~ 15.3 ~
[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]
Ohne Umschweife umfasste auch schon eine ausgekühlte Hand seinen Oberarm und zerrte ihn in die Mitte des Raumes.
Keuchend hörte der Junge nur, wie die Tür harsch hinter ihm zugeschlagen wurde; er vernahm ein hohes, schleifendes Geräusch wie von Metall auf Metall.
Verzweifelt versuchte er, seinen beschleunigten Puls sowie seine gepresste Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, jedoch trat die Furcht, welche ihm sein geraumer Zeit bereits dicht auf den Fersen gewesen war, immer mehr zu tage.
Unsanft wurde er mit dem Rücken auf eine glatte kalte Oberfläche gestoßen.
Was war das bloß für ein Ort?
Auch in diesem Raum befanden sich unzählige Fackeln, unregelmäßig warfen sie flackernde Schatten an die unebenen Backsteinwände.
Als einzige weitere Lichtquelle schienen Kerzen verschiedenster Größen zu dienen; überall standen sie verteilt, mal allein, mal in einem metallenen Halter, große, kleine, schmale und breite Wachskegel füllten den beengten Raum mit ihrem stickigen Rauch und sorgten für eine noch verschleiertere Sicht als ohnehin schon.
Eine der verhüllten Gestalten trat erhobenen Hauptes auf den verängstigten Jungen zu, den Blick kalt und durchbohrend auf ihn gerichtet, und überreichte ihm wortlos eine der dunklen Roben.
Bevor Jeongguk überlegen konnte, was das zu bedeuten hatte, setzte sich sein Körper bereits in Bewegung und entledigte sich seiner Kleidung.
Fröstelnd zog er den schweren Stoff über seinen dünnen, schmalen Körper; die Kälte, die durch seine nackten Füße auf dem eiskalten Steinboden in seinen Körper fuhr, ließ ihn unbewusst erzittern.
Unsicher stand der Junge nun da, bebend vor Angst. Abermals öffnete sich die Tür und es schwärmten die ersten Menschen ein, allesamt in Roben, die Kapuzen tief in ihre Gesichter gezogen.
Ob Jeongguks Eltern sich wohl unter ihnen befanden?
Ohne Vorwarnung fuhr eine fremde, knochige Hand plötzlich in seine kurzen, braunen Haare und riss seinen kleinen Kopf unsanft zurück, bevor er spürte, wie ein dickflüssiger Saft quälend langsam seine ausgetrocknete Kehle runterlief.
Jeongguk musste ein Würgen unterdrücken. Es schmeckte widerlich, doch er verbarg seinen Ekel.
Es würde andernfalls nur schlimmer werden.
Mit einem leisen Knacken seiner oberen Halswirbel richtete der Junge sich wieder auf, sein Blick schweifte suchend über die uniforme Masse, die unablässig in den winzigen Raum strömte.
Irgendwie müssten seine Eltern sich doch bemerkbar machen.
Wie auf ein stummes Zeichen, welches dem Jungen entgangen war, versammelten sich die Gestalten in einem großen Halbkreis um den steinernen Altar, ein goldener Kelch mit einer Mischung aus Wein, Blut und Drogen wurde herumgereicht, die Stimmung wurde immer ausgelassener.
Warum sind hier keine anderen Kinder?, fragte sich Jeongguk still.
Immer bin ich allein.
Er betrachtete die Menschen um sich herum, die Stimme des Mannes, welcher ihm gerade den Mantel überreicht hatte, nahm er nur noch im Hintergrund wahr.
Die Meisten hatten ihre Köpfe gesenkt und ihre Gesichter durch die schwere Kapuze verborgen. Eigentlich sah Jeongguk gar keine Gesichter.
Nur Körper.
Er war der einzige.
Da wurde auf einmal der Körper einer scheinbar leblosen Frau hereingetragen und achtlos auf dem kalten Altar platziert.
Sie trug lediglich ein blutbeschmiertes, weißes Leinenhemd, ihr Körper war übersät mit unzähligen Wunden und Narben, aus denen weiterhin unaufhörlich Blut floss.
Jeongguk erschrak bei dem Anblick; mit so direkter und nackter Brutalität war er noch nicht konfrontiert worden.
Sein Körper spannte sich an, sämtliche Sinne seines des Jungen schrien und machten sich bemerkbar, in ihm tobte es.
Doch im Bruchteil einer Sekunde war es auch schon wieder vorbei. Das letzte Aufbäumen seines Willens wurde jedoch umgehend durch die schwere, kalte Hand des Mannes auf seiner Schulter im Keim erstickt.
So viele Emotionen schickte diese Berührung durch seinen zierlichen Körper, so viele neue Erinnerungen.
Sein Gehirn drohte zu kollabieren. Sein Körper hingegen war starr und bereit, Befehle entgegenzunehmen.
Allmählich ebbte das Gemurmel, welches den Raum erfüllte, ab, bis sich die Aufmerksamkeit gänzlich auf den Altar und somit auch auf Jeongguk richtete.
