~ 17.2 ~

Wie lange ich nicht mehr hier gewesen war, schoss es mir abermals durch den Kopf, als wir Hand in Hand durch die schmalen, verwinkelten Gassen Hongdaes¹ schlenderten.

Was Übertag ein bunt zusammengestückeltes Viertel aus trendigen Modegeschäften, die Variationen immer wiederkehrender Schnitte aus vergangenen Dekaden an die nächste Generation verkauften, unzähligen Buden, welche für wenige Won frittiertes Hühnchen am Spieß, das Gesicht verziehend süße Zuckerwatte in jeder Farbe des Regenbogens und köstlichen, frischgepressten Ddamong² anboten, und, beinahe versteckt zwischen den schier endlosen Tavernen, Lädchen, Buden und Straßenhändlern, schmale Kellertreppen, die zum Stöbern in fast einschüchternd riesige Antiquitätenshops einluden, war, verwandelte sich das extravagante Studentenviertel in der Nacht zu einem Lichtermeer aus abertausenden grellen Neonschildern, Anzeigetafeln, blinkenden Lichterketten und bunten Lampions; dicht an dicht erfüllten sie die engen Gassen mit einem angenehmen Schimmern und trugen so still zu dem zwiespältigen Image des Stadtbezirks bei.

Die elektrisierende, beinahe pulsierend ausgelassene Stimmung wurde angeheizt durch viele kleine Bars und Essenshäuser, sowie Clubs und Kneipen, die sich auf der langen Meile Tür an Tür reihten und erst in den späten Abendstunden ihre Tore öffneten, um zu einem Spottpreis die jungen Studenten mit ausgefallenen alkoholischen Genüssen wie fluoreszierendem Soju, dickflüssigem Dong Dong Ju³ oder milchigem Takju⁴, in ihre Lokale zu locken.

Der schier endlose, nicht abreißende Strom aus Menschen zog uns mit sich und verschluckte uns, sobald wir einen Fuß auf die gepflasterten Wege des hippen Viertels gesetzt hatten.

Obwohl ich in solch großen Ansammlungen normalerweise schnell den Kopf verlor, war es hier dennoch die unbeschreibliche Stimmung auf den Straßen, die mich jedes Mal abholte und dafür sorgte, dass sich meine Laune hob; vorausgesetzt, ich verweilte nicht zulange unmittelbar in dem Trubel zwischen den eng aneinander gepressten Leibern.

Die Menschen hier wirkten immer so frei von jeglichen Sorgen und Problemen, egal wohin mein Blick wanderte, immer traf man auf fröhliche Gesichter, die einen glücklich anlächelten.

Als hätte Jeongguk meine mir nachhängenden Gedanken gehört, beschleunigte er seinen Schritt, während er mir über die Schulter hinweg ein warmes Lächeln schenkte.

Warum konnte er nicht immer so glücklich sein?, sinnierte ich stumm, ehe ich sein Lächeln schüchtern erwiderte.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, rief ich dem Jüngeren nach einer Weile zu.

So sehr ich früher meine ausgelassenen Touren durch die Studentenmeile geliebt hatte, so sehr wollte ich ihn gerade einfach nur für mich haben und seine Anwesenheit genießen.

Der Schneefall hatte bereits vor einiger Zeit aufgehört, lässig strich sich der Jüngere sein noch leicht feuchtes Haar aus der Stirn, bevor er sich zu mir umdrehte und mit einem mir unheimlichen Grinsen erwiderte: »Wir gehen zu meinem Hotel.«

Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, ehe ich ihn, sobald sich mir die Möglichkeit bot, an seiner Hand zur Seite zog und ihn eines unsicheren Blickes bedachte. »Was wollen wir denn in deinem Hotelzimmer?«, nuschelte ich vorsichtig.

Meine Gedanken wurden mit unzähligen Szenarien geflutet, die mir bildlich vor Augen führten, was der Jüngere alles mit mir anstellen könnte, wenn wir zwei ganz allein in einem ruhigen, abgeschlossenen Zimmer waren.

