~ 16.3 ~

Mit klopfendem Herzen stand ich nun am Gleis in meiner alten Heimat, während ich mir gestresst abermals durch das frisch gewaschene Haar fuhr und diese verzweifelt versuchte, wieder zu richten, nachdem der Wind, der eisig über den überfüllten Bahnsteig pustete, sie mir zerzaust hatte.

Wiederholt lugte ich auf meine lederne Armbanduhr. 19:58 Uhr.

Um ein Haar hätte ich den letzten Zug in unserem Dorf verpasst. Völlig außer Atem war ich in der letzten Sekunde noch zwischen den sich bereits schließenden Türen durchgehuscht.

Hoffentlich hatte ich in der Eile nichts Wichtiges vergessen, das wäre typisch für mich. Automatisch tastete ich mich kurz ab. Schlüssel, Brieftasche, Handy. Alles soweit da.

Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen, währenddessen schweifte mein Blick ungeduldig umher.

Obwohl ich eine lange Zeit im Herzen Seouls gelebt hatte, war ich doch so gut wie nie hier gewesen.

Dennoch überkam mich ein fast heimeliges Gefühl hier im Strom der Menschenmassen, welche mit ausdruckslosen Gesichtern an mir vorbeizogen.

Ich sah Menschen in teuren Anzügen mit noch teurer aussehenden Aktentaschen, Familien mit ihren aufgedrehten Kindern, die ausgelassen tobten, während die überforderten Eltern nur verzweifelt versuchten, den Überblick über ihre Abfahrtszeit, ihr Gepäck und ihren wirbelnden Nachwuchs zu behalten, Paare, die sich in den Armen lagen, auf den Gesichtern ein trauriger Ausdruck liegend, ob wegen eines Abschieds oder wegen einer langersehnten Heimkunft war kaum auszumachen; ich sah Leute, die mit Mundschutz und Kapuze, sich fast bis zur Unkenntlichkeit verdeckten, unzählige lachende, sowie ausdruckslose, glückliche sowie traurige Gesichter; sie alle huschten an mir vorbei, es war als würde die Welt sich etwas schneller drehen, so rasch bewegte sich der nicht abreißende Strom an unterschiedlichsten Mienen und Emotionen vor meinen Augen; wie in Trance stand ich lediglich versteinert zwischen ihnen, übermannt von den erbarmungslos auf mich einprasselnden Eindrücken.

Beinahe aufdringlich vermischten sich weitere unzählige Geräusche und Gerüche mit der ohnehin schon gehetzten Szenerie; das zischende Koppeln zweier Züge unmittelbar neben mir, der Geruch von Metall auf Metall, der erzeugt wurde, wenn ein ankommender Zug quietschend in die Eisen ging und langsam in den tosenden Bahnhof einrollte, die monotonen, dumpfen Schritte unzähliger Paar Schuhe, die, vom schmutzigen Boden wiederhallend, zwar durcheinander und doch uniform ihre Besitzer auf dem harten Pflaster zu ihrem auserkorenen Ziel trugen; generell war man an diesem Ort umhüllt von einer schier lebendigen Aura, als wäre der Bahnhof die pulsierende Hauptschlagader der Metropole.

Unsicher zupfte ich an meinem weiten Hemdärmel herum. Jeongguk und ich hatten keinen genauen Treffpunkt ausgemacht, vielleicht sollte ich mich erstmal nach draußen vor die Station begeben und dort nach ihm Ausschau halten.

Meine Schritte schienen beinahe gänzlich vom tosenden Treiben auf dem dreckigen, gepflasterten Bahnsteig verschluckt zu werden, während ich den Blick auf den Boden gerichtet, den gelben Pflastersteinen folgte, die den Weg Richtung Bahnhofshalle wiesen.

Ich bahnte mir einen schmalen Gang durch die Massen, möglichst darauf bedacht, niemanden zu berühren, bevor ich schließlich aufseufzend die großen Glastüren durchschritt und meine Lungenflügel gierig mit kalter Nachtluft füllte.

Die Sonne war bereits vor längerer Zeit untergegangen, die gläserne Front der Seoul Station reflektierte eifrig die bereits brennenden Laternen des Platzes vor ihr.

Etwas abseits an einem nahgelegenen Geländer kam ich schlussendlich zum Stehen und umklammerte mit meiner Hand fest das eiskalte Metall.

Obwohl mir dieses bunte Treiben sofort ein Gefühl von Heimat vermittelte, ertrug ich es dennoch nicht zu lang und zu exzessiv solchem Trubel ausgesetzt zu sein.

Zu schnell legte sich sonst ein beinahe drückendes Gefühl auf meine Brust und es kam mir vor, als würde mir etwas die Luft zum Atmen abschnüren.

Zitternd pustete ich in den beißenden Wind, welcher sogleich unter mein Hemd fuhr und mich frösteln ließ.

Selbst schuld, wenn du keine Jacke mitnehmen wolltest, spottete ich.

