~ 17.4 ~

Sobald wir die Türschwelle überschritten hatten, schlug uns eine stickige, beinahe schwere Luft entgegen. Neugierig sah ich mich in dem kleinen Raum um.

Die Bar wirkte scheinbar wahllos zusammengestückelt aus unzähligen, verschiedenen Stilelementen; als hätte jemand beim Einrichten ständig neue Ideen gehabt sein Grundkonzept dann dutzende Male erneut über den Haufen geworfen.

Die Wände waren in einem saftigen gelb gestrichen, während die breiten Querbalken, die sowohl an der Decke als auch senkrecht zwischen den Tischen entlangliefen, in einem satten rot bepinselt waren.

Überall hingen alte Landkarten und Stadtpläne, bei näherer Betrachtung porträtierten sie alle auf die ein oder andere Art und Weise die Straßen Seouls. Das Mobiliar erinnerte durchweg an die Bestuhlung eines typischen Pubs, an den ausgeblichenen, glänzenden Eichenholztischen saßen vereinzelt einige Menschen und unterhielten sich ausgelassen, im Schein der wenigen runden Hängelampen, die schummeriges Licht spendeten, miteinander.

Blickfang bildete jedoch definitiv die große, einladende Theke, welche buchstäblich bis unter die Decke vollgepackt war mit den unterschiedlichsten Flaschen und Pullen jeglicher Farbe, Form und Größe, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit alle alkoholische Flüssigkeiten enthielten. Dicht reihten sie sich auf grüngetönten Glasregalen, vor denen emsig einige Mitarbeiter her huschten, und eilig die wenigen Gäste, die direkt am Tresen hockten, bedienten.

Überall im Laden standen kleine, bunte Teelichthalter, in denen sich winzige Kerzen befanden, die bei jedem Windhauch, der durch das leicht geöffnete Fenster hinter der Theke fegte, unruhig zu flackern begannen.

Während ich noch unsicher dabei war, die vielen, auf uns einprasselnden Eindrücke auf mich wirken zu lassen, zerrte Jeongguk meinen wehrlosen Körper bereits zur Theke und platzierte mich auf einem der dunklen Barhocker.

Sanft fuhr ich mit den Fingern über das lasierte, abgegriffene Holz des Tresens, während der Jüngere eine ältere Frau - der Schürze, die sie sich locker um die Hüfte gebunden hatte, zufolge, eine Kellnerin – mit einer freudigen Handbewegung zu sich rief.

»Jeongguk!«, entgegnete diese nur überrascht in einem starken Dialekt, den ich gerade jedoch nicht wirklich einzuordnen vermochte. Sie deutete ihrer Kollegin, die Gäste, die sie gerade bediente, zu übernehmen und kam hastig auf uns zugeeilt. Kannte sie Jeongguk etwa?

»Ji-Woo!«, entgegnete der Jüngere mit einem Lächeln, woraufhin die Frau über die Theke hinweg seine Hand in ihre nahm und sie einmal fest drückte.

Ihr langes, glattes Haar war rabenschwarz, unregelmäßig durchzogen von einigen silbernen Strähnen, umrahmte es ihr leicht faltiges Gesicht. Sie hatte eine zierliche Figur, mit ihren braunen mandelförmigen Augen lächelte sie zunächst Jeongguk an, bevor ihr Blick an mir hängen blieb.

»Na Mr. Jeon, wenn haben Sie mir denn da mit in mein bescheidenes Lokal gebracht?«, erhob sie scherzhaft ihre Stimme, wobei sie beim Sprechen jeden Vokal etwas in die Länge zog.

Offenbar schienen sie sich zu kennen, doch warum wunderte sie sich nicht über Jeongguks verletztes Gesicht?

Schüchtern klimperte ich sie aus meinen dichten Wimpern heraus an.

»Das ist Taehyung!«, kam Jeongguk mir zuvor und stellte mich der freundlichen, wenn auch etwas lauten, Person uns gegenüber vor.

Woher er sie wohl kannte? Abwesend runzelte ich leicht die Stirn.

»Ohhh«, quietschte diese daraufhin entzückt. »Ist er dein fester Freund?« Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und trällerte in eine andere Richtung. »Sung, du musst sofort herkommen, Jeongguk ist hier und er will uns seinen ersten richtigen Freund vorstellen.«

Verzweifelt schaute ich zwischen der Dame und Jeongguk, welchen die Situation gerade scheinbar über alle Maßen zu amüsieren schien, hin und her und wusste nicht, was ich entgegnen sollte.

»Aber aber, mein Junge«, entgegnete die Frau mit dem Namen Ji-Woo. »Du musst doch nicht so schüchtern sein!«, flüsterte sie mir über den Tresen gebeugt zu, während sie mit ihren zarten Fingern über meine mittlerweile tiefrot verfärbte Wange strich.

