Die Geburt

Über Jahrtausende von Jahren ist „Das kleine Öt" durch die Galaxien geflitzt und heute hat es seinen Bestimmungsort gefunden. Es schwebt darüber und beobachtet. Es wartet auf den richtigen Moment seiner Geburt, denn eine kleine Regel gibt es noch, die erfüllt sein muss. „Das kleine Öt" kann nur dort, wo Zuneigung und Vertrauen bestehen, geboren werden und auf Reisen gehen.

„Das kleine Öt" sieht die beiden in dem großen Bett liegen, wie sie sich zugewandt sind. Vertrauensvoll liegt die kleine Hand des Mädchens auf dem Arm der jungen Frau. Ihre blonden Haare fallen in ihr Gesicht und im Schlaf pustet sie die Haare aus den geschlossenen Augen. Voller Liebe schaut die Frau mit den dunklen Locken auf den schlafenden Engel. Ihre Nichte. Immer noch ist es ein Wunder für die junge Frau, dass dieses vierjährige Kind so gerne mal ein Wochenende hier, bei Tante und Onkel verbringt.

Der Tag ist noch jung, die Sonne lacht aber schon in den Raum und es verspricht ein schöner Sommertag zu werden, mit tausend und drei Möglichkeiten ihn zu nutzen.

Lächelnd legt die Frau die kleine Hand beiseite und erhebt sich vorsichtig, verlässt den Raum. Leise schließt sie die Tür ohne das Kind zu wecken und beginnt den Tag. Voller Vorfreude denkt sie an den Abend, wenn auch ihr Mann zu Hause sein wird.

Eine Stunde später sitzt sie mit ihrem Morgenkaffe auf der Terrasse und genießt den immer noch frühen Morgen, als sie leise, tapsende Schritte hört. Wie selbstverständlich krabbelt das kleine Mädchen auf den Schoß der Frau, kuschelt sich eng an und begrüßt herzhaft gähnend den Morgen.

Viele Worte brauchen die beiden zu dieser frühen Stunde noch nicht. Gesprächig werden sie erst später, auf dem Weg zum Bäcker. „Das kleine Öt" beobachtet alles und weiß genau, dass seine Zeit bald gekommen ist. Auf dem Weg zum Bäcker gibt es hier eine Wippe, dort eine Schaukel und noch allerlei andere aufregende Spielgeräte. Bei allen Geräten probiert das kleine Mädchen aus, ob sie auch wirklich, wirklich, wirklich funktionieren.

Obwohl die beiden den Tag so früh begonnen haben, frühstücken sie erst spät an diesem Morgen, es ist schon fast 11 Uhr. Aber das macht nichts. Gemeinsam genießen sie es durch den Tag zu trödeln. „Das kleine Öt" hört zu, wie sie sich unterhalten.

„Tante Adeliiii?"

„Ja, Feli?"

„Heißt du schon immer Adeli oder hast du auch noch einen zweiten Namen, so wie ich?"

„Wir haben beide keine zwei Namen. So, wie du Felicitas heißt und Feli gerufen wirst, heiße ich Adelheid und werde Adeli gerufen."

„Aber das sind doch zwei Namen!"

„Na ja, nicht wirklich, es sind ja nur Abkürzungen von unseren eigentlichen Namen."

„Mmmhhhh, für mich bist du Tante Adeli, der andere Name ist mir zu lang."

Felicitas ist ein guter Name für das kleine Mädchen, es bedeutet Glück und glücklich wirkt sie hier beim Frühstück auf der Terrasse. Der Kleinen ist es wichtig bei allem zu helfen. Sie findet, dass sie schon alles ganz alleine machen kann. Bei dem einen oder anderen Teil hat Tante Adeli ihre leisen Zweifel, lässt sie aber machen und hält sich im Hintergrund bereit um notfalls eingreifen zu können. Schmunzelnd beobachtet sie, wie Felicitas zwei Teller auf einmal von der Terrasse in die Küche bringt. Das Gesicht voller Konzentration, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, die großen blauen Augen abwechselnd auf die Teller und den Weg gerichtet. „Das kleine Öt" spürt die große Zuneigung der beiden zueinander.

Als der letzte Teller gespült und die letzte Tasse in den Schrank geräumt ist, machen sich die beiden wieder auf den Weg zurück zur Terrasse. Kurz vor der Tür verharrt die Tante im Sonnenschein, der durch das Wohnzimmerfenster fällt. Ihre großen braunen Augen funkeln voller Wärme. Das Gefühl beginnt in ihrem Bauch, breitet sich in ihrem Körper aus und strahlt durch ihre Augen zu Feli. Mit einem Gefühl großer Zuneigung kniet sie sich vor Feli um auf Augenhöhe mit ihr zu sein.

Feli schaut ihre Tante neugierig und voller Erwartung an. Zwischen ihnen befinden sich nur ein paar Zentimeter Raum und wer ganz genau hinschaut, kann das Herz erkennen, dass die beiden umgibt.

Dies ist der Moment, auf den das kleine Öt gewartet hat.

Voller Staunen schauen beide ganz gespannt auf die Spitze des rechten Zeigefingers von Tante Adeli. Es ist nichts darauf zu sehen, aber beide wissen, dass sie nicht mehr alleine sind. Langsam und vorsichtig beginnt „Das kleine Öt" den Zeigefinger zu rotieren. Es bewegt sich auf die Nasenspitze von Feli zu und als die Fingerspitze und die Nasenspitze aufeinandertreffen, erklingt ein kurzes zaghaftes „Öt" aus dem Mund von Tante Adeli.

Überrascht sehen sie sich an und fangen leise an zu kichern. Weil sie noch nicht glauben können, was sie gerade erleben, probieren sie es gegenseitig immer wieder aus. Auch Feli kann ganz vorsichtig „Das kleine Öt" auf die Nasenspitze von Tante Adeli setzen. Manchmal ertönt „Das kleine Öt" dabei aus einem Mund, manchmal macht es sich auch einen Spaß daraus, dass es aus beiden Mündern erschallt. Den Rest des Tages probieren sie immer wieder aus, ob „Das kleine Öt" auch bei ihnen geblieben ist. „Das kleine Öt" fühlt sich wohl und geborgen und der kleine Ton ist immer da, sobald das Ritual erfolgt ist. 

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