Der Mann hinter ihm, welcher die schwarze Messe als Priester leiten würde, wusste, dass der Zeitpunkt bald gekommen war.
Er hatte bereits bei der ersten Begegnung mit dem Jungen gewusst, dass er etwas Besonderes war.
Dass er multipel war.
Ihm waren in seiner Branche schon einige solcher Kinder begegnet.
Sie waren das brauchbares Material, dachte er stumm.
Es würde leicht werden.
Durch das Inferno der aufgepeitschten Menge erhob er nun seine Stimme und begann mit der Zeremonie, welche jedoch nur äußerlich an Jeongguk vorbeizog.
Sein Inneres hatte sich bereits zurückgezogen, sein kleines Herz stand kurz vorm Zerbersten.
Stumm betrachtete er den Ritus, archaische Gesänge erfüllten das Gemäuer und hallten von den unebenen Wänden wieder.
Die Flammen der Fackeln zuckten unruhig in der Spiegelung des geschärften Messers des Priesters, als er seinem Tun nachging.
Doch Jeongguk war schon so gut wie verschwunden.
Dann war es endlich soweit. Die Frau vor ihm wurde harsch an den Schultern gefasst und ihr wurden einige Schläge verpasst, bis sie verwirrt ihre verklebten Augen zu öffnen versuchte.
Ihre Pupillen waren riesig und schwarz, fast gänzlich nahmen sie ihre Iris ein.
Sie sollte erleben, wie sie starb.
Ausdruckslos beäugte der Junge die Szenerie. Sein Körper stand durch die Stresssituation und die Drogen kurz vor dem totalen Kollaps, doch das nahm sein Geist bereits nicht mehr wahr.
Bedacht trat er einige Schritte zurück, jedoch wurde er bereits vom Priester gepackt und unmittelbar vor dem Altar und dem sichtlich desillusionierten Mädchen positioniert.
Sein Herz begann zu flattern, bunte Punkte flackerten am Rande seines Sichtfelds.
Ohne weitere Worte zu verlieren, überreichte der Mann ihm fast andächtig das reichlich verzierte Messer.
Schwer lag es in seiner kleinen Hand, der mit Edelsteinen besetzte Griff schimmerte prunkvoll im Schein der flackernden Kerzen.
Erste Rufe erhoben sich aus der erregten Masse, Jeongguk hörte ihre Worte, doch er verstand sie nicht.
Eigentlich verstand er gerade gar nichts.
Wo waren nur seine Eltern?
Er schloss die Augen und sah vor seinem inneren Auge seine Mutter, wie sie liebevoll auf ihn hinab lächelte und ihm zaghaft den Kopf tätschelte.
Sein Herz wurde schwer.
Die Menge wurde immer unruhiger, vereinzelte Schreie richteten sich nun auch direkt an Jeongguk, ehe die dunkle Stimme des Priesters dem Jungen eine Gänsehaut bescherte, als dieser sich vorbeugte und ihm leise, aber bestimmt ins Ohr flüsterte: »Du weißt, was du zu tun hast.«
Seine Stimme ließ keine Widerworte zu.
Wie ein Blitz durchzuckte den Jungen die Erkenntnis.
Er sah, wo er stand.
Er nahm einen eisigen Griff am Handgelenk seiner linken Hand, welches immer noch die Waffe fest umklammert hielt, wahr, welche nun samt dieser in die Höhe gereckt wurde.
Die Flammen der Kerzen reflektierten zitternd an der scharfen Klinge, zuckend waren sie in der Spiegelung der weit aufgerissenen Augen des Jungens zu sehen.
Das kann ich nicht, schoss es ihm durch seinen benebelten Kopf.
Seine Augenlider wurden immer schwerer, das Atmen gestaltete sich in dem zunehmend stickigeren Raum als echte Herausforderung.
Der Junge begann, am ganzen Körper zu beben.
Sein Bewusstsein hatte bisher alles ertragen können.
Sorgfältig hatte es die Erinnerungen immer wieder akribisch voneinander getrennt, separat in unterschiedlichen Windungen seines jungen Gehirns abgespeichert, doch das konnte er nicht.
Kraftlos versuchte er, den Griff des fremden Mannes zu lösen.
»Nein«, krächzte er, seine Stimme war nicht mehr als ein brüchiges Flüstern. »Alles, nur nicht das.«
Sein Hals fühlte sich mittlerweile wie mit Schmirgelpapier ausgekleidet. Der Rauch brannte in seinen Augen und raubte ihm gänzlich die Sicht.
»Du wirst es tun.«
Erneut flackerte die Panik in den Gliedmaßen Jeongguks auf; er versuchte, bei Sinnen zu bleiben, doch die Entscheidung wurde ihm entrissen.
Der Körper des Jungen wurde mit einem Mal kerzengerade, sein Gesicht versteinerte abermals zu einer ausdruckslosen Maske.
Keines seiner Glieder ließ noch einen Widerspruch zu. Jeongguk war verschwunden.
Auch dem Priester fiel der Wechsel, stumm in sich hineinlachend, auf.
Ohne zu Zögern löste er den Griff an seinem Handgelenk.
