm locker um meinen Oberkörper geschlungen und im Schlaf, immer wieder leise gemurmelt hatte.

Während ich ihn so betrachten hatte können, versuchte ich, ich mir jede einzelne Faser, jede Pore und jede Hautzelle, aus der der Ältere zu bestehen schien, einzuprägen, festzuhalten und abzuspeichern, um mir immer in Erinnerung zu rufen, wofür ich kämpfte; Wofür ich all diese Qualen überhaupt noch auf mich nahm.

Zum ersten Mal verstand ich den tieferen Sinn hinter der Fotographie.

Einen Moment festhalten zu wollen, den präzisen Augenblick einzufangen, in dem dich das Glück durchströmt und die Gefühle, die genau diese Situation in dir ausgelöst hat, einzurahmen, festzustecken, mitzunehmen und wann immer man das kleine, verknickte Stück Papier herausholte und es betrachtete, sich an genau den Augenblick zurückversetzt zu fühlen.

Der Augenblick, an dem alles so anders war.
So einmalig.

Am anbrechenden Morgen danach hatte ich meine Entscheidung unwiderruflich, so schien es, gefällt.

Wenn ich Taehyung wirklich beschützen wollte, musste ich ihn verletzen. Ihm jedoch erneut so harsch ins Gesicht zu lügen, würde ich nicht übers Herz bringen, also entschied ich mich für die Variante, die sofort den zweiten großen Punkt meines Planes ebenfalls involvierte: Yoongi.

Dieser kannte mich immerhin nicht gut, ich würde meine gut gehütete Maske aufsetzen und ihm das Blaue vom Himmel lügen, hatte ich mir vorgenommen. Etwas, was mich genug als Arschloch dastehen lassen würde, dass Taehyung mich aufgeben, aber gleichzeitig milde genug, dass ich ihn nicht ernsthaft verletzte.

Würde ich es nur geschickt genug anstellen, würde Yoongi schon Sorge dafür tragen, dass der Ältere mich nicht mehr kontaktierte.

Und es funktionierte: Genau 6 Tage 5 Stunden und 38 Minuten verstrichen in dem festen Glauben, der Silberhaarige hätte nun endlich mit mir abgeschlossen und wäre frei, sein Leben ohne mich als unnötigen Ballast zu leben.

Doch die stumme Vibration meines Mobiltelefons hatte mir diese Hoffnung just nach Ablauf dieser Zeitspanne jäh genommen.

Beinahe wütend hatte ich an diesem Tage lange über die passenden Worte gegrübelt, die dem Älteren endgültig suggerieren sollten, dass es aussichtslos sei.

Während mein Herz seinen Rhythmus allein bei dem Gedanken an ihn, um ein Vielfaches beschleunigt und meine Hände zitternd eine kühle Antwort auf seine Frage eingetippt hatten, erbrach ich geräuschvoll die ohnehin schon spärliche Mahlzeit, die mich kurz zuvor an dem Tage gezwungen hatte, zu mir zu nehmen.

Obwohl meine Eltern zu diesem Zeitpunkt nichtmal einen Fuß auf unser Anwesen gesetzt hatten, hatten sie es vollbracht, für ihre Abwesenheit ein ausgeklügeltes System zu installieren, welches meine Programmierungen wild durcheinander und ohne erkennbare Wiederholungen bis zum Äußersten ausreizte und triezte.

Mit seiner Antwort, die ich mir unwirsch den Mund an meinem Hemdärmel abwischend, schnaubend durchlas, hatte ich hingegen nicht gerechnet.

Ein weiteres Mal hieß es daraufhin für mich Zähne zusammenbeißen und mich auf eine direkte Konfrontation vorbereiten.

Es wäre ja auch zu einfach gewesen, sinnierte ich spöttisch, das Gesicht im Schatten meines Kragens verborgen, den Blick stumm auf den schmutzigen Untergrund gerichtet.

Immerhin hatte Taehyung zu diesem Zeitpunkt selbst von Abschied gesprochen und auch wenn dieses Wort dafür sorgte, dass sich tief in meinem Inneren alles schmerzhaft zusammengezogen hatte, konnte der Ältere zu keinem Zeitpunkt ahnen, wie wörtlich ich es mit dieser Phrase nehmen würde.

Ein Hotelzimmer hatte ich mir schon gebucht, eine letzte Nacht der süßen Qualen wollte ich mir noch zugestehen, ehe ich die Segel streichen würde.
Ehe ich alles beenden würde.

Ohne Taehyung sah ich schlicht keinen Sinn mehr darin, weiterzuleben.

Aber noch viel gravierender hatte mich bei meiner Entscheidung die Tatsache beeinflusst, dass ich, solange ich existierte, allein schon eine Gefahr für ihn und seine Sicherheit darstellte.
Was, wenn wir uns durch Zufall begegnen würden? Was, wenn er nochmal zu unserem Anwesen kommen würde?
Was, wenn meine Eltern irgendwo auch nur den kleinsten Anhaltspunkt dafür fanden, dass wir je in Kontakt gestanden hatten?

Nein, das konnte ich nicht zulassen, hatte ich gedacht.

Und wie Recht ich damit hätte haben sollen, war mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar gewesen.