Bei meinem Zeitdruck hatte ich es nicht mehr geschafft, eine meiner alten Winterjacken aus den Tiefen meines Schrankes zu kramen; unschlüssig hatte ich vor meinem Schreibtisch gestanden und Jeongguks Mantel angeschaut, bevor ich mich kurzerhand entschlossen hatte, dann doch lieber ganz ohne Jacke zu gehen.

Die Genugtuung wollte ich ihm nicht geben und wenn ich mich zu Tode fror.

Erneut warf ich einen Blick auf die Uhrzeit. Es war mittlerweile kurz nach acht Uhr.

Ob ich Jeongguk wohl mal anrufen sollte?

Allein bei dem Gedanken beschleunigte sich bereits mein Herzschlag.

Das kann ja nur gut werden, dachte ich entnervt.

»Taehyung«, riss mich eine dunkle Stimme wie aufs Stichwort aus meinen Gedanken und versetzte meinem Herzen einen Stich, sobald sie klingend an meine Ohren drang.

Erschrocken drehte ich mich um und fühlte mich wie so oft komplett überfahren von Jeongguks Erscheinung.

Jedoch währte mein Starren dieses Mal nur kurz, da etwas in seinem Gesicht unmittelbar meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. »Was ist denn mit dir passiert?«, schrie ich geschockt und bemerkte sofort, wie einige Augenpaare verwundert auf uns gerichtet wurden.

Ich trat näher an den Jüngeren heran und machte Anstalten, die dicke, rot verkrustete Narbe, welche seine linke Wange zierte, zu berühren, doch Jeongguk wich von mir, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

Schmerzhaft schluckend, riss ich meinen Arm direkt wieder herunter, sobald auch mir der Grund unseres Treffens siedend heiß erneut in den Sinn kam.

Jeongguk hingegen machte keine Anstalten, etwas zu erwidern, welches mich umso mehr verletzte.

Die Spannung zwischen uns war greifbar, nur heute lag in ihr kein Funken Vertrautheit, sondern lediglich Zwang.

Ich hatte ihn ja auch quasi zu diesem Treffen gezwungen.

»Was willst du?«, erklang plötzlich erneut seine durchdringende Stimme; dieses Mal jedoch war sie kalt wie Eis und bescherte mir eine Gänsehaut.

Scharf durchschnitt sie mit ihrem wohligen Klang meine letzten Hoffnungen, die ich, obwohl mein Gehirn es besser hätte wissen sollen, noch gehegt hatte.

Ich versuchte dem Jüngeren in die Augen zu sehen, doch sein Blick war starr nach vorn gerichtet, als würde er mich überhaupt nicht wahrnehmen.

Verzweifelt musste ich die ersten Tränen bereits herunterschlucken, die in mir aufzusteigen drohten. Wenn ich ihm scheinbar so egal war, wollte ich ihm hier definitiv keine Szene machen.

Kopfschüttelnd besann ich mich auf mein eigentliches Vorhaben. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«, erwiderte ich kühl, ein Zittern in meiner Stimme krampfhaft unterdrückend.

Jeongguk seufzte schwer, seine Augen schienen immer noch einen entfernten Punkt hinter mir zu fixieren.

»Stimmt es was du zu Yoongi damals gesagt hast?«, fragte ich unbeirrt, nachdem von ihm anscheinend keine Reaktion mehr zu erwarten war, direkter.

Genauestens studierte ich sein Gesicht und meinte ein leichtes Zucken seiner Augenlider vernommen zu haben, als ich ihm diese Worte an den Kopf warf, obgleich sein Gesicht versteinert blieb.

»Ja.«

Mein schmerzendes Herz pumpte wie wild das Blut durch meine Adern, in mir begann sich langsam aber sicher Trauer in Wut umzuwandeln.

Vielleicht hatte Yoongi tatsächlich Recht gehabt.

»Mehr nicht? Du denkst, du kannst sowas einfach mir nichts dir nichts vor meinem besten Freund sagen und bist dann fein raus? Bedeute ich dir denn wirklich gar nichts?« Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich war gerade erst dabei, mich in Rage zu reden.

Jeongguk verzog weiterhin keine Miene.

»Jetzt rede mit mir, verdammt nochmal, das bist du mir schuldig.« Meine Stimme war leise, aber dafür umso schneidender, mit jedem einzelnen Wort schien sich der Schmerz und die Wut, die ich in den letzten Wochen empfunden hatte, mehr zu manifestieren.

Jeongguks Miene hingegen war aalglatt. »Schuldig?« Er verzog den Mund zu einer grotesken Grimasse. »was sollte ich dir schuldig sein?«

Ich bebte vor Zorn, aber noch mehr schüttelte mich die Tatsache, dass der Jüngere tatsächlich Recht hatte, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte.

Er war mir nichts schuldig; er hatte alles für mich getan und ich hatte ihn lediglich ausgenutzt und ihm immer wieder Schwierigkeiten bereitet.

Trotzdem konnte er von mir nicht verlangen, dass ich das einfach so alles vergaß.

