Die Vergangenheit - Sahira #2
Die Lorica gehörten zum Volk der Absconden, genau wie die Aculeten. Vor ungefähr achtzig Zeitaltern war es zur Spaltung der beiden Stämme gekommen. Die Lorica hatten die teils sinnlosen Angriffsversuche gegen die Lupa, die Todfeinde der Absconden, nicht mehr länger hingenommen. Nach der Ermordung des damaligen Herrscherpaars kam es zur Teilung der beiden Volksgruppierungen. Jede war darauf bedacht die andere vom Erdboden zu tilgen, um das komplette Himmelsgebirge für sich zu beanspruchen. Doch statt mit großen Armeen aufeinander loszumarschieren, beließen sie es derweil bei wiederkehrenden Scharmützeln gegeneinander. Das Leben war gefährlich geworden. Vor allem für die einfache Bevölkerung.
Sahira und Farn rannten los, während Ichiro wie angewurzelt stehenblieb. Die Tore des inneren Rings schlossen sich langsam unter dem lautstarken Läuten der Alarmglocken. Sahira warf einen Blick über die Schulter zu der mächtigen Befestigung, auf der Schützen wie eine Horde Ameisen zu den Wachtürmen schwärmten. Sie hätte am liebsten auf den Boden gespuckt bei dem Gedanken, dass sie auch gleich gut die Türme unbesetzt lassen konnten. Die Angriffe begrenzten sich jedes Mal nur auf die Vororte. Die meisten Adligen sahen es nicht als notwendig an, nach draußen zu kommen, um zu helfen. Erst wenn die Angreifer zu nahe kämen, wenn die Türme das Feuer eröffnen würden, dann zögen sie in die Schlacht. Erst wenn es um ihre eigene Haut und um ihren Reichtum ging. Nur wenige waren lebensmüde genug, sich in die chaotischen Kämpfe nahe der großen Pforte zu stürzen. Eine Handvoll zu denen Sahira und Farn gehörten. Wer dort starb, fiel in einem unbedeutenden Gemetzel, aber das war ihnen gleich. Sahira riss sich mit Gewalt aus ihren Gedanken und griff nach den Langdolchen, die in zwei Lederscheiden nebst ihren Beinen ruhten.
„Du musst das nicht tun, Sahira", knurrte Farn.
„Du auch nicht. Außerdem, warum sollte ich dir den Spaß allein überlassen?", antwortete sie leichthin.
„Das ist kein Spaß oder gar Training. Das ist ein echter Kampf - hier geht es um dein Leben! Und ganz nebenbei – ich werde dafür bezahlt."
„Du würdest deinen Sold auch bekommen, wenn du dich hinter dieser Mauer verkriechst. Lass uns kämpfen!" Mit weit ausgreifenden Schritten lief sie los. Ihr langes, silbrig glänzendes Haar flatterte wie eine Fahne hinter ihr her. Sie fürchtete sich nicht. Aculeten wurden mit Kaltblütigkeit geboren, Angst wäre nur eine Last, die deren kampfbetontes Leben nicht möglich machen würde.
Farn nahm sofort die Verfolgung auf. „Du bist doch verrückt!"
Da sich die Arena nahe den Vorortvierteln befand, erreichten sie das Schlachtgetümmel in Windeseile. Im Gegensatz zu den Aculeten bildeten ihre Gegner auch Frauen im Kampf aus. Sicherlich die Hälfte der Angreifer bestand aus ihnen.
Mit einem wütenden Schrei stürzte sich Sahira auf einen Mann, der eine wehrlose Mutter samt Kind bedrohte. Ihr Gegner sah die mit einem Sprung Herannahende und versetzte ihr einen Tritt vor die Brust. Keuchend kam sie auf den Füßen auf. Er nutzte ihre geschwächte Lage und stach mit seiner Waffe, einem geriffelten Kurzschwert, zu. Sie entging der Attacke nur um ein Fingerbreit. Sofort kam sein nächster Angriff in Form seiner hervorschnellenden Faust, die er ihr hart auf die Wange schlug.
Sahira schmeckte Blut, als sie sich auf die Zunge biss. Der Schmerz holte sie aus der drohenden Bewusstlosigkeit zurück. Bevor ihr Gegner erneut zustach, stieß Sahira ihre Dolche nach vorne. Zwar wich er einem der beiden aus, aber der andere bohrte sich in seine Brust. Motiviert von ihrem kleinen Erfolg, stach sie in rascher Reihenfolge blutdürstig zu und beförderte ihren Gegner ins Jenseits. Neben sich sah sie Farn, welcher einer Lorica ihre Waffe aus der Hand schlug und sie mit einem gezielten Speerstoß tötete. Er nickte ihr aufmunternd zu und half einem anderen Verteidiger, der von gleich zweien bekämpft wurde.