Ich gab mir alle Mühe, bei der plötzlichen Berührung nicht zurückzuschrecken, jedoch konnte ich mir ein kleines Zucken nicht verkneifen, was Ji-Woo glücklicherweise nicht bemerkte, Jeongguk jedoch sofort registrierte und meine Hand ergriff, bevor er sie mit seiner verschränkte und beide unbemerkt unter die Theke gleiten ließ.
Beruhigend fuhr er wie bereits zuvor mit seinem Daumen über meinen Handrücken.

Verwirrt schaute ich zu ihm herüber. Wer waren diese Leute und warum behandelten sie ihn beinahe wie ... beinahe wie Familie? Dass dies hier seine Eltern sein sollten, die vermutlich milliardenschweren, supererfolgreichen Geschäftsleute, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Da tauchte plötzlich ein Mann in meinem Blickfeld auf. Sein ebenfalls grau meliertes Haar schimmerte angenehm im Schein der uns umgebenen Kerzen; liebevoll umarmte er kurz Ji-Woo von hinten und drückte ihr einen schnellen Kuss auf den Scheitel, ehe er sich ebenfalls zu mir und Jeongguk wandte und uns ein warmes Lächeln schenkte. »Jeon Jeongguk«, begann der Mann mit einer fast unheimlich tiefen Stimme zu sprechen. »Schön, dass du dich auch mal wieder bei uns blicken lässt«, scherzte er.

Ich hatte das Gefühl, dass sein Blick, im Gegensatz zu dem Ji-Woos, für den Bruchteil einer Sekunde an der roten verkrusteten Stelle auf Jeongguks Wange hängen blieb und ein verärgerter Schatten über sein Gesicht zu huschen schien. In jedem seiner Worte schwang ebenfalls derselbe Dialekt, den ich zuvor schon bei der Frau wahrgenommen hatte.

»Park Sung«, entgegnete Jeongguk lediglich. »Du weißt, ich komme euch so oft besuchen, wie es mir möglich ist.« Ich spürte, wie sich seine Hand leicht verkrampfte, woraufhin nun ich begann, über seinen Handrücken langsam mit meinem Daumen zu fahren.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Mann seufzend.

»Sung, sieh doch! Das ist Jeongguks Freund«, rief Ji-Woo abermals erfreulich ihrem, ich vermutete mal Mann, über die Schulter. Aufgeregt klatschte sie einige Male in die Hände.

Der Blick des Mannes richtete sich auf mich, seine Augen strahlten eine unglaubliche Wärme und Gelassenheit aus, weshalb ich mich sogleich etwas mehr entspannte.

»Hallo, ich bin Sung«, sagte er und lächelte leicht. »Du musst das Benehmen meiner Frau entschuldigen, sie ist nur einfach so glücklich, dass unser guter Jeongguk jetzt nicht mehr allein ist«, fuhr er fort.

Stumm nickte ich, weil ich schlicht nicht wusste, was ich erwidern sollte. Ich wollte vor dieser quietschenden Frau jetzt garantiert nicht unsere gesamtes, kompliziertes Beziehungsgefüge ausbreiten, also beließ ich es bei ihren übereilten Schlussfolgerungen.

Darüber hinaus machte mein armes Herz bei jeder Erwähnung von Jeongguk und mir als festem Paar, einen kleinen Sprung, was ich jedoch sogleich versuchte, aus meinen Gedanken zu schieben.

Und mal ganz davon abgesehen kannte Jeongguk diese beiden Menschen, ganz im Gegensatz zu mir, also war er für die korrekte Informationsvermittlung verantwortlich, entzog ich mich weiter ungefragt stumm der Verantwortung.

Eifrig begann Ji-Woo unmittelbar nach den Worten ihres Mannes eifrig zu nicken. »Ja, ja, genauso ist es. Ich hatte bereits nicht mehr daran geglaubt, dass Jeongguk irgendwann noch jemandem sein Herz schenken würde«, murmelte sie und ihre Augen begannen verdächtig zu glänzen.

Ich vernahm Jeongguks kehliges Lachen neben mir. »Jetzt mach aber mal halblang, Ji-Woo. So ein Pflegefall bin ich nun auch wieder nicht«, rief er mit einem Lächeln auf den Lippen, seine Augen jedoch strahlten eine gewisse Ernsthaftigkeit aus.

»Genug davon«, wischte der Mann das Thema beiseite wie lästiges Ungeziefer. »Was führt dich«, er bedachte mich eines kurzen Blickes, »oder eher gesagt euch in unser bescheidenes Lokal?«

»Wir suchen etwas Spaß«, erwiderte der Jüngere nur neckisch. »Also was könnt ihr uns anbieten?«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schnappte sich Sung vier schmale kleine Gläser, eine dunkelgrüne Glasflasche mit blauer Aufschrift sowie einem blauen Schraubverschluss und platzierte alles auf dem Tresen vor uns.