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. »Warum hast du überhaupt eins hier in Seoul?«, versuchte ich meine Reaktion noch irgendwie zu retten, doch vergebens.

Der amüsierte Blick, welchem der Schwarzhaarige mich bedachte, wurde automatisch weicher, jedoch auch einen Funken ernster. »Ein Hotelzimmer habe ich, da ich erst morgen zurück in unser Dorf fahre, weil meine Eltern sowieso noch auf Geschäftsreise sind und ich dadurch quasi frei habe das Wochenende«, erwiderte er und wandte seinen Blick kurz ab, ehe er sich mit einem Lächeln auf den Lippen wieder zu mir drehte und mir fest in die Augen sah. »Und wenn du erlaubst, würde ich mich eben dort meiner durchnässten Sachen entledigen und dich dann zum Essen ausführen.«

Mir stockte der Atem.

Er wollte was? Wo war der Jeongguk, der noch vor wenigen Stunden verzweifelt an meiner Schulter geweint hatte?

Unsicher zupfte ich an dem übergroßen Ärmel seines Mantels herum.

So sehr ich auch all unsere Probleme verdrängen wollte, kam ich nicht umhin zu glauben, dass der Jüngere sich gerade nur wegen mir so glücklich aufführte.

Vielleicht mussten wir doch erst einige Sachen besprechen. »Jeongguk, du wir können auch einfach nur etwas ... reden. Also über die Dinge, die so passiert sind in letzter Zeit«, murmelte ich, meinen Blick zu Boden gewandt.

Ich spürte, wie sich der Jüngere für einen kurzen Moment versteifte. »Um ehrlich zu sein, möchte ich im Augenblick einfach nur abschalten«, entgegnete er. »Lass uns einfach etwas Spaß haben, ja?«, fügte Jeongguk etwas leiser hinzu, sein Blicke suchte den meinen, eine Mischung aus Unsicherheit und Bitte spiegelte sich in seinen Augen wider.

Hatte ich mich etwa verhört? Ich dachte, Horrorfilme wären das einzige, womit er seine Zeit verbrachte, wenn er nicht gerade arbeitete.

»Wer bist du und was hast du mit Jeongguk gemacht?«, entgegnete ich verdutzt, aber lächelnd. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dieses Viertel hier überhaupt kennst.«

Der Jüngere warf mir ein schiefes Grinsen zu, entgegnete jedoch nichts; in seinem Blick hingegen lag ein winziger Funken ... Angst?

Wovor sollte er sich fürchten? Ich war definitiv kein unbeschriebenes Blatt mehr, falls er sich deshalb sorgte.

Schnell drückte ich seine Hand, ehe ich daraufhin hastig erwiderte: »Gut, lass uns etwas Spaß haben!«

__





Unbeholfen stand ich nun in Jeongguks zugegebenermaßen riesigem Hotelzimmer und grub meine Hände tief in den Taschen seines übergroßen Mantels.

»Jetzt setz dich schon und steh da nicht so starr in der Gegend herum«, lachte der Jüngere, seine Schuhe achtlos von den Füßen streifend.

Unsicher blickte ich mich in dem großen Zimmer um, ehe ich mich langsam seiner Jacke entledigte und mich auf den Rand des großen, ordentlich gemachten Doppelbetts setzte. Es schien ein wirklich gehobenes Hotel zu sein, die wenigen Möbel, die der Raum enthielt, wirkten sehr edel und teuer, in sämtlichen Oberflächen konnte man sich spiegeln und das Zimmer besaß einen atemberaubenden Blick auf das nächtliche Seoul.

»Jeongguk, was machst du da??«, rief ich auf einmal entgeistert, als dieser ohne Vorwarnung im Begriff war, sein Hemd aufzuknöpfen.

Unwillkürlich überschlug ich meine Beine. Das hatte mir definitiv nicht vorgeschwebt bei der Aussage: ›Lass uns Spaß haben‹.

Immerhin wusste ich noch überhaupt nicht, wie genau- Schluss mit diesen Gedanken Tae!, unterbrach ich mich selbst harsch.

