~ 10.2 ~
Gierig saugte ich die kalte Herbstluft ein.
Meine Gedanken rasten, meine Füße bewegten sich wie von selbst zu unserem verabredeten Treffpunkt.
Ungeduldig lief ich die Straße auf und ab. Würde mich Jeongguk gleich wirklich mit zu seinem Haus nehmen? Würde ich vielleicht sogar seinen Eltern gegeben?
Schnell wischte ich mir mit den Handrücken mehrfach über meine Augen und Wangen.
Ich musste ja nicht unbedingt noch verheult aussehen, sollte dieser Fall wirklich eintreffen.
Zugegebenermaßen wartete ich schon länger darauf, seine Eltern mal zu Gesicht zu bekommen, immerhin wollte ich die Menschen kennenlernen, die so eine tolle Person großgezogen hatten.
Ob er sich für mich schämte? Warum hatte ich sie wohl noch nicht kennengelernt, warum weigerte er sich generell so strikt dagegen, mich nochmal mit zu ihm zu nehmen?
Fragen, die wohl fürs erste unbeantwortet blieben, denn in dem Moment sah ich Jeongguk um die Ecke biegen und mit schnellen Schritten näher kommen.
Mein Herz machte einen Sprung, als ich den Jüngeren mit wehendem Mantel auf mich zu kommen sah. War er etwa in der kurzen Zeit den ganzen Weg zu Fuß hergerannt?
Atemlos blieb er vor mir stehen, wir sahen uns einmal tief in die Augen, bevor er mich in eine tiefe Umarmung zog.
Sein unvergleichlicher Duft umhüllte mich, ich konnte ein kleines Seufzen nicht unterdrücken.
»Egal, was passiert ist, das vergisst du ganz schnell. Jetzt bin ich da«, flüsterte er mir ins Ohr und ich musste leise kichern.
Erneut machte sich mein schlechtes Gewissen bemerkbar. Immer schien er nur mich retten zu müssen, er hingegen versuchte alles mit sich selbst auszumachen.
»Komm, ich will dir etwas zeigen«, murmelte er weiter, sein heißer Atem kitzelte an meiner Wange und ich bekam eine Gänsehaut.
Alleine durch seine Anwesenheit fühlte ich mich schon deutlich besser.
Stumm nickte ich und ließ mich an der Hand hinter dem Jüngeren herziehen.
Ich war dankbar dafür, dass er mir gerade keine Fragen stellte, was genau vorgefallen war. So könnte ich entscheiden, wann ich bereit war, es ihm zu erzählen.
Bald erreichten wir den Stadtrand, an dem der Wald, in dem sich Jeongguks Haus befand, begann. Wollte er mich tatsächlich mit zu sich nehmen?
Scheinbar bemerkte er meinen Blick und erwiderte nur: »Nein, diesmal zeige ich dir was anderes.«
Geheimnisvoll grinsend ging er weiter hinein in das Gehölz. Weiter und Weiter führte er mich in den Wald hinein, der ohne die schöne Blätterpracht an den Bäumen sehr trist und kalt wirkte. In der Ferne ertönten einige Krähenrufe.
Also aufheiternd war diese Szenerie nicht gerade.
»Warts nur ab«, rief Jeongguk enthusiastisch. Ich konnte mich nicht daran erinnern, in mal so begeistert von einer Sache gesehen zu haben.
Das musste wirklich ein besonders toller Ort sein, den er mir nun zeigen wollte.
Der Boden unter unseren Füßen wurde steiler und steiler und alsbald fand ich mich einige Meter hinter Jeongguk schnaufend völlig außer Atem wieder. »Jeongguk!«, jammerte ich, welcher seinen Schritt daraufhin verlangsamte und rief: »Komm, wir sind gleich da.«
Die kahlen Bäume begannen mehr und mehr freier Fläche zu weichen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wohin Jeongguk mich gerade brachte.
Ich stemmte meine Hände in die Hüften, um kurz durchzuatmen, da kam Jeongguk auch schon angelaufen. »Los, es ist nicht mehr weit«, zerrte er beinahe wie ein kleines Kind an meinem Ärmel.
Stöhnend rollte ich mit den Augen und ließ mich willenlos mitschleifen. Abrupt hielt er plötzlich an. »Okay, jetzt musst du die Augen zu machen.« Jeongguk grinste. Das war nicht sein Ernst.