Meine Wange kullerte eine erste Träne hinab.

Wie konnte er auf einmal so kalt sein?

»Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Ich dachte, wir sind-« Meine Stimme brach, weil ich einmal unkontrolliert die Luft einziehen musste, um nicht laut aufzuschluchzen.

»Du dachtest, wir sind was?«, donnerte Jeongguk dann plötzlich und erneut wanden sich einige Blick zu uns herum. »Freunde? Liebhaber? Tja, da hast du wohl falsch gedacht«, erwiderte der Jüngere eisig. »Sas hier ist, was ich bin.« Leicht hob er das Kinn, und wandte seinen Blick, noch mehr als ohnehin schon, von mir ab.

Seine Worte rissen unmittelbar, nachdem sie seine Lippen verlassen hatten, ein tiefes Loch in meine Brust.

In mir schienen alle Dämme zu brechen, immer mehr salzige Tränen liefen mir über das mittlerweile gerötete Gesicht, ich versuchte sie verzweifelt wegzuwischen, doch immer mehr verließen unkontrolliert meine Augenwinkel.

Wenn ich mich sonst mit Jeongguk getroffen hatte, war es beinahe, als befänden wir beiden uns in einer Blase; in einer Kuppel, die uns von der Außenwelt abschirmte, in der nur wir beide existierten; unsere eigene kleine Welt, in der ich alles so viel intensiver wahrgenommen hatte, in der sich alles, was ich tat so gut und so richtig angefühlt hatte.

Doch in dem Moment, in dem Jeongguk die letzten Worte geäußert hatte, fühlte es sich an, als würde diese Blase mit einem lauten Knall zerbersten.

Mein Gehirn wurde geflutet mit unzähligen vergangenen Momenten, in denen Jeongguk mich hatte etwas fühlen lassen. Momente, in denen ich fast versucht gewesen war zu glauben, dass auch ich ihn etwas fühlen lassen hatte.

Seien es die unzähligen intensiven Berührungen, die jedes Mal durch meinen Körper zuckten und mein Herz höher schlagen ließen, seien es unsere Blicke, die wenn sie sich trafen, die Zeit still zu stehen schien, ich in seine Augen eintauchen konnte und all den Schmerz und die Trauer die sie beherbergten, aufzusaugen versuchte, weil ich es nicht ertragen konnte, dass ein einzelner Mensch so viel davon allein besaß; oder seien es selbst die verspielten Augenblicke, in denen, unsere Körper aneinandergepresst, ich seinen heißen Atem unmittelbar auf meinem Gesicht spüren konnte und mir nichts sehnlicher wünschte, als dass dieses schier perfekte Wesen vor mir nun endlich die letzten Zentimeter zwischen unseren Lippen überbrückte und diese zu einem unvorstellbaren Kuss verband und mich danach nie wieder losließ.

Sie alle wirbelten in meinen Gedanken herum, schürten die Schmerzen in meiner Brust und sorgten für weitere, dicke Tränen, die unkontrolliert meine heißen Wangen hinunterliefen.

Es war mir egal, dass mittlerweile immer mehr Menschen, die den Platz vor der Seoul Station füllten, sich aus wachsender Sorge oder lediglich purer Sensationsgeilheit zu uns umdrehten und hinter hervor gehaltener Hand zu tuscheln begannen.

Es war mir auch egal, dass ich mir fest vorgenommen hatte, nicht vor Jeongguk zu weinen und es jetzt doch, sogar sehr umfangreich, tat.

Eigentlich war mir alles egal, weil dieses riesige, schier unendlich große Loch in meiner Brust, mir regelrecht den Atem raubte und von sämtlichen meiner Gedanken Besitz ergriffen hatte.

»Jetzt sieh mich an, verdammt nochmal«, schrie ich und versuchte gleichzeitig, ihn am Handgelenk zu packen, doch er entzog sich flink meinem Griff, bevor ich ihn auch nur berühren konnte.

Für einen flüchtigen Moment trafen sich unsere Blicke, da sah ich, wie seine Maske langsam zu bröckeln begann; seine Augen fingen an, verdächtig zu glänzen, immer mehr unbedachte Zuckungen fuhren durch sein eingefrorenes Gesicht, jedoch blickte er immer noch starr geradeaus, die Lippen fest aufeinander gepresst.

»Bitte. Sieh mich an, Ggukie«, hauchte ich flehend.

Ich ertrug diese scheinbar unüberwindbare Schlucht zwischen uns einfach nicht mehr.

Bei der Erwähnung seines Spitznamens, schnellte sein Kopf plötzlich ruckartig in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich erneut.

In seinen Augen spiegelte sich der pure Schmerz.

Geschockt sog ich die Luft ein, bevor ich unbeholfen auf den Jüngeren zustolperte.

Sein Gesichtsausdruck schien ihm völlig zu entgleisen, stumm musste ich verzweifelt mitansehen, wie nun auch ihm einige Tränen aus den Augenwinkeln rannen.

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