Die Gegenwart - Wiedersehen #5

Asmos schlief in dieser Nacht alles andere als gut. Die ganze Zeit über malte er sich die verschiedensten Szenarien aus. Einmal schafften sie es, Sahira zu befreien, dann wieder nicht. Einmal war sie tot, das andere Mal das blühende Leben. Die Ungewissheit zerfraß ihn.
Warum hatte er sich nicht früher darum gekümmert? Hatte er sie wirklich aufgegeben? Zum fünften Mal hatte ihn ein Nachtmahr aus dem Schlaf gerissen. Als er sich nun zum Fenster drehte, drang bereits der morgendliche Schein des großen Mantels hindurch. Müde blinzelte er den Schlaf aus den Augen und erhob sich.
Sein Frühstück stand auf einem Abstelltisch neben seiner Kommode. Der einstige Herrscher hatte es gepflegt, sich füttern und ankleiden zu lassen. Asmos brauchte solchen Luxus nicht, aber er aß dennoch lieber allein auf seinem Zimmer. Wenn er diesen winzigen Bereich, in dem er noch eine Privatsphäre hatte, verließ, holte ihn sein verantwortungsüberladenes Leben ein. Papiere waren zu unterschreiben, Botschafter und Händler baten um Audienz und beständig ging ihm irgendeiner seiner Beamten mit lästigen Regierungsfragen auf die Nerven.
Genussvoll biss er ein Stück seines mit Butter und Schinken beladenen Brots ab. Der Brocken wäre ihm fast im Hals stecken geblieben, als Anela die Tür aufriss und ihn mit einem übertrieben fröhlichen Guten Morgen aufschreckte.
Er hustete ein paar Mal, bis er das nur ansatzweise zerkaute Brot heruntergebracht hatte.
„Erwähnte ich nicht einmal, dass ich erst dann gestört werden will oder besser gesagt darf, wenn ich diese vier mir heiligen Wände verlasse?", fragte er missgestimmt.
„Kann sein, dass mein mürbes Gedächtnis das vergessen hat", erwiderte sie gelassen. „Die Truppen Winbrucks stehen bereit. Heute Morgen kam mein Späher zurück und berichtete, dass Gardener Zann mit ungefähr achthundert Mann zwei Tagesmärsche von hier entfernt lagert. Das heißt, du könntest mit zweihundert unserer Leute losziehen. Ich habe bereits veranlasst, dass die umliegenden Städte dir ihre zur Verfügung stehenden Truppen zukommen lassen. Der Treffpunkt wäre dann südlich von hier, an der Küste zum Roten Meer, von wo aus ihr in See stechen könntet."
Völlig überrumpelt sah er sie ein paar Sekunden nur an.
„Und das hast du alles noch gestern organisiert?"
„Ja, wieso?"
Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Stehen denn genügend Schiffe an deinem Treffpunkt zur Verfügung?"
„Ich habe erst vor einem halben Zeitkreis die Produktion einer kleinen Flotte beauftragt. In Zuge dessen hatten wir den Hafen vor Ort ausgebaut. Du selbst hast dem doch zugestimmt?"
„Jetzt, wo du es sagst. Ich war wohl zu sehr in meine Regierungsgeschäfte vertieft, um darauf zu achten."
Anela kicherte fröhlich auf diese Annahme hin. „Du meinst die Geschäfte, die schon seit Zeitkreisen von anderen erledigt werden? Asmos, du bist ständig in Gedanken vertieft, die ich nicht nachvollziehen kann. Nie bist du bei der Sache. Und wenn, dann kannst du dich nur auf eine gleichzeitig konzentrieren. Den gestohlenen Stein, deine Freundin ..."
„Willst du damit andeuten, ich habe all die Zeit nicht regiert, sondern nur fröhlich auf dem Thron gesessen und andere an meiner statt handeln lassen?", fragte er nun fast schon erbost.
Sie tätschelte ihm liebevoll das Handgelenk. „Du hast zumindest eine schöne Unterschrift."