»Etwas aus der Heimat gefällig?«, brummte der Mann. Erneut griff er die grüne Flasche, wobei ich nun auch die Aufschrift genauer erkennen konnte. Neben dem großen ›C1‹ stand in derselben blauen, schnörkeligen Schrift nur ›Daesuns selbstgebrannter Soju¹.

Sung schenkte etwas von der klaren Flüssigkeit in zwei der Gläser, bevor er sie Jeongguk und mir reichte, welche wir respektvoll mit beiden Händen entgegennahmen, danach wiederholten wir den Vorgang mit dem Unterschied, dass Jeongguk den beiden etwas eingoss und es über die Theke reichte.

Zwar verstand ich nicht viel von den Gepflogenheiten beim Sojutrinken, meist hatte ich Alkohol generell nur mit meinen Freunden allein konsumiert, doch mir war bewusst, dass gerade die ältere Generation dieses Getränk mit viel Respekt und Tradition trank, dementsprechend tat ich es einfach Jeongguk gleich.

Ich drehte das Gesicht also leicht zur Seite, wobei ich dem Jüngeren dabei einmal kurz in die Augen schauen konnte, der mich nur verschmitzt angrinste und noch flüsterte: »Na mal sehen, wie viel du verträgst«, bevor wir alle den Kopf in den Nacken legten und ich spürte, wie die beißende Flüssigkeit kalt meinen Rachen hinabfloß.

»Mehr gibt's aber für uns nicht, Sung«, tadelte seine Frau ihn sogleich, als wir die Gläser nacheinander auf dem dunklen Holz abstellten. »Immerhin arbeiten wir gerade«, fügte sie hinzu, welches ihr Mann nur mit einem belustigten Augenrollen quittierte.

Fragend wandte ich mich währenddessen an Jeongguk: »Was meintet ihr gerade mit ›aus der Heimat‹? Dieser Soju kommt doch aus Busan oder nicht?«

Bevor der Jüngere auch nur den Mund aufmachen konnte, erklang schon die schrille Stimme Ji-Woos: »Geboren und aufgewachsen!«, erwiderte sie stolz. »Naja Jeongguk nicht so ganz, aber zumindest mein Mann und ich.«

Daher also der Gyeongsang² Dialekt, schoss es mir durch den Kopf.

Ich wusste, dass diese nasale Aussprache und die derart langgezogenen Vokale mir vertraut vorgekommen waren, immerhin sprach Jimin den gleichen Dialekt.

Interessiert wandte ich mich wieder dem Schwarzhaarigen zu. »Du hast gar nicht erzählt, dass du nicht ursprünglich von hier kommst!«, lachte ich. »Deine Aussprache ist so klar«, fügte ich neugierig hinzu.

Immer mehr Fragen bezüglich des Verhältnisses von Jeongguk zu diesen Leuten drängten sich in meine Bewusstsein, aber ihn hier in Hörweite danach zu fragen, wäre mir auch zu unangenehm gewesen.

»Ich bin erst mit acht hergezogen«, erwiderte Jeongguk nur, mit seinem Blick währenddessen angestrengt die leeren Gläser vor uns fokussierend.

»Ja und wir – wir wohnen und arbeiten erst seit ein paar Jahren hier, weil wir dieses Lokal von dem Vater meines Mannes übernommen haben«, warf die Frau ein.

»Das interessiert den jungen Mann doch gar nicht, lass uns wieder an die Arbeit gehen und den beiden etwas Privatsphäre gewähren«, unterbrach Sung schnell seine Frau und schob sie an die andere Ecke des Tresens.

Geschockt winkte sie uns noch überschwänglich zu, ergab sich dann aber ihrem Schicksal und wandte sich wieder den restlichen Gästen zu.

Jeongguk, der das gesamte Gespräch über erstaunlich wenig Erklärendes zu der gesamten Situation von sich gegeben hatte, drückte nur leicht meine Hand, ehe er sich wiedererwartend erhob.

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¹Daesun ist die, in Busan den Markt dominierende, Firma, die Soju in der Region destilliert. Das liegt daran, dass 1973 in Südkorea ein so erbitterter Kampf um den dortigen Sojumarkt entstand, dass die Regierung nur je einer Marke pro Provinz erlaubte, ihre Spirituose dort zu vertreiben. 1996 wurde diese Regelung aufgehoben, sodass Firmen ihren Soju wieder überall verkaufen durften, jedoch hatten sich die Marktführer in den meisten Regionen in der Zeit bereits monopolähnliche Stellungen aufgebaut, sodass weiterhin ein bestimmter Soju die Region, aus der er stammt, repräsentiert.

²경상 (rev. Rom. Gyeongsang) war eine ehemalige Provinz im Südosten Koreas während der Joseon Dynastie. Heute ist die Region in weitere fünf administrative Teile gegliedert: die drei unabhängigen Städte Busan, Daegu und Ulsan, sowie die beiden Provinzen Gyeongsangbuk-do und Gyeongsangnam-do.

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