Die Vergangenheit - Heimkehr #1

Ragnars weit ausholende Schritte trugen ihn schnell wie der Wind zurück nach Süden. Während er die zwei jungen Männer begleitet hatte, hatte er nicht einmal ansatzweise seine maximale Geschwindigkeit eingesetzt - nun setzte er alles daran, noch schneller zu sein. Es schmerzte ihn, seinen Sohn allein ziehen zu lassen, aber früher oder später hätte er ihn sowieso gehen lassen müssen.
Ein Lupa musste seinen Weg finden. Außerdem gab es etwas, was ihm gleich viel, wenn nicht mehr bedeutete, als seinen Sohn, den kennenzulernen ihm nie vergönnt gewesen war. Auch wenn sie viele Zeitkreise voneinander getrennt waren, spürte er nach wie vor ihre Freuden, Ängste, einfach alles. Sie waren eins und würden es immer sein. Und nun hatte er eine Furcht verspürt, die er nie zuvor bei ihr erlebt hatte. Angst, die über die Sorge einer Mutter hinausging, welche sie um ihren Sohn verspürte.
Mit einem kräftigen Satz sprang er über einen umgefallenen Baumstamm, wich einer wuchtigen Eiche aus und verließ den Wald. Die Hitze des Mantels traf ihn nach der Reise durch den Wald hart und steigerte seine Erschöpfung weiter. Er betete, dass sein Gefühl ihn trog, dass seine Furcht unbegründet war, denn er würde nicht mehr die Kraft besitzen, sie zu beschützen. Er setzte über ein Hügelgrab hinweg, das mitten auf der Grasebene lag, bemerkte jedoch nicht, dass der Hang auf dessen Rückseite steil bergab verlief. Ragnar streckte seine Beine und ließ sie beim Aufprall leicht einknicken, um den Fall abzufedern. Dennoch zog ein kribbelnder Schmerz von den Pranken bis hinauf zu seinen Schulterblättern. Dann überschlug er sich und blieb für einen Moment reglos liegen.
Er befürchtete keine schwerere Verletzung, konnte sich aber gut vorstellen, dass eine daraus wurde, wenn er seine Gelenke weiter überstrapazierte. Aber was war schon eine Verletzung im Vergleich zum Verlust seiner Geliebten? Was machte sein Leben noch aus, wenn er es gesund aber einsam verbrächte? Mühsam erhob er sich wieder und verfolgte weiter sein Ziel. Statt sich zu schonen, legte er noch einen Zahn zu. Seine federnden Schritte wirkten fast, als schwebe er über die Grasebene.
Er erreichte nach kurzer Zeit den nächsten Waldrand. Die Bäume standen hier so dicht beieinander, dass es schier unmöglich war, hindurchzulaufen, ohne sich ständig zu stoßen. Er hob die Nase in den Wind und schnupperte. Was er da roch, gefiel ihm ganz und gar nicht. Es roch nach Feuer. Vielleicht Nachwehen des kürzlich stattgefundenen Dorffests? Da es zu lange dauern würde, den Wald zu umgehen, ging er das Wagnis ein, ihn zu durchqueren. Sein wuchtiger Körper durchstieß herabhängende Äste und Buschwerk, das sich ihm in den Weg stellte, als wäre es nichts. Einmal prallte er gegen einen der unzählbaren Bäume, was ihn aber nicht aufhielt. Sein Körper war längst taub geworden für Schmerz und Erschöpfung. Sein eiserner Wille peitschte ihn weiter, ließ es nicht zu, dass er auch nur einen Augenblick innehielt.
Endlich erreichte er das letzte Stück Weg, das ihn von Asmos Heimat trennte. Schon von Weitem sah er den Wachturm. Er weckte wehmütige Erinnerungen in ihm, denn auch er hatte dort unzählige Stunden beim Wachehalten verbracht. Sie hatte ihn oft des Nachts besucht und diese Zeit erträglicher gemacht. Einige Schritt weiter, erkannte er den Wachturm schon deutlicher und geriet ins Stutzen. Die Leiter, die nach oben führte, lag am Boden. Er redete sich ein, dass der Wind sie umgeworfen hatte, auch wenn der immer stärker werdende Brandgeruch diese Erklärung zunichtemachen wollte.
Kaum erreichte er den Turm, erkannte er den Grund, aus dem die Leiter hinabgestoßen wurde. Saro, ein Junge in Asmos Alter, den Ragnar noch als Baby kennengelernt hatte, hing vornüber von der Plattform. Unter ihm begraben lag sein Bogen. Eine Art Wurfdolch ragte aus seinem Kopf. Er musste den Turm mit Sotar gemeinsam bewacht haben. Der übergewichtige Junge hatte jedoch im Gegensatz zu Saro versucht, sich in der hinteren Ecke des Turms zu verstecken. Dieselbe Waffe durchbohrte seinen Rücken und nagelte den leblosen Körper an der hölzernen Befestigung fest. Panik erfasste Ragnar und er stürzte auf den Dorfplatz zu. Was er dort sah, ließ ihn für einen Moment all die kleinen und größeren Wunden spüren, die er bisher ignoriert hatte.
