~ 15.2 ~
[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits weit überschritten, als die drei, geeint als Familie, den dichten Wald betraten.
Aufgeregt ging Jeongguk zwischen den beiden Erwachsenen, bei jedem Schritt hüpfte er freudig etwas auf.
Das erste Mal war es, dass seine Mama mitkommen durfte, wenn er und sein Papa zu einem ihrer Wochenendausflüge aufbrachen.
Heute würde etwas ganz Besonderes passieren, hatte man ihm gesagt. Deshalb dürfe die Mutter auch anwesend sein.
Zuckend warf der gelbe Himmelskörper seine letzten Strahlen auf den unter ihren Schritten knackenden Waldboden, spärlich drangen sie durch die dichten, dunkelgrünen Baumkronen und hinterließen unregelmäßige Schattenmuster, die beinahe aussahen, als würden sie tanzen.
Auch Jeongguk bewegte seinen Kopf passend zu der imaginären Musik, die dem Ruf der Natur zu folgen schien.
Vielleicht würden sie heute alle zusammen zu ihrer Wiese gehen. Seine Mama würde ihm wieder liebevoll durch sein Haar fahren, Papa würde ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, wenn er sah, wie schnell er mittlerweile laufen konnte.
Auf seinem pausbäckigen Gesicht breitete sich ein fröhliches Lächeln aus.
Vielleicht würde jetzt alles besser werden.
Je näher sie dem angesteuerten Ziel kamen, desto stiller wurde es jedoch in den Tiefen des Waldes.
Die letzten, vereinzelten Vogelrufe erstarben, der weiche, mit Ästen und Sträuchern übersäte Waldboden wich einem kahlen, schmalen Trampelpfad, selbst die Sonne schien durch ihre Abwesenheit der immer angespannteren Stimmung etwas beitragen zu wollen; immer dunkler wurde es um Jeongguk herum, bis schließlich aus dem Nichts einzelne Erinnerungen vor seinem inneren Auge aufflackerten, welche sein Herz automatisch dazu veranlassten, schneller zu schlagen.
Die Eltern, welchen die zunehmende Nervosität des Jungen nicht entging, setzten ihren Weg jedoch gnadenlos fort und zogen Jeongguk beinahe grob hinter sich her.
Er fühlte sich, als sei er in einem fenster- und türlosen Raum gefangen, dessen Wände sich immer schneller auf ihn zubewegen zu schienen; eine unerklärliche Panik packte das Kind, doch umso tapferer setzte der Junge weiter einen Fuß vor den anderen.
Seit Wochen hatte er an seinem Körper schon keine neuen Verletzungen mehr ausfindig machen können, das wollte er sich jetzt nicht verbauen, indem er sich anstellte wie eine kleine Memme.
Immerhin war er ein Mann und Männer waren stark.
Das sagte zumindest sein Papa immer zu ihm.
Als Jeongguk die dunkelblaue Lackierung des alten Waggons ins Auge sprang, spürte er erneut, wie vergrabene Erinnerungen verzweifelt ihren Weg ans Tageslicht suchten.
Dunkle Gewänder, kalte Backsteinwände, verzerrte Schattengestalten. Kein Ausweg.
Die Hände des Jungen wurden schwitzig, weshalb er die seiner beiden Elternteile noch fester umklammerte.
Er wollte dieses Mal seinen besonderen Moment um jeden Preis miterleben.
Trotzdem beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. War er hier schonmal gewesen?
Grübelnd zerbrach er sich den Kopf darüber, während der feuchte, kalte Schlund, der sich vor den dreien im Inneren des Abteils, auftat, schluckte.
Jeden seiner Schritte wählte der Junge mit Bedacht, die Stufen waren ausgetreten und glitschig. Immer weiter setzte die Familie ihren Weg in die kalten Eingeweide des unterirdischen Labyrinths fort.
Jeongguk fröstelte. Aufgrund der hohen Außentemperaturen trug er lediglich ein gestreiftes Shirt und eine kurze, braune Hose.
Zu gern hätte er seine Mutter nach etwas Wärmerem, wie zum Beispiel einer Jacke gefragt, aber etwas tief in seinem Inneren hinderte ihn daran.
Seine Mutter hatte ihren Blick starr nach vorn gerichtet, ihre Augen glänzten verdächtig, ihre Lippen waren stoisch aufeinander gepresst.
Ob sie wohl genauso aufgeregt war wie Jeongguk, dass sie das erste Mal dabei sein durfte?