Sahira atmete ein paar Mal kräftig durch und zog mit erhobenen Klingen weiter. Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung. Gerade noch rechtzeitig riss sie die Dolche überkreuzt nach oben und lenkte die Speerspitze eines Angreifers ab. Ihr Gegenüber kam gleich darauf zu Fall. Ein längliches Schwert bohrte sich von hinten durch seinen Körper. Argo sah sie gar nicht an. Sie erhaschte nur einen kurzen Blick auf seine Augenbinde, die sein rechtes Auge bedeckte, sein langes schwarzes Haar und die von Narben und frischen Wunden übersäte Haut. Auch wenn er sie mittlerweile verachtete, trieb ihr sein teils verwegen, teils entstellt wirkendes Äußeres nun die Tränen in die Augen. Endlich begriff sie die Bedeutung von Farns Worten in ihrer Gänze.
Er riss das Schwert mit einem schmatzenden Laut aus seinem Opfer und warf sich den nächsten Feinden entgegen. Wie ein todbringender Schatten, unaufhaltsam. Auch er kämpfte vor den Toren, obwohl er ein Assassine war und aus einem der höhergestellten adligen Häuser stammte. Sahira wollte seinem Beispiel folgen, auch wenn sie seine Ideale alles andere als teilte. Obgleich ihr schon nach dem ersten Gegner, aufgrund des vorangegangenen Übungskampfes, alle Knochen wehtaten, griff sie dennoch einen weiteren an. Es war ein, für einen Absconden, äußerst stämmiger Mann. Passend dazu trug er einen scheinbar komplett aus Stahl bestehenden Speer, dessen blutbefleckte Spitze ihr bedrohlich entgegen blitzte.
Er schien sie zu unterschätzen und ging wohl davon aus, sie mit einem Treffer niederstrecken zu können. Ungeachtet seiner sich öffnenden Verteidigung führte er einen machtvollen Ausfallhieb in Richtung ihrer Brust aus. Flink duckte sie sich unter dem Speer weg und sprang nach vorne. Ihr Kopf traf auf seine Hüfte und brachte ihm zum Wanken. Bevor er zu einem zweiten Schlag ausholte, stieß Sahira einen Dolch blindlings, jeden Widerstand durchbrechend, nach oben. Sie lächelte innerlich, als warmes Blut ihr Gesicht besprenkelte und sein schmerzerfüllter Aufschrei ihre Ohren erfüllte. Sie rollte sich zur Seite, kaum sackte sein Körper auf die Knie. Sofort war sie wieder auf den Beinen und stieß ihm beide Eisen in den Rücken.
Farn focht derweil mit einem gedrungenen Lorica. Zu seinen Füßen lag ein verwundeter Aculet, den er beschützte. Sein Gegner nutzte das immer wieder aus, indem er Angriffe auf den Verletzten vortäuschte. Sahira fackelte nicht lange, als sie das sah. Sie pirschte sich von hinten heran und stieß ihm beide Klingen in den Hals. Gleich darauf bekam er Farns Speer in den Bauch gerammt. Röchelnd und mit dem kläglichen Versuch, die Halswunde zuzuhalten, sank er in sich zusammen. Farns Blick verriet Eiseskälte. Kämpfte er, so war er ein ganz anderer, bar jeglichen Gefühls.
„Es sind mehr als sonst", rief ihr Bruder gehetzt.
Sahira zuckte die Schultern. „Umso mehr Schmutz vernichten wir."
„Du hast mehr von Vater an dir, als du glaubst."
Sie zogen nebeneinander gegen die nächsten Feinde. Das Chaos lichtete sich langsam, da ein Großteil der ansässigen Bevölkerung entweder am Boden lag oder geflohen waren.
Gleich drei Lorica bedrängten sie. Während zwei sie von vorne angriffen, versuchte der Dritte, immer wieder hinter sie zu kommen. Nur mit ausgreifenden Schlägen hinderten sie ihn daran. Sahira wagte einen Vorstoß. Sie machte einen Schritt nach vorne und drängte die zwei Waffen ihres Gegners mit ihren eigenen zur Seite. Schließlich umarmte sie ihn, was ihn zuerst völlig überrascht innehalten ließ. Sofort versenkte sie die Dolche in seinem Rücken, was ihm einen Schrei voller Agonie entrang. Sein Blut, das ihm aus Rücken und Brust drang, lief über Sahiras Rüstung und ließ sie tiefrot glitzern. Sie löste rasch die tödliche Umklammerung und wand sich dem Nächsten, der seinem Freund zu Hilfe eilen wollte, zu. Ihre Verteidigung war offen und er stieß mit dem Schwert zu. Farn lenkte es mit einem Speerstoß ab, ehe es ihre Brust durchbohrt hätte.