»Man, Ggukie, muss das sein?«, ich stöhnte erneut auf, immer noch nach Luft ringend.
»Ja, muss es«, antwortete er schlicht.
Widerwillig schloss ich die Augen und ließ mich von Jeongguk die letzten Meter den Berg hinauf führen. Plötzlich spürte ich, wie sich der Untergrund unter meinen Füßen veränderte.
Der harte Waldboden, welcher mit heruntergefallenen Ästen, Blättern und herausragenden Wurzeln übersät war wich lockerer Erde. Ich hörte das Gras unter meinen Schuhen leise quietschen.
Mehr und mehr flachte das Gelände wieder ab, bis Jeongguk aus dem Nichts meine Hüfte umfasste, welches mein Herz wie so oft schon zum Ausrasten brachte, und mir ins Ohr flüsterte: »Okay, du kannst jetzt die Augen aufmachen.«
Vorsichtig lugte ich hinter meinen Lidern hervor und musste einige Male blinzeln, bevor sich meine Augen wieder an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Doch was ich dann sah, verschlug mir regelrecht die Sprache.
Uns bot sich ein umfassender Blick auf die gesamte Stadt, die still und verlassen zu unseren Füßen lag.
Ich trat etwas weiter heran, um alles genauer betrachten zu können. Ein steiler Abhang einige Meter vor uns führte gute 50 bis 60 Meter tief hinab, an dessen Fuß bereits die ersten kleinen Häuser zu erkennen waren.
Die Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, tief hing sie am Himmel und färbte den Horizont über dem Dorf in einem fast unnatürlich grellen Orange.
Die Wolken wirkten wie zusammengestückelt von Gemälden unterschiedlicher Künstler abgepaust, einige buschig und flauschig, andere scharfkantig und spitz; sie alle ergänzten und verwuschen sich zusammen mit den kräftigen Farben der untergehenden Sonne zu einem unvergleichlich atemberaubendem Anblick.
Ich sah hinunter auf die Dächer der Stadt, einige flach und eben, einige ragten bis hoch in den Himmel, hinter diesen zeichnete die Sonne blutrote Schattenrisse ab; ich sah zahlreiche Spitzgiebel und einfache Satteldächer, die mit steilem Neigungswinkel reflektierten die letzten, flüchtigen Sonnenstrahlen, einige ähnelten in ihrem strahlenden Rot flüssigem Magma.
Sie glänzten und funkelten, als wären sie einzig und allein für diese Stunden des Tages geschaffen. Um der Stadt Anmut und Prunkhaftigkeit zu verleihen.
Ich ließ meinen Blick weiter über die vielen Mansarddächer gleiten, an unzähligen Balkonen hingen Blumenkübel- und kästen unterschiedlichster Form und Farbe, die zusätzlich zu dem pittoresken Charme dieser Szenerie beitrugen.
Ich hätte niemals gedacht, dass dieses Dorf aus einem anderen Blickwinkel betrachtet so schön ein konnte.
Aus vielen Schornsteinen kringelte sich heller Rauch, unregelmäßig vermischte sich dieser mit den Farben des Horizonts und ließ ihn aussehen, als hätte man einige Eimer Farbe umgestoßen, die sich nun in verspielt die strahlenden Akzentuierungen des Hintergrunds mischten.
»Erde an Tae?« Ich blinzelte mehrfach, als Jeongguk mir amüsiert mit einer Hand vor der Nase herumwedelte. »Es gefällt dir scheinbar noch mehr, als ich angenommen hatte. Du stehst hier seit geschlagenen fünf Minuten und starrst dämlich grinsend durch die Gegend.«, stellte er lachend fest, wobei ihm selbst ein dämliches Grinsen auf die Lippen schlich.
Verlegen kratzte ich mich am Kopf. Hätte Jeongguk nichts gesagt, hätte ich wahrscheinlich noch weitere zehn Minuten hier gestanden und über die Schönheit des Augenblicks philosophiert.
Genau deshalb liebte ich die Fotographie so sehr.
Automatisch zuckte meine Hand in Richtung Kamera und ich schaute erneut etwas schüchtern zu Jeongguk hoch »Stört es dich, wenn-« Ich deutete leicht auf meine Kamera, welche um meinen Hals baumelte.
»Nein nein, mach ruhig«, lächelte dieser und zog sich einige Meter zurück.