Also hatte ich meine wenigen Sachen, die ich besaß, in eine große Reisetasche gepackt, das Gefühl, dass meine Eltern nach meinem Tod auch nur irgendwelche Habseligkeiten von mir besitzen könnten, hatte mir schlicht nicht behagt und war mit gemischten Gefühlen auf den Weg in die Metropole aufgebrochen.

Stumm schüttelte ich den Kopf, als könnte ich so die vergangenen Gedanken und Erinnerungen an diese Zeit abschütteln und aus meinem Gedächtnis verbannen, während ich durch die spärlich beleuchteten Gassen der Schwulenszene schlenderte.

Doch unbarmherzig glitten sie immer weiter zurück in die Tiefen meines Erinnerungsschatzes:

Ehe ich es mich versehen konnte, war es erneut geschehen.

Erneut hatte mich dieser silberhaarige Engel glauben lassen, es gäbe noch eine Chance für mich.
Erneut hatte er alle Mauern in mir einstürzen lassen mit lediglich einem einzigen Blick in meine gefühlskalten Augen.

Verdammt, ich hatte ihm sogar meine Zieheltern vorgestellt, Sung und Ji-Woo, was war in dieser Nacht nur in mich gefahren?

Noch mehr Brücken, die ich hinter mir nicht mehr vollständig einreißen können würde.
Noch mehr Verbindungen zu meinem jämmerlichen Leben hatte ich dem Älteren aufgebürdet.

Ein Blick in seine kaffeebraunen, funkelnden Augen und meine akribisch durchgeplanten Vorbereitungen, meine nächtelang darüber gebrüteten, Ausflüchte, meine Ansichten und meine Gefühle schaffte der Jüngere in nur dem Bruchteil einer Sekunde in einem hellen Auflodern anzustecken und zu Asche zu verbrennen.

Bei diesem Gedanken kickte ich achtlos mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen eine kaputte Glasflasche in den Rinnstein des heruntergekommenen Viertels.

Selbst jetzt schaffte der Ältere noch, mein Herz schmerzhaft zum pochen zu bringen, wenn ich nur an ihn dachte.

Mühselig zog ich die verschmutze Luft ein, welche automatisch das Innere meines linken Lungenflügels auskleidete. Schmerzhaft begann ich zu husten, als ich spürte wie durch die kleinen Verästlungen meiner rechten Bronchie nur spärlich Sauerstoff zu den Lungenbläschen gelang, wodurch sie sich nicht gänzlich entfaltete.

Vielleicht hätte es funktioniert, dachte ich abwesend, meine Hand beinahe schützend auf die brennende Brust gelegt.
Vielleicht wäre alles gut gegangen und das Universum hätte den Masterplan für mich und den Kleineren bereitgehalten, gewaltiger und imposanter als jede Weltformel, jedes theoretische Axiom sowie alle übrigen interdisziplinären Modelle kombiniert.

Eine unmögliche Möglichkeit, geschaffen für uns beide, gänzlich abweichend von der kausalen, deterministischen Natur, die mein bisherigen Leben unter strenger Aufsicht meiner Erzeuger gleich dem laplaceschen Dämon, bestimmt hatte.

Doch dem Dämon konnte man nicht entwischen.

Es hatte alles anders, oder etwa doch wie von Beginn an vorbestimmt, kommen müssen.

Meine ohnehin schon zerbrechlichen Träume einer Zukunft mit dem Älteren waren zusammengefallen wie ein Kartenhaus bei einer leichten Brise, als ich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde seinen Silberschopf durch die penibel gepflegte Glasfront unserer Hauses hatte funkeln sehen, während fast zeitgleich auch schon der Stein unser Fenster durchschlagen und ich mich, eine Mischung aus Spucke und Blut hustend, auf die andere Körperhälfte geschmissen, da ich bereits gespürt hatte, wie mein rechter Lungenflügel langsam zu kollabieren drohte.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis du dort auftauchen würdest.

Egal, wie oft ich dir gesagt hatte, du solltest dich verdammt nochmal fernhalten, insgeheim hätte ich wissen müssen, dass du nicht auf mich hörst.

Wie du es nie tatest.

Tonlos rann eine vereinzelte Träne meine vor Schmerz pulsierende Wange hinab, sobald ich die innere Ode in meiner Lethargie nun direkt an den Schwarzhaarigen wandte.

Vielleicht hatte ich doch eine kleine Schwäche für Dramatik.

Nur einen Wimpernschlag lang blitzte sein Gesicht vor meinem Geist auf und brachte die Stimmen in meinem Kopf vollends zum Eskalieren.

Ich wusste weder wie, noch warum es mir gerade unter der, vom Wind geschüttelten, Trauerweide gelungen war, die Kontrolle wieder zurückzuerlangen, das Steuer kurz vor dem ultimativen Zusammenstoß noch einmal herumzureißen, so gesehen einen deus ex machina zu vollführen.

Und obgleich mir dieses Abwenden des größtmöglichen Unheils zumindest die gröbsten Schuldgefühle fernhielt, kam ich doch nicht umhin, mich für jede geschehene, unumkehrbare Berührung und jede übergriffige Handlung zu fühlen, als sei ich der Teufel höchstpersönlich.

Mein endgültiges Ende würde dem Älteren bestimmt helfen, diese grausamen Bilder von mir aus dem Gedächtnis zu radieren, es musste einfach so sein.

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