Jeongguk hingegen erwiderte nur mit seinem kehligen Lachen: »Alles ist gut, ich will mir nur schnell was Trockenes anziehen.«

»Oh«, entfuhr es mir. »Stimmt ja ...«

Leise kichernd, knöpfte sich der Jüngere also lässig das Hemd auf, während ich mit aller Kraft versuchte, nicht auf seine perfekten Bauchmuskeln zu starren, was sich als noch wesentlich schwieriger als ohnehin angenommen, herausstellte.

Obwohl er sich bereits etwas von mir abgewandt hatte, wuchs in mir beinahe das Gefühl, dass der Schwarzhaarige sich absichtlich so quälend langsam seiner nassen Sachen entledigte – demonstrativ wollte ich meinen Blick abwenden, da entdeckte ich eine gezackte, verblasste Narbe direkt unter seinem Bauchnabel.

Hatte ich sie etwa damals auf dem Sofa bei mir zuhause unter seinem Hemd ertastet?

Als Jeongguk meinen geschockten Blick bemerkte, verdeckte er die Stelle schnell mit seiner Hand, bevor er sich ein trockenes Hemd überstreifte.

Woher diese Narbe wohl stammen mochte?

Ich beschloss, meine Gedanken nicht weiter dahingehend abschweifen zu lassen, da er mir vermutlich sowieso nicht mehr erzählen würde als damals, wenn ich ihn jetzt wieder bedrängte.

Immerhin schwieg er auch noch über die riesige Wunde, die seine Wange zierte.

Also bemühte ich mich um ein möglichst unschuldiges Lächeln, ehe Jeongguk sich hastig das frische Hemd zuknöpfte.

Stumm beobachtete ich, wie er einen weiteren Mantel aus seiner Reisetasche, welche auf einem kleinen Hocker an der Wand ruhte, zog und ihn sich elegant über die Schultern warf.

Warum musste alles bei ihm immer so perfekt aussehen? Seine fließenden Bewegungen, generell seine gesamte Ausstrahlung ließen mich immer wieder sprachlos werden.

»Wollen wir?«, riss mich seine dunkle Stimme aus meinen Gedanken. Erwartungsvoll streckte er mir seine Hand entgegen, welche ich daraufhin zögerlich ergriff und mich bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht von Jeongguk entführen ließ.


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¹홍대압 (rev. Rom. hongdae-ap, kurz auch nur hongdae genannt) ist ein buntes, lebhaftes Studentenviertel der Kunst- und Kulturszene in der unmittelbaren Nähe der Hongik-Universität (홍익대학교) in Seoul. Der Name des Viertels bildet sich relativ simpel aus den drei Silben „홍" für die erste Silbe des Namens der Universität, „대" für Uni und „압" für vor, was dann zusammengesetzt so viel bedeutet wie „vor der Hongik-Uni".

²따몽 (rev. Rom. ddamong) ist eine Spezialität des gleichnamigen Ladens nahe der Hongik-Universität, welcher vor allem bekannt ist für ihre frischgepressten Säfte aus Grapefruits und anderen Früchten, die in der Schale der ausgehöhlten Frucht selbst serviert werden.

³동동주 (rev. Rom. Dong Dong Ju) ist eine traditionelle koreanische Spirituose. Der unfiltrierte Reiswein verdankt seinen Namen den winzigen Reiskörnern, die während des Genusses des Alkohols noch an dessen Oberfläche schwimmen (동동 heißt übersetzt so viel wie "schwimmend" oder "treibend" und 주 bedeutet übersetzt "Alkohol")

⁴탁주 (rev. Rom. Takju) wird häufig auch als Makgeolli (막걸리) bezeichnet, ist ein naturtrübes alkoholisches Getränk, welches aus Reis, Wasser, Nuruk und Hefe hergestellt wird. Makgeolli wird die Spirituose meist nur genannt, wenn man sich auf die verwässerten Takjus mit ca 6-8% beziehen will, die die Landwirte früher tranken, um den Durst auf ihren Feldern zu stillen. In den letzten Jahren wurde dieser wieder unter Studenten als billiger Weg sich zu betrinken beliebt. Er schmeckt herb und hat eine cremige Textur.

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