Schlagartig änderte sich meine gesamte Haltung. Die Kamera wieder in meiner Hand liegen zu spüren, gab mir ein völlig anderes Selbstvertrauen.
Ich probierte einige verschiedene Winkel aus und veränderte mehrfach meinen Standort, bis ich plötzlich etwas nasses an meinem Hosenbein spürte
»Ihh«, schrie ich entsetzt und nicht sehr männlich auf, welches Jeongguk aus einiger Entfernung nur mit seinem typisch kehligen Lachen quittierte.
Ich blickte hinab und sah, dass ich in einem kleinen Teich stand. Geschockt weiteten sich meine Augen. Perplex trat ich einige Schritte zurück und richtete mein Augenmerk vollkommen auf den Anblick vor mir.
Nur wenige Meter neben mir erstreckte sich auf diesem Berg ein gar nicht mal so kleiner, unregelmäßiger Teich, neben welchem eine ungelogen riesige Trauerweide ihre dicken Äste gen Himmel streckte.
Wie hatte mir die gerade nicht aufgefallen sein können?
Ihre ausladenden, rutenförmigen Äste wölbten sich und wogen seicht im Wind; überhängend streiften sie sanft immer wieder die Wasseroberfläche.
Ihr Laub hatte die Weide bereits fast vollständig verloren, einige der kurz gestielten Blätter schwammen ebenfalls im Teich, sanft trieben sie dahin.
Ich entdeckte einen dicken, morschen, mit Moos überwucherten Baumstumpf nur einige Meter entfernt unmittelbar vor dem Teichufer und unter der großen Weide.
Meinen irritierten Blick vermutlich bemerkt habend, näherte sich Jeongguk erneut.»Das war eigentlich das, was ich dir zeigen wollte. Aber da die Aussicht dich schon bereits so gefesselt hat, dachte ich, warte ich mal ab, bis du es merkst.«
Verspielt tippte er mir einmal kurz auf die Nase, welches einen rosa Schimmer auf meine Wangen trieb.
Er fasste mich an der Hand und zog mich zu dem alten Baumstamm, auf dem wir uns schließlich niederließen. Aller Erwartungen zum Trotz war das Moos nicht feucht und kalt, sondern angenehm aufgewärmt von der Sonne.
Jeongguk lächelte mich an. So frei und glücklich wie in den letzten Stunden hatte ich ihn selten gesehen.
Dieser Gedanke trieb auch mir ein Lächeln aufs Gesicht.
»Dies ist mein geheimer Garten, wenn du so willst. Hier komme ich immer hin, wenn ...mir alles zu viel wird und ich die Welt um mich herum nicht mehr ertrage. Niemand weiß von diesem Ort: naja außer dir jetzt.« Schüchtern blickte er mich aus seinen dichten Wimpern heraus an.
»Ich, also ich- ich fühle mich geehrt, dass du diesen wunderbaren Ort mit mir teilen wolltest.« Und ich meinte meine Worte wirklich genauso wie ich sie ausgesprochen hatte. Dass Jeongguk mir offenbar so stark vertraute, bedeutete mir eine ganze Menge.
»Ich flüchte auch immer, wenn es geht, in die Natur, wenn ich nichts um mich herum mehr ertrage. Meist suche ich mir dann ein schönes Motiv zum Fotografieren und naja- du hast ja gerade gesehen, was ich dann mache.« Verlegen strich ich mir einige Haarsträhnen zurück.
»Ich bin sehr froh, diesen Ort entdeckt zu haben. Zuvor bin ich meist zu dem Ort, gegangen, an dem wir uns auch das erste Mal getroffen haben, aber an den«, er fing an, unbewusst an seinem Handgelenk zu kratzen, »habe ich nicht unbedingt die besten Erinnerungen.« Den letzten Teil des Satzes flüsterte er fast.
Schnell legte ich meine Hände behutsam auf seine, um ihn vom weiteren Aufpuhlen seiner Narben abzuhalten.
Vorsichtig strich ich mit der Fingerkuppe über die bereits verblassten Wunden und spürte, wie ein kleiner Schauer durch den Körper des Jüngeren fuhr.
Langsam umfasste ich seine Hände mit den meinigen, die im Vergleich ziemlich winzig wirkten.