Die Gefühlswelt des Jungen spielte verrückt, obwohl ihn weiterhin nichts Augenscheinliches wirklich ängstigte, zeigte sein Körper weitere Symptome eben dieses körperlosen Begleiters.
Warum konnte er sich nicht einfach mal zusammennehmen, wie sein Papa immer sagte?
Er konnte sich glücklich schätzen, dass sie so eine Geduld mit ihm bewiesen.
Die steil abfallende Steintreppe mündete in einem beengten, nur spärlich ausgeleuchteten Raum.
Ob sie hier wohl auf Schatzsuche gehen würden? Die Fackeln an den Wänden deuteten zumindest darauf hin, fand er.
Stumm betrachtete Jeongguk die brennenden Holzscheide in ihren gusseisernen Haltern, als sich der Raum mit weiteren Menschen füllte.
Allesamt trugen lange schwarze Gewänder mit einer seltsam lila Stickerei auf dem Rücken. Der Junge verzog leicht sein Gesicht.
Lila war eine sehr unmännliche Farbe. Aus irgendeinem Grund begannen seine Beine plötzlich zu zittern, schnell trat er einige Male aufgeregt auf der Stelle, damit es niemand mitbekam.
Immer mehr Gestalten fluteten den kleinen Raum, es herrschte leises Stimmengewirr, welches aber nicht verdecken konnte, dass Jeongguk immer unruhiger wurde. Zu gerne hätte er seine Eltern gefragt, was gleich geschehen sollte, aber sein Hals fühlte sich an wie zugeschnürt.
Plötzlich löste sich eine der vermummten Gestalten von der Masse und schritt auf den Jungen zu, welcher unwillkürlich seinen Kopf einzog.
»Komm.« Seine tiefe, dunkle Stimme fuhr ihm bis ins Mark und ließ ihn erschaudern.
Wie ferngesteuert bewegten sich seine Füße, widerwillig ließ er die Hände seiner Eltern, welche ihm bis dahin den letzten Funken Sicherheit gespendet hatten, los und folgte der Person.
Ein widerlicher Gestank stieg ihm in die Nase, als er mutterseelenallein der komischen Gestalt folgte und eine weitere schmale Steintreppe hinabstieg.
Es war beinahe, als würde ihm dieser Geruch sämtliche Sinne vernebeln, unkontrolliert begannen seine Augen zu tränen, er musste den Würgereflex unterdrücken, als sich der Gestank auf seine Zunge legte wie eine zweite Haut.
Das Gesicht des Jungen war mittlerweile zu einer emotionslosen, grotesken Fratze verzogen, diese spiegelte jedoch in keiner Weise das Gefühlschaos, welches in seinem Inneren tobte, wieder.
Immer schneller tauchten neue, unbekannte Bilder in seinem Gedächtnis auf, sie waren ihm gleichermaßen bekannt wie fremd.
Sein Herz beschleunigte abermals seine Tätigkeit, er hörte das Blut, welches nun beschleunigt durch seine Adern gepumpt wurde, leise in den Ohren rauschen, immer wieder musste er sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen wischen, um die Gestalt, die ihn leitete, nicht aus dem Blick zu verlieren.
Warum war er hier? Er musste ein Schluchzen unterdrücken.
Er wollte wieder zu seinen Eltern.
Abrupt blieb der Kuttenträger ohne Vorwarnung vor ihm stehen und entriegelte eine schwere, dunkle Metalltür. Als er daraufhin den Raum betrat, wirkte es auf Jeongguk, als würde dieser schweben.
Durch die erschwerten Sichtverhältnisse und das lange dunkle Gewand konnte er seine Füße nicht sehen.
Fasziniert starrte er auf den Boden und dachte darüber nach, ob er wohl auch fliegen könnte.
Ein lauter Knall, unmittelbar begleitet von einem brennenden Schmerz an seiner Wange, hallte durch das feuchte Gemäuer und ließ den Jungen aufschrecken.
Augenblicklich richtete er seine Aufmerksamkeit wieder der Person, die ihm soeben eine feste Backpfeife gegeben hatte, zu, welche ihn nur eines abschätzigen Blickes bedachte.
Jeongguk verstand.
Er verzog keine weitere Miene.
Schnell wischte er sich die vereinzelte Träne, welche seine, noch vor Schmerz pulsierende, Wange hinablief, weg und durchschritt nun endlich die Türschwelle.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top