Prolog
Ein Schrei zerriss die tiefe Stille um Sachaela. Der Nebel, der in dicken Schwaden um sie herum waberte, bereitete ihr jedoch Schwierigkeiten, diesen zu lokalisieren. Etwas stimmte mit dem Ausruf nicht. Er war bar jeglicher Verzweiflung, eher erfreut.
Sie hielt die Hände schützend vor sich und versuchte, mit den Augen die Nebelwand zu durchdringen. Es war lange her, dass ihre Vision sie durch die Zeit trug. Sie war die unangenehmen Umstände dessen nicht mehr gewohnt. Die klamme Kälte, das schmerzhafte Pulsieren hinter ihrer Stirn und das Gefühl, ins bodenlose zu stürzen. Sie konzentrierte sich, wischte all das beiseite, um ein schärferes Abbild der Umgebung zu bekommen, sonst würde ihr womöglich ein wichtiges Detail entgehen. Ihr Geist wanderte durch eine Siedlung, deren Konturen unscharf wie wabernder Nebel blieben. Nach mehreren Schritten schälte sich der Umriss einer kleinen Behausung aus dem Nichts.
„Hör nicht auf!"
Die hohe Stimmlage der Frau irritierte Sachaela. Durch das Fenster sah sie in das Innere. Nur vage machte sie durch das beschlagene Glas die Konturen zweier Gestalten aus. Sie lagen eng umschlungen auf einem Bett, die Schenkel der Frau umschlangen die Taille des Manns, der auf ihr niederlag. Gedämpftes Stöhnen drang bis zu Sachaela herüber.
Sie war versucht, sich beschämt abzuwenden, aber ihre Pflicht verbot es ihr. Das war nicht irgendein Liebespärchen, von dessen Akt sie hier Zeuge wurde, es musste mehr dahinterstecken. Die beiden lösten sich voneinander. Die Frau kniete sich neben ihn und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund, ehe sie sich auf seinem Schoß niederließ. Er packte ihre Hüfte, während sie ihn mit raschen Auf- und Abbewegungen ritt.
Könnte Sachaela doch nur ihre Gesichter erkennen! Sie wandte sich von dem Schauspiel ab. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet und gab den Blick auf ein Wäldchen fernab der Siedlung preis. Sie hatte bereits jeden Teil des Landes bis ins kleinste Detail durchforstet – sicher würde sie den Wald wiedererkennen. Sie schritt darauf zu, um ein klareres Bild zu bekommen.
Ein Stein, der sich aus dem Mauerwerk löste, ließ sie von dem Haus zurückweichen. Erschrocken sah sie sich um. Von Süden her verfinsterte sich das Land zusehends. Der Himmel strahlte von einen auf den anderen Moment ein bedrohliches Rot aus.
Die Vision löste sich auf! Der Wald verging im Dunst. Ihr war, als fehlte ihren Augen plötzlich die Kraft, weiter als ein paar Schritte zu sehen. Verärgert kehrte sie zu dem Fenster zurück, wo die zwei nebeneinander hingelegt hatten. Sie musste um ihre Identität Bescheid wissen! Der Schornstein explodierte Funken sprühend und ein vereinzelter Gesteinsbrocken riss sie von den Beinen.
Die Dunkelheit rückte näher und entpuppte sich als gigantischer Schlund. Dieser saugte die umliegende Welt in sich hinein. Sie musste hier weg, oder sie würde auf ewig hier festsitzen. Mühevoll rollte sie den Brocken von sich und richtete sich auf. Der Schmerz fühlte sich so real an, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie lief nach Norden, fort von der Gefahr. Wenige Augenblicke später wurde das Häuschen ebenfalls von der Dunkelheit erfasst, bröckelte dahin, ehe es mit tosendem Gebrüll Teil des Nichts wurde.
Leichtfüßig erreichte Sachaela den Waldrand. Er war ihre letzte Chance, doch ihr Sichtfeld verkleinerte sich zusehends. Während sie weiter vor der Auflösung dieser Sphäre flüchtete, überlegte sie, wie sie überhaupt wieder in die Wirklichkeit zurückkommen sollte. Für gewöhnlich endeten ihre Visionen von allein, sobald sie ihren Inhalt übermittelt hatten. Das bedeutete, es war noch nicht zu Ende.
Auf ihrem Weg passierte sie eine malerische Lichtung. Von einem Felsvorsprung entsprang ein kleiner Wasserfall, der in einen See mündete. Der Himmel färbte das Wasser blutrot. Sachaela erinnerte sich an ein anderes Szenario, eine lange vergangene Zeit, in der sie hier den Beginn einer ungewöhnlichen Liebesbeziehung gesehen hatte. Hatte ihre Vision etwas mit dem damaligen Geschehen zu tun?
