~ 18.4 ~
Reflexartig zog ich den Kopf ein, mein Blick fiel durch die großen, tiefen Seitenfenster, die neben der Tür, vor der ich stand, in regelmäßigen Abständen in die restliche verwitterte Außenwand eingelassen waren.
Meine Gedanken begannen zu rasen; was, oder eher gesagt wer, könnte das gewesen sein?
Leise schlich ich die Stufen erneut herunter, um unauffällig durch den fast bodentiefen Fensterrahmen unmittelbar neben der steinernen Treppe zu spähen.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich, sodass ich unbewusst die Kapuze des Hoodies wieder über meinen Kopf zog.
Vor dem Fenster angelangt, stellte ich fest, dass es sich doch an einem höheren Posten befand, als ich anfangs angenommen hatte.
Mit leisem Fluchen schob ich die die dichten Büsche, welche sich davor in einem akribisch angelegten Beet aneinanderreihten, zur Seite.
Ächzend musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, mit meinen Fingern den verwitterten, steinernen Vorsprung umklammert, um nicht gänzlich das Gleichgewicht zu verlieren; was ich daraufhin jedoch erblickte, als ich, meine Muskeln vor lauter Anstrengung bereits unkontrolliert zitternd, meinen Kopf schmerzhaft in den Nacken gelegt hatte, um überhaupt einen Blick durch die polierte Scheibe erhaschen zu können, hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können:
Die, die vereinzelten Sonnenstrahlen reflektierenden, Fensterscheiben gaben die Sicht frei auf Jeongguk, welcher, mir den Rücken zugewandt, sich, grotesk verkrümmt, auf dem Boden zusammengekauert hatte, vor ihm ein älteres Paar, gekleidet in teuer aussehenden Kostümen, die beinahe teuflisch grinsend auf den Jüngeren niederblickten, während sie abwechselnd mit ihren polierten Lackschuhen immer wieder fest in seine Magengrube traten.
Meine Augen unnatürlich weit aufgerissen, verlor ich nun endgültig das Gleichgewicht und landete hart auf dem ausgekühlten Erdboden.
Unmittelbar darauf begann ich am ganzen Körper zu zittern, mein Gehirn wurde von tausenden Gedanken und Fragen geflutet; Wer waren diese Menschen, waren es Einbrecher oder könnte es tatsächlich sein, dass... Unzählige Erinnerungen flackerten gleichzeitig in meinem Gedächtnis auf und schienen mich gänzlich zu überwältigen:
Jeongguks mysteriöse Verletzungen, über die er nie ein Wort verlieren wollte, seine Aussage, dass er froh war, keine weiteren Geschwister mehr zu haben, obwohl er Kinder gern mochte, seine unglaublich vielen winzigen Reaktionen, die er unbewusst tat, wenn ich auf das Thema Eltern oder Familie zu sprechen kam, die Geheimniskrämerei um seine Wohnsituation, die Aussage von ihm, er müsste seinen Eltern mit der Firma helfen und das daraufhin mehr als seltsame Verhalten, als er danach wieder bei mir zuhause war, seine frische Wunde am Handgelenk, nachdem er mich den einen Abend nachhause gebracht hatte und die tiefe Narbe inmitten seines Gesichtes, nachdem er sich mit mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hatte, um mir mit meiner Panikattacke zu helfen..
Unaufhörlich rannen stumm immer mehr Tränen meine Wangen hinab; Wie hatte ich so blind sein können?
Mehr und mehr Erinnerungen ploppten in meinen Gedanken auf und eine riesige Welle aus Ekel, Abscheu, Selbstvorwürfen und Angst überrollte mich.
Was sollte ich jetzt nur tun, ich konnte doch nicht hier sitzen und nichts unternehmen, während sie Jeongguk, meinen Jeongguk, darin quälten?
Ohne auch nur eine weitere Sekunde tatenlos verstreichen zu lassen, schnappte ich mir einen großen, schweren Stein, der im Beet einige Meter entfernt von mir lag, nahm etwas Abstand und warf ihn mit aller Kraft durch das Fenster neben dem, durch den ich den Jüngeren gerade erblickt hatte.
Panisch zog ich meinen Kopf ein, als das Glas unter einem lauten Scheppern in tausende winzige Einzelteile zerbarst und die Geräusche im Inneren gänzlich zum Verstummen brachte.
Mein Fluchtinstinkt ergriff die Oberhand, sofort wandte ich mich um und hastete schnurstracks in Richtung Ausgang.
Immer schneller rannte ich, ohne mich nur einmal umzudrehen.
Der Wind peitschte mir ins Gesicht, fuhr mir schneidend durch die silbernen Haare, und füllte beißend meine Lungen unkontrolliert mit immer mehr Sauerstoff, doch ich dachte nicht ans Stehenbleiben; zu viele Eindrücke, zu viele Gefühle fluteten gerade meinen Körper, der daraufhin völlig aus den Fugen zu geraten schien.
Um meine Fährte zu verwischen, bog ich absichtlich, nachdem ich das gusseiserne Tor hinter mir gelassen hatte, links in den Wald ein, und lief nicht die asphaltierte Straße entlang.
Der schneidende Wind brannte in meinen Augen und vermischte sich mit dem unaufhörlich von meinen Tränendrüsen produzierten Sekret, welches aufgrund der Geschwindigkeit fast waagerecht mein gerötetes Gesicht entlanglief.
