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[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]
Erzähler PoV
Die Blätter der großen, sich dem Himmel entgegen reckenden, alten Ginkgobäume wogen sanft in der warmen Sommerbrise, die angenehm über die kreisrunde Lichtung fuhr und dem Jungen beinahe spielerisch durch die Haare strich und dabei einige lose Strähnen über seine Augen fielen ließ.
Der Junge lachte, als er sich diese gedankenlos erneut hinter das Ohr steckte, sanft hallte sein Lachen nach und hinterließ eine angenehme Stille im Herzen des Waldes.
So viele Farben. Staunend betrachtete er die sich vor ihm erstreckende Blumenpracht, seine Wangen zierte ein rötlicher Schimmer, ehe er vorsichtig den Stiel einer der Pflanzen, die er als besonders schön auserkoren hatte, mit seinen kleinen Händen umfasste und mit einem gezielten Ruck entwurzelte.
Ein zartes Knacken war zu hören, bevor der Junge die fast blutrote Blüte triumphierend in die Höhe streckte. Die Sonnenstrahlen drangen schimmernd durch den knittrigen Blütenkelch wie durch Papier, eifrig reckte er die Blume dem strahlenden Himmelskörper weiter entgegen, beinahe als wolle er sie ihm überreichen.
Der Junge liebte diese Tage; Einfach gedankenlos spielen und toben zu können inmitten dieses kleinen Paradieses.
Es war nicht schlimm, dass der Junge immer alleine war. Er war es nicht anders gewohnt.
Sowieso konnte von ›allein‹ nicht die Rede sein, immerhin waren die warmen Sommertage, die er hier verbrachte, begleitet von allerlei anderen Wesen.
Stundenlang konnte er dem zarten Zirpen der Zikaden lauschen, dem flüsternden Rascheln der Baumkronen, dem monotonen Brummen der Hummeln, welche emsig von Blüte zu Blüte flogen und unermüdlich ihre Arbeit verrichteten.
Die saftige Grünfläche beherbergte ein unerschöpfliches Arsenal an unbeschreiblichen Geräuschen und Gerüchen; bei jedem Besuch fiel dem Jungen etwas Neues auf und brachte seine Augen zum Funkeln. Ein Funkeln, welches mit der Zeit rar geworden war.
Das hatte auch seine Mutter bemerkt, weshalb sie bemüht war, die heißen Tage so oft wie nur möglich mit Jeongguk herzufahren.
Sie sah die Verletzungen an seinem zerbrechlichen Körper. Die Prellungen, die blauen Flecke, die tiefen Schnitte.
Kommentarlos registrierte sie, wie der Junge sich veränderte. Ein flüchtiger Wimpernschlag genügte, und aus dem aufgeweckten, neugierigen Jungen wurde ein kaltes, abweisendes Kind.
Aus seinem Blick wich jegliche Emotion, jedes Mal führte es bei seiner Mutter dazu, dass sich ihr Magen umdrehte, so oft sie das nun auch schon hatte mitangesehen müssen.
Aber was hätte sie auch tun können? Sie war selbst nicht mehr als er.
Sie wusste, wie es war, an seiner Stelle zu sein. Und sie wusste auch, dass es besser werden würde.
So wie bei ihr. Immerhin wurde ihr alles gewährt, was sie sich nur erträumt hatte; sie durfte einen Mann heiraten, hatte ein Haus und ein Kind.
Was spielte es für eine Rolle, dass sie ihn nicht liebte? Er behandelte sie besser, als es zuvor ein Mensch getan hatte.
Sie fühlte sich ihrem eigenen Fleisch und Blut zwar verbunden, aber ihr war bewusst, dass es nicht ihre Hände waren, in denen sein Schicksal lag.
Sie konnte ihm lediglich das Rüstzeug mit auf den Weg geben.
Jeongguk war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Aus diesem Anlass schenkte seine Mutter ihm ein kleines, schwarzes Büchlein.
Ein Tagebuch, so hatte sie es genannt. Damit der Junge genau feststellen konnte, wie viel Zeit ihm verloren ging.
Kleinschrittig zeigte sie Jeongguk das Verfahren. Äußerst diszipliniert und sorgfältig musste er vorgehen, nur so würde es ihm das Gefühl von Sicherheit geben, nach welchem er so verzweifelt strebte.
Und tatsächlich half es ihm ein wenig. Die Lücken wurden zwar nicht weniger, auch die verlorene Zeit bekam er auf diese Weise nicht zurück, aber durch das Verfahren war es ihm zumindest möglich, ungefähr nachzuvollziehen, was er in den vergangenen Tagen alles getan hatte, wo er zuletzt gewesen war und mit wem.
Es wurde zu einer Art Ritual für ihn, das kleine Büchlein stets bei sich zu führen und in kurzen Abständen immer wieder den Tag, die Uhrzeit und seine derzeitige Tätigkeiten unsauber auf die leeren Seiten zu kritzeln.
»Jeongguk, schmeiß das sofort weg«, erklang die gellende Stimme seiner Mutter und unterbrach ihn dabei, die helle, milchige Flüssigkeit, die aus dem grünen, haarigen Stängel der roten Blume floß, mit seinen Fingern weiter herauszupressen.
Erschrocken ließ er die Pflanze ins warme Gras, welches bei jedem Schritt spielerisch seine Fußsohlen kitzelte, fallen.
Schnell fischte seine Mutter ein kleines besticktes Tuch aus ihrer Tasche und entfernte den Blütensaft sorgfältig von seinen kleinen Händen.
»Diese Blume ist sehr giftig, verstehst du?«, erwiderte sie sanft und streichelte dem ängstlichen Jungen behutsam über den Haarschopf.
Immer noch verunsichert, nickte dieser leicht, bevor er sich wieder dem turbulenten Treiben auf der Wiese zuwandte und sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen schlich in just dem Moment, in dem er realisierte, dass seine Mama immer auf ihn aufpassen würde.
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