Das ohrenbetäubende Knacken umstürzender Bäume erinnerte sie daran, in welcher Gefahr sie schwebte. Sie setzte, so schnell sie konnte, ihren Weg nach Norden fort, dorthin wo das Dunkel sie drängte. Sie war nicht Teil dieser Sphäre. Das Land flog nur so unter ihr hinweg. Den Marsch vieler Tage überwand sie innerhalb weniger Augenblicke. Die alles vernichtende Finsternis hatte in einem begrenzten Raum um ihre Heimat, dem Reich der Absconden, angehalten.
Sie eilte durch die verzweigten Gänge, bis sie das Innere der Stadt erreichte. Die Häuser wirkten seltsam verzerrt, wie auch der Rest der Höhle ein Zerrbild der Realität war. Erneut leitete sie ein Schreien – diesmal voller Qual – den rechten Weg. In einem abgeschiedenen Haus entdeckte sie eine junge Frau bei der Geburt ihres Kindes. Dieses Mal konnte sie sie besser ausmachen. Sie war von ihrem Volk, aber das Gesicht war ihr unbekannt.
Offenbar verlief die Geburt nicht wie geplant. Eine Hebamme leistete verzweifelte Beihilfe. Zu Füßen der Mutter hatte sich ein ansehnliches Rinnsal von Blut gebildet. Sie würde sterben, wenn das Kind nicht bald zur Welt kam.
Sachaela beobachtete das Geschehen mit unbeteiligter Miene. Dieses Kind musste irgendeine Art von Gefahr bedeuten. Ein erneuter Blutschwall drang aus dem Inneren der Mutter hervor und wurde begleitet von einem markerschütternden Aufschrei. Die Hebamme half dabei, das Kind aus dem Mutterleib zu nehmen. Ein letztes Mal schrie die Mutter auf, dann hielt die Hebamme das blutüberströmte Kind in ihren Händen.
Entsetzt wich Sachaela zurück. Irgendwas stimmte mit dem kleinen Wesen nicht, aber sie konnte es nicht in Worte fassen.
Die Mutter nahm das Kind in Empfang, flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann sank sie in Bewusstlosigkeit. Kaum hatte die Hebamme das Kind wieder an sich genommen, da trat eine weitere Gestalt aus dem Hintergrund vor.
„Ihr müsst mir das Kind geben – sonst ist es des Todes."
„Sie hat dazu nie ihr Einverständnis gegeben", erwiderte die Hebamme zögerlich.
„Es wird zu spät sein, bis sie erwacht ist. Ihr wollt doch nicht, dass dies hier umsonst war?"
Sie schien eine Weile mit sich zu ringen, dann übergab sie ihm das Kind. „Bringt es in Sicherheit, egal wohin."
Geradezu andächtig nahm er das in ein einfaches Tuch gewickelte Wesen in den Arm. Das Blut störte ihn nicht. Er versteckte dessen Leib unter seinem Mantel und floh nach draußen. Sachaela eilte ihm hinterher. Er legte ein zügiges Tempo vor und war schon nach kurzen außerhalb des Höhlensystems. Aber was wollte er mit diesem Kind? Was war sein Ziel? Und was viel wichtiger war: War all dies bereits geschehen oder stand ihnen diese Entwicklung erst bevor?
Plötzlich drehte sich der Fremde um und sah direkt zu Sachaela. Es war ihr, als würde er sie ansehen. In seinem Blick lag kühle Berechnung. Aber das war unmöglich! Sie war nicht wirklich hier, war nur ein stummer Zuschauer. Seine Augen waren nicht die eines Aculeten. Etwas Böses lag darin, was nicht von dieser Welt kam.
Ein unangenehmes Kribbeln zog durch ihre Muskeln, welches sich zu einem grausigen Schmerz ausweitete. Ihr Körper wurde bewegungsunfähig, als stecke er bis zum Hals im Morast. Sachaela versuchte zu schreien, schaffte es aber nicht. Wahnwitzige Phrasen schossen ihr durch den Kopf, hämmerten auf ihren Verstand. Wieder und wieder dieselben Worte, eine düstere Kunde des Kommenden.
Der Mann brach in schallendes Gelächter aus, lachte wie im Wahn. Die Dunkelheit griff weiter um sich, raste auf sie zu. Um sie herum wackelte das mächtige Gebirge wie unter einem Erdbeben. Gesteinsbrocken jagten zu Boden. Der Schmerz wurde immer intensiver, drohte sie zu ersticken.
Erneut versuchte ihre Kehle einen spitzen Schrei auszustoßen, aber es war, als wäre sie zugeschnürt. Unter Aufbietung all ihrer Willensstärke bewegte Sachaela ihre Hand zu ihrem linken Arm. Ihre langen Fingernägel berührten die weiße Haut. Dann fuhr sie mit einem Ruck über den Arm und hinterließ blutige Striemen. Dieser körperliche Schmerz löste den Knoten, erlaubte es ihr, endlich einen Ton hervorzubringen und stieß sie zurück in die Realität.