Sahira fühlte sich wie in eine Art Blutrausch versetzt. Ungeachtet jeglicher Gefahr warf sie sich auf ihn und stach ihm die Klingen in den Hals. Ein ganzer Strom hellen Lebenssafts ergoss sich über ihre Hände. Den plötzlichen Schmerz an ihrer Seite bemerkte sie nicht. Genauso wenig wie das Messer, welches seine zitternde Hand aus ihrem Körper riss.
Zu ihrer Rechten gewahrte sie Farn, der seinen Speer aus der Hand geprellt bekam. Er wich dem nächsten Schlag geschickt nach hinten aus und gab somit Sahira die Chance, einzugreifen. Wütend schlug sie mit dem Dolch nach dem Lorica, aber dieser sah den Angriff schnell genug und wehrte ihn mit dem Knauf seines Schwerts ab. Er setzte darauf gleich mit einem Faustschlag mitten in Sahiras Gesicht nach. Ihre Nase blutete sofort, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie hatte nur den Gegner im Auge. Ihr Feind und der Sieg über ihn beherrschten ihr Bewusstsein. Er schlug mit dem Schwert nach ihr und sie parierte es einhändig. Sein Schlag zerbrach die dünne Klinge und ließ das scharfe Metall brutal über ihren Unterarm ritzen. Sahira revanchierte sich mit einem Stich ihres anderen Dolchs mitten in die Brust. Bevor er ihr erneut einen Schlag verpassen konnte, stach sie ihm in den Arm, gefolgt von einer Ramme mit ihrem ganzen Körpergewicht, die ihn zu Boden brachte. Als sich der Verletzte erheben wollte, war sie schon über ihm und führte den tödlichen Hieb gegen seine Kehle aus.
Sahira lachte fröhlich auf. Aus dem tiefen Schnitt in ihrem Arm ergoss sich eine breite Spur hellroten Bluts. Sie spürte nur ein taubes Gefühl, war zu besessen von dem Kampf, um sich ernsthaft Gedanken über ihren Zustand zu machen. Gerade wollte sie sich umdrehen und erneut ins Getümmel stürzen, da packte Farn sie am Handgelenk und zog sie zurück. Reflexartig schlug sie nach ihm. Er wich gekonnt aus und zog sie ruckartig nach unten.
„Sahira bist du von Sinnen? Du bringst dich um!"
„Während du hier mit mir versuchst zu reden, wird unser Volk abgeschlachtet!", schrie sie anklagend.
„Sie werden nicht weniger getötet, wenn du hier einen Selbstmord begehst!", erwiderte er verärgert.
„Auf mein Leben kommt es doch sowieso nicht an! Ich bin nur Ehematerial!" Sie zerrte an ihm, aber Farn hatte sie fest im Griff. Sie rutschte lediglich auf dem Boden aus und fiel hin. Farn hatte genug von ihrem Benehmen und ohrfeigte sie. Der im Vergleich zu ihren restlichen Wunden geradezu lächerliche Schmerz riss sie aus ihrem Wahn heraus. Sie blinzelte ihn ein paar Mal verwirrt an, ehe sie den Kopf senkte. Eine unendliche Trauer überkam sie, ohne dass sie es verhindern konnte. Gefühle, die sie stets verdrängte, traten im Angesicht ihres körperlichen Schmerzes an die Oberfläche. Urplötzlich brach sie in lautes Weinen aus, ihr Körper zuckte dabei unstet, was das Blut nur noch schneller aus ihren Wunden pumpte. Besorgt riss Farn einen Stofffetzen seiner Kleidung ab und verband hart ihren Arm, um den Strom zu stoppen. Sahira umarmte ihn, wie ein Ertrinkender, der sich an ein Stück treibendes Holz klammert. Er tätschelte ihren Rücken und hob sie auf.
„Ich werde nicht zulassen, dass sie dich gegen deinen Willen verheiraten", sprach er ihr beruhigend zu. Sahira entgegnete irgendetwas, aber es ging in ihren stoßweise hervorkommenden Schluchzern unter.
Er trug sie sanft fort, weg von dem Kampf. Die anderen Kämpfenden deckten ihnen den Rücken. Farn warf einen letzten Blick zurück, wie ein Verliebter, der noch einmal zu seinem Herzblatt zurückblickte. Die Aculeten gewannen langsam aber sicher die Oberhand. Erneut waren die Lorica geschlagen. Sein Augenmerk galt aber viel mehr den unzähligen Toten, die den Höhlenboden rot vor Blut färbten. Er musste sich beherrschen, um nicht den Hass obsiegen zu lassen und sich erneut in die Schlacht zu stürzen. Kopfschüttelnd trat er durch das Tor des inneren Rings, welches sich für ihn sofort öffnete, kaum näherte er sich.
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