Zu gern hätte ich ihn gefragt, welche schlimmen Erinnerungen er mit dem anderen Ort verband, jedoch wollte ich die entspannte Atmosphäre nicht zerstören; außerdem mochte ich ihn weiterhin zu nichts drängen. Ich wollte nur so viel wissen, als dass ich ihm im Notfall zur Seite stehen konnte.
»Was hat dich denn heute so aufgewühlt?«, fragte Jeongguk plötzlich in die Stille hinein.
Ich seufzte. Ich hatte mir gewünscht, dass er mir diese Frage nicht stellt, ich wollte ihm eigentlich nicht erzählen, dass meine Mutter fand, er sei kein guter Umgang für mich.
Am Ende zog er sich deshalb wieder weiter von mir zurück und das wollte ich wirklich in keinem Fall.
Auf der anderen Seite wollte ich ihn genauso wenig anlügen.
Stumm betrachtete ich einige Zeit die, sich im Wind wiegenden, knorrigen Äste der Weide und einige Wasserläufer, die anmutig über die Oberfläche des Teichs tanzten.
Dieser Ort war wirklich idyllisch.
»Ich hatte Streit mit meiner Mutter«, erwiderte ich schließlich knapp. »Sie meint, wir verbringen zu viel Zeit miteinander und sie hat da so die ein oder andere Behauptung in den Raum gestellt, auf die ich dann auch noch auffällig empfindlich reagiert habe.« Verlegen starrte ich ins Gras und spürte, wie ich rot anlief.
»Und die wäre?«, hakte Jeongguk unbeirrt nach. Als könnte er sich das nicht denken, schoss es mir durch den Kopf, doch ich sah, dass er mich tatsächlich mit ernsthaftem Interesse musterte.
»Sie hat mir unterstellt, schwul zu sein«, brachte ich über die Lippen, bevor ich erneut schwieg. Jeongguk sagte ebenfalls nichts.
Nach einer Weile blickte ich erneut auf und sah den Jüngeren an. »Willst du dazu nichts sagen?«, murmelte ich beschämt.
»Was soll ich dazu denn sagen?«, lachte er leise. »Gerade in meiner Position, die ich denke ich damals in dem Café schon deutlich zum Ausdruck gebracht habe, bin ich wohl der Letzte, der dich deshalb verurteilt.« Sein Lachen war rau und kehlig.
»Naja.« Erneut fuhr ich mir unwirsch durch die Haare und rümpfte die Nase. »Ich weiß es eben nicht, ob ich es bin«, gestand ich tonlos.
»Aber daran ist doch nichts verwerflich. Lass dir Zeit, tob dich aus und sieh, was die Zeit dir bringt.« Sanft strich Jeongguk mir über den Kopf.
Wenn er doch nur wüsste, wie schmerzhaft die letzten Worte für mich gewesen waren. ›Tob dich aus‹, hatte er gesagt. Aber was ist, wenn ich mich nicht austoben wollte?
Was, wenn ich nur ihn wollte?
Meine Gefühle runterschluckend, erwiderte ich nur: »Du hast aber gute Ratschläge auf Lager, dafür, dass du dich immer so sozial phobisch gibst.« Ich pikste ihm spielerisch in den Bauch.
»Naja, bei seinem ersten richtigen Freund muss man doch dann auch direkt die großen Geschütze auffahren«, frotzelte er, doch ich weitete aus Schock nur kurz meine Augen.
»Ich bin deine erste richtige Freundschaft?«, wiederholte ich entgeistert. Eine Lawine aus Vorwürfen und Selbstverfluchungen überrollte mich.
Für Jeongguk war ich sein erster richtiger Kumpel und ich hatte nichts Besseres zu tun, als ihn die ganze Zeit anzuschmachten und mich in ihn zu verknallen.
»Nun ja – ja«, erwiderte Jeongguk lachend. »Ich war familiär schon immer sehr ...eingespannt, weshalb ich für solche Dinge nie die Zeit gefunden habe.«
Die Erkenntnis, was für ein schlechter Freund ich doch war, schnürte mir fast die Luft ab und mein Gewissen appellierte immer mehr an mich, meine Gefühle für ihn endgültig aufzugeben.
Ich konnte es nicht riskieren, unsere Freundschaft zu zerstören, wenn es nicht funktionieren sollte.
Es fühlte sich an, als würde sich eine unglaubliche Last auf mein Herz legen.
Aber diese war ich bereit zu tragen, um Jeongguk der Freund zu sein, den er brauchte und den er verdiente.
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