Sachaela öffnete die Augen und sah sich panisch um. Sie suchte nach ihr bekannten Gegenständen, Dinge, an denen sie sich festhalten konnte, um nicht erneut in Trance zu versinken. Vor ihr stand ein grob gezimmerter Rotbuchetisch. Der Farbton erinnerte sie an den rot gefärbten Himmel, wie auch das restliche Mobiliar, das großteils aus ähnlichen Rottönen bestand und nur zwei Stühle, eine einfache Truhe und ein Regal aufwies.
Sie war zuhause, wenn man den karg ausgestatteten Raum als solches bezeichnen durfte.
Aber wozu hätte sie auch Bequemlichkeit hier drin gebraucht? Die meisten Weissagungen der Seherin verrieten Düsteres, weswegen man sie allzu gerne mied. Nur wenige wagten es ihre Höhle, wie manche ihr Zuhause betitelten, zu betreten. Es galt als töricht, sich ihr gegenüber hinzusetzen und um Rat zu bitten, oder sie gar über die Zukunft auszufragen.
Aber heute war es anders, heute hatte sie eine Botschaft für ihr Volk. Sie beherrschte sich hielt all ihre Sinne in stählernem Griff, um nicht erneut in den meditativen Zustand zu versinken, in welchem sie sich eben noch befunden hatte. Meist dauerten diese Stunden oder gar Tage an. Zeit, in der sie eins war mit allem: Pflanzen, Tiere, alle Völker - in diesen versunkenen Momenten durchdrangen ihre Gedanken das alles. Doch nur äußerst selten sah sie etwas anderes als die Gegenwart. Ein Grund zur Beunruhigung für sie.
Es bereitete ihr Mühe, sich zu erheben. Ihre sehnigen Arme hatten kaum noch die Kraft, die Last ihres dürren Körpers zu tragen. Sie hatte seit ungefähr vier Tagen weder gegessen, noch getrunken. Auch wenn ihr Körper in diesem Zustand fast keinerlei Nahrung benötigte, so sah man ihr den Entzug doch deutlich an. Oftmals bekam sie es mit der Angst zu tun, betrachtete sie ihr Spiegelbild, den abgemagerten Körper, das eingefallene Gesicht.
Sie hatte ihre Gabe oft verflucht, war sie doch wie eine unstillbare Sucht. Gierig nahm sie wieder und wieder all die Informationen, all die Eindrücke in sich auf. Jedes Mal widerstand sie der Furcht, dass sie nie mehr aus diesem Zustand erwachte. Schließlich schaffte sie es, sich mithilfe ihres knorrigen Stocks aufzurichten. Ihr Blick wanderte aus Gewohnheit zu dem zerborstenen Wandspiegel zu ihrer Rechten. Zwar hatte dieser nur noch einige rissige Bruchstücke des Glases inne, aber diese reichten, um ihr zu zeigen, dass sie zum Fürchten aussah. Wie eine verrückte, ungepflegte Hexe. Sie lachte innerlich bei dem Gedanken, fragte sie sich doch des Öfteren, ob sie nicht vielleicht langsam den Verstand verlor.
Seufzend löste sie den Blick von ihrem Bild und ging zu dem Tisch. Auf dem Stuhl davor ließ sie sich ächzend nieder. Ihre langen, schmutzigen Fingernägel wanderten unstet über die vor ihr liegende Landkarte. Es war sicher nicht die aktuellste und auch nicht die beste. Sie zeigte schemenhaft die Vegetation und einige der großen Städte. Angestrengt ließ sie ihren Blick über das vergilbte Papier wandern. Ihr Finger verharrte auf einem grünen Bereich.
Sie schloss die Augen und kramte in ihrer Erinnerung. An die Verse, welche ihr beinahe den Verstand geraubt hätten. Allein der Gedanke an sie ließ sie erschaudern, aber die Wichtigkeit der Botschaft zwang sie, sich darauf zu konzentrieren.
„Kind ... Kind der Viere, aus dem Blute zweier.
Kind des Verrats, Verrat am eigenen Fleisch.
Träger der Elemente, Untergang unseres Volkes.
Freund des Feinds aller.
Dein Kommen zeugt vom Tod des Volkes.
Dein Kommen zeugt von der Rückkehr der Alten."
Sachaela keuchte erschrocken auf. Beinahe wäre sie erneut in Trance versunken. Eine Bilderflut, wirre Szenen blutiger Schlachten, von willkürlichem Gemetzel, hatten sie übermannt, sie wieder in die Realität zurückgebracht. Zurück in ihre dunkle, schmutzige Bleibe. Mit zitternden Händen erhob sie sich und tappte unbeholfen hinaus. Sie musste den Unendlichen warnen, bevor es zu spät war. Womöglich war es das schon und sie konnte es nicht mehr verhindern. Es könnte bereits geschehen sein.
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