Er sackte zusammen und überblickte die Ansammlung von Brandherden. Einige Häuser waren bereits großteils verbrannt, bei anderen schien das Feuer es darauf anzulegen, sie bis auf die Grundfesten hinab niederzubrennen. Aber vielleicht konnte er noch helfen! Er lief einen Abhang hinunter. Fast wäre er auf die sterblichen Überreste eines Jungen, vielleicht fünfzehn Zeitkreise alt, getreten. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Wehrlose war offensichtlich bei einem Fluchtversuch von hinten erdolch geworden. Sein Blut färbte das Gras um ihn herum in einem schmutzigen Rotton.
Man hatte den Angriff nicht kommen sehen - sie wurden wehrlos, wie sie waren, ermordet. Für Ragnar die klare Handschrift der Absconden. Es war kein Unterschied gemacht worden zwischen Mann und Frau, Alt und Jung, schwach und stark. Ein wahlloses Tötungsmanöver. In einer Ecke entdeckte er Horvath, den Dorfältesten. Er erinnerte sich vage an den Tag, an dem dieser ihn offiziell in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatte. Er hatte seine Aufgabe stets freundlich und gewissenhaft verfolgt. Ein Haus weiter Gillian den Musiker und Gorn den Schmied. Zwei der wenigen, die sich scheinbar verteidigt hatten. Mit Hammer und Degen hatten sie vergeblich versucht, den Eindringlingen Einhalt zu gebieten. Nun lagen sie darnieder, die Gesichter zugewandt. Als hätten sie sich Lebewohl gesagt, bevor sie für immer die Augen schlossen. Ragnar hatte die Zeiten oft vermisst, in denen sie drei gemeinsam bei einem gemütlichen Glas Bier in der Taverne gesessen hatten. Er presste die Augen vor Schmerz zusammen. Diese Zeiten würden nun nie wiederkehren.
Nur widerwillig trat er auf die kleine Hütte zu, welche ihm nach all der Zeit immer noch so vertraut war. Die Tür war aus den Angeln gerissen, das Strohdach brannte lichterloh. Solange er nicht hineinsah, konnte er sich der Vorstellung hingeben, es würde ihr gutgehen. Er wartete eine Weile ab, um die Illusion zu genießen, jetzt sofort wieder mit ihr zusammen zu sein, sie glücklich in die Arme zu schließen. Er bereute all die Jahre, die ihn die Gesetze seines Volkes von ihr ferngehalten hatten. Für diese Frau hätte er alles über Bord werfen, seine väterlichen Pflichten erfüllen sollen.
Endlich betrat er die Hütte. Es sah aus wie immer. Über dem Feuer im Kamin brodelte eine Suppe, die einen angenehmen Duft verbreitete, der den Gestank des verbrennenden Daches zu dämpfen wusste. Sie musste schon länger kochen, denn ein leichter Geruch nach Verbranntem mischte sich unter den würzigen Duft. Das Bett war noch nicht zurechtgemacht. Sie kochte immer zuerst und kümmerte sich dann um das Haus. Immerhin kam ihr Sohn ja meistens früh zum Essen.
Ein schmerzliches Lächeln breitete sich auf Ragnars Gesicht aus. Wie gerne hätte er all diese Zeiten mit ihnen gemeinsam verbracht. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Er gab seine Wolfsgestalt auf. Nun war er der Mann, als den sie ihn kennengelernt hatte. Ein großer, kräftig gebauter Hüne mit schwarzem fast schulterlangem Haar. Die Erinnerung an ihre Vergangenheit trieb ihm die Tränen in die Augen, als er ihren Leichnam vom Boden aufhob und nach draußen trug. Es sah aus, als würde sie nur schlafen. Ihre gebräunte Haut wirkte noch immer so voller Leben, genau wie das strahlend blonde Haare, dem auch ein paar graue Strähnen seinen Glanz nicht nehmen konnten.
Wie oft hatte er ihr Volk für seine kurze Lebensspanne verflucht. Sich selbst dafür gehasst, dass er die wenige Zeit, die er mit ihr haben konnte, fernab von ihr verbrachte. Jetzt war ihre Zeit um ein weiteres verkürzt geworden. Die wenigen Zyklen, die sie auf Erden hatte, erschienen ihm nicht mehr als die Dauer einer Kerzenspanne.
Ragnar sog den Duft der mit Nelkenöl beträufelten Haare ein. Sie roch immer danach in der Zeit der Geburt – wenn der Schnee begann zu schmelzen und die ersten Blumen müde ihre Stängel gen Himmel reckten. Seine rauen Hände strichen sanft über ihre zarte Haut, umspielten das spitz zulaufende Kinn. Sie hatte ihm ständig die von der Arbeit schwieligen Hände mit pflegenden Ölen eingerieben. Er hatte sich dagegen gewehrt – es war unmännlich, ein Versuch, seine Haut wie die einer Frau zu machen. Die Erinnerung drohte ihn zu überspülen, er durfte sich ihr nicht ergeben – noch nicht. Ragnar verließ das Dorf in stummer Trauer. Tränen wären dem Gefühl von Elend nicht würdig gewesen. Etwas in ihm war zerbrochen, für immer. So lange hatte er gewartet, auf einen Moment der Rückkehr – sein ganzes Leben darauf ausgerichtet. All das hatte nun seinen Sinn verloren. Er würde sie an demselben Platz begraben, an dem sie sich damals ineinander verliebt hatten. An dem kleinen Wasserfall im Wald. Dem Ort, an dem ihre Geschichte begann.


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