Ich achtete nicht auf den tückischen Untergrund zu meinen Füßen; mit riesigen Sprüngen hechtete ich durch das sich vor mir erstreckende Dickicht, die Dornen und abgebrochenen Äste, die mir das Gesicht verkratzten und sich in meinem Pullover verfingen, blendete ich vollkommen aus; eine Zeit lang vernahm ich nicht mehr als meine eigenen knackenden Schritte auf dem unebenen Waldboden und mein mir bis zum Hals schlagendes, immer schneller Blut durch meine Adern pumpendes, Herz.
Das Erste, was ich wieder bewusst wahrnahm, war das seichte Rascheln der gewaltigen überhängenden Ruten der großen alten Weide, welche sich sanft im Wind wiegten, während ich, mein Atem gepresst und stoßweiße gehend, erschöpft an ihrer morschen, mit Moos überwucherten Rinde zusammenbrach.
Helle Punkte tanzten ungehalten am Rande meines Blickfelds, mein Kopf pochte unaufhörlich, beinahe fühlte es sich an, als würde jemand mit einem langen Messer immer wieder zwischen meine verschlungenen Hirnwindungen hieben und meine Knie zuckten unkontrolliert, als ich die schmerzenden, von Krämpfen durchzogenen Gliedmaßen, von mir streckte.
Doch obwohl mein Körper langsam aber sicher zur Ruhe kam, schienen meine Gedanken immer mehr an Fahrt aufzunehmen.
Sollte ich die Polizei rufen?
Unruhig zuckte meine Hand in Richtung meiner Hosentasche, hastig wählte ich die Notrufnummer, jedoch ehe das Freizeichen überhaupt ertönen konnte, beendete ich überstürzt den ausgehenden Anruf.
Warum genau, wusste ich selbst nicht. Aber wenn Jeongguk sich so viel Mühe gab, das Ganze vor mir und der restlichen Außenwelt zu verschleiern, müsste das nicht seine Gründe haben?
Oder handelte es sich hier um das so berühmt berüchtigte Stockholmsyndrom?
Darüber hinaus wusste ich nicht einmal, was genau ich sagen sollte. Wahrscheinlich war es besser, zunächst einmal mit dem Jüngeren zu sprechen und dann, gemeinsam mit ihm, die Polizei einzuschalten.
Allein bei dem Gedanken an Jeongguk durchfuhr mich ein heftiger Schmerz von meiner Brust her ausstrahlend.
Hätte ich gerade anders reagieren sollen?
Hätte ich versuchen sollen, ihm zu helfen, sodass seine - ich wagte es nicht einmal, das Wort zu denken - dass seine Eltern sicher von ihm abgelassen hätten?
Ich hoffte zumindest, dies mit meiner mehr oder weniger unüberlegten Reaktion erreicht zu haben. Verzweifelt starrte ich auf das kleine, elektronische Gerät in meiner Hand, doch es hatte weiterhin noch kein Lebenszeichen des Jüngeren empfangen.
Abermals kamen mir die quälenden, dutzenden Details in den Sinn, die ich in den letzten Monaten so sträflich missachtet hatte.
Wie hatte ich so selbstsüchtig, so ichbezogen handeln können, dass mir gänzlich entgangen war, was mit dem Jüngeren nicht stimmte?
Dabei wäre es so offensichtlich gewesen, wenn ich ihm nur einmal richtig zugehört und hinter die Fassade seiner Worte und seiner Taten geblickt hätte.
Umso schmerzlicher machte mir diese Tatsache bewusst, wie unrecht ich ihm zu Beginn getan hatte und wie unsensibel ich in vielen Situationen reagiert hatte.
Wie konnte es sein, dass ein Mensch trotz dieser Qualen, die ihm ja scheinbar, zumindest seinem geschundenen Oberkörper nach zu urteilen, fast täglich mit einer grauenvollen Systematik zugefügt wurden, trotzdem noch so ein reines Herz besaß und sich immer versuchte, um mich zu kümmern, immer versuchte, mich zu retten?
In mir stiegen erneut heiße Tränen auf, die sich kurz darauf auch schon ihren Weg über meine roten, von Ästen und Gestrüpp zerkratzten, Wangen bahnten.
Schmerzhaft brannten sie in den vielen kleinen oberflächlichen Verletzungen meiner weichen Gesichtshaut.
Mit einer schnellen Bewegung entledigte ich mich Jeongguks Pullover, strich unwirsch das zerknautschte Hemd, welches ich in der Nacht in Seoul getragen hatte, einigermaßen gerade, ehe ich auch schon schluchzend mein Gesicht gänzlich in dem warmen, gut riechenden Stoff Jeongguks Kleidungsstückes vergrub.
Ich wusste nicht, wie lange ich da so saß, halb angelehnt an die warme Rinde der Trauerweide, dem vereinzelten Vogelgezwitscher und den langen Ästen, die unregelmäßig über die, das Sonnenlicht glitzernd reflektierende, Oberfläche streiften, lauschte, und mich in unglaubliche Selbstvorwürfen stürzte, da wurden meine Lider plötzlich immer schwerer, bis ich dem Druck, der sich in mir aufbaute, schließlich nachgab, resignierend meine Augen schloß und, Jeongguks mittlerweile sehr mitgenommenen Pullover dabei fest umklammerte, während ich mein Gesicht abermals in ihm vergrub, in einen unruhigen Schlummer wegdämmerte.
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