Der Junge wandte sich zur aufgepeitschten Masse.
Er hörte sie jubeln.
Er spürte den Strudel, welcher unablässig in ihm tobte.
Er ließ sich treiben. Treiben mit der Masse.
Er spürte keine Angst mehr.
Wovor auch?
Er hatte keine anderen Erinnerungen als an das hier und jetzt.
Er wusste lediglich, was man von ihm verlangte.
Mechanisch riss er die zierlichen Arme in die Höhe, den Blick starr auf den Altar gerichtet, ehe die im Kerzenschein blitzende Klinge mit kalter Präzision in das weiche Fleisch vor ihm drang.
Blut spritzte.
Das Mädchen kreischte kurz schrill auf, bevor ihr Körper erneut erschlaffte und regungslos auf dem kalten Stein zum Liegen kam.
Einen Moment lang war vollkommene Stille eingekehrt; niemand wagte auch nur zu atmen.
Ohne den winzigsten Anflug von Zögern in seinen Bewegungen, ließ der Junge das mittlerweile rotgefärbte Metall erneut herabsausen, ein gurgelndes Keuchen erfüllte den Raum, als er die Kehle des Mädchens mit beinahe chirurgischer Akribie durchtrennte.
Das scharfe Messer durchschnitt die zarte Haut, umliegende Fettschichten sowie Sehnen- und Muskelgewebe als wären sie Butter.
Ein eisiger Windzug löschte einige der umliegenden Kerzen, Wachs tropfte unregelmäßig auf den dreckigen Boden zu ihren Füßen und gemeinsam mit der Umgebung verdunkelte sich auch Jeongguks Herz unwiderruflich.
Wenn der Junge nur gewusst hätte, dass seine Eltern die ganze Zeremonie anwesend gewesen waren.
Mit stolzgeschwellter Brust hatte sein Vater das Tun seines Sohnes begutachtet, berauscht durch die vielen bewusstseinserweiternden Mittel.
Er war Stolz auf das, was er geschaffen hatte.
Stolz auf sein Werk.
Auch seine Mutter hatte ihren Sohn beobachtet.
Sie hatte gewusst, was auf sie zukam, an diesem Tag. An diesem Tag, an dem sie die ausgetretenen Stufen tief in die Eingeweide dieses Labyrinths hinabgestiegen war.
Und trotzdem war sie darauf nicht vorbereitet gewesen.
Es war, als würde etwas tief in ihrem Inneren reißen in genau dem Moment, in dem das Messer in den Kinderhänden ihres einzigen Sohnes unabdingbar sein Ziel, vor Angst erstarrt auf dem Altar gekrümmt, ansteuerte.
Es war, als ob ihre Gefühle ebenfalls erstarrten.
Es war dieses Gefühl, welches sie warnte, ihren Sohn weiter zu lieben.
Ein beunruhigendes Gefühl. Ein Gefühl, über das sie nicht nachdachte.
Dem sie einfach folgte.
Hilflos hatte sie zugesehen, wie zwischen ihrem eigen Fleisch und Blut, ihrem Sohn, und den anderen Menschen eine unüberwindbare Kluft gezogen wurde.
Ein Wissen, welches nie wieder verschwinden würde.
Eine tiefe Einsamkeit.
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Das Licht der untergehenden Sonne strömte unablässig durch die imposante, gläserne Front ihres Anwesens und tauchte alles in ein angenehmes Licht.
Als der erschöpfte Junge vorsichtig die immer noch schweren Lider aufschlug, wandte seine Mutter sich abrupt von ihm ab.
Routiniert suchte Jeongguk nach neuen Verletzungen, als er jedoch keine fand, begann er übers ganze Gesicht zu strahlen.
Sein Vater, welcher aufrecht neben ihm auf dem hellen Polster ihrer großen Couch Platz genommen hatte, ergriff das Wort: »Das hast du heute wirklich toll gemacht, mein Sohn!« Der Stolz in seiner Stimme war kaum zu überhören, auch dem Jungen entging sie nicht.
Sein Papa war stolz auf ihn.
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihn.
Zwar hatte er auf ein neues den schönen Tag verpasst, aber das war es ihm vollkommen wert gewesen, wenn sein Vater ihn dadurch lobte.
Mit seinen dichten Wimpern klimperte er nun auch seine Mutter an, welche ihren Blick starr aus dem Fenster gerichtet hatte und scheinbar einige Singvögel bei ihrem wilden Treiben an dem großzügigen Trinkbecken ihrer einladenden Terrasse zu betrachten schien.
Er liebte es, wenn sie ihm eines ihrer herzlichen Lächeln schenkte.
Zart suchten seine kleinen Finger ihre, kaum wahrnehmbar, zitternde Hand.
Augenblicklich versteifte sie bei der direkten Berührung ihres Sohnes; rasch entzog sie sich ihm, ehe sie sich gequält langsam zu ihrem Sohn wandte und ihn anlächelte.
Doch was sie ihm zuwarf, war kein herzliches Lächeln, eher glich es einer grotesk verzerrten Fratze.
Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
Nie wieder würde es das tun.
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