Asmos ließ den Rest seines Frühstücks einfach liegen und machte sich auf dem Weg nach draußen. „Es kommt mir verantwortungslos vor, wenn ich die Stadt verlasse, derweil einer der Ratsmitglieder den Aufstand probt."
„Gardener Zann hat keine Ahnung davon, in welchem Ausmaß wir unsere Truppenkontingente aufgestockt haben. Er hält dich für schwach und angreifbar. Sobald er unserer Übermacht gegenübersteht, wird er klein beigeben. Schenk ihm keine Aufmerksamkeit, sonst fühlt er sich nur unnötig wichtig."
„Und Vlorren?"
Anela atmete tief ein und aus. „Ich bete, dass er entkommen ist oder sie ihn gefangen genommen haben."
„Dann wird es Zeit, meine Angelegenheiten endlich selbst in die Hand zu nehmen. Kannst du dafür sorgen, dass mein Pferd gesattelt wird?"
Sie sah ihn nur mit vielsagendem Blick an.
„Du hast recht, ich werde mich selbst darum kümmern."
„Es steht bereits im Hof", erwiderte sie genüsslich.
Er grummelte leicht auf diesen weiteren Seitenhieb hin. „Ich frage mich, ob du die Führerin der Streitkräfte unseres Reiches, oder meine persönliche Assistentin bist!"
„Da ich ja lieber die Stadt halten soll, statt unsere Armee anzuführen, wohl eher zweiteres."
„Ich habe nicht vor, einen weiteren Menschen zu verlieren, der mir so viel bedeutet."
Ihr Blick folgte ihm noch, bis er schon den Gang verlassen hatte und um die Ecke gebogen war. „Das habe ich auch nicht vor."
Sie zog eines der Schwerter, die sie an ihrer Seite zu tragen pflegte, aus der Scheide und stellte sich nachdenklich vor den Wandspiegel gegenüber seines Betts.
„Otma, hast du mir gebracht, wonach ich verlangte?", fragte sie in halblautem Ton. Daraufhin erschien ein in eine weiße Tunika gehüllte, drahtige Gestalt im Türrahmen. Es war derselbe Mann, der schon Vlorrens Trupp begleitet hatte.
„Natürlich Herrin. Harnisch, Helm und Schild als auch einen Bottich voller Schwarzbeerensaft."
Erstere legte er ihr sofort vor die Füße, Letzteren musste er erst aus dem Gang hervorschleifen.
„Doch ich verstehe nicht, warum ihr die Gewandung eines einfachen Soldaten braucht."
Sie lächelte nachdenklich in den Spiegel und setzte das Schwert kurz oberhalb ihrer Schulter an das Haar an. „Weil ich mit heutigem Tage einer werde." Mit diesen Worten schnitt sie ihr langes Haar kerzengerade ab. Sie roch noch einmal gedankenverloren an dem blonden, beinahe weißen Haar, das sie immer leicht zu parfümieren pflegte. Dann warf sie es zu Boden, als wäre es etwas zutiefst Schmutziges. Mit ihrem Halstuch wischte sie die Farbe, die ihre Augen zierte, weg. Zuletzt legte sie die zweite Schwertscheide ab.
„Und nun hilf mir, mein Haar zu färben."
„Wie ihr wünscht Herrin", antwortete er zögerlich. „Aber seid Ihr Euch auch sicher mit dem, was ihr tut?"
Sie sah ihn kritisch an, als überlege sie, ob sie ihn für diese Frage strafen sollte. Schließlich setzte sie sich auf die Bettkante und betrachtete erneut ihr Spiegelbild.
„Mein Vater sagte einmal, wahre Freundschaft endet nicht mit dem Leben. Sie lebt im Herzen weiter." Sie wandte den Blick ihrem Spion zu. „Aber er hat nicht gesagt, wie weh es tut, wenn sie nur noch darin existiert. Ich kann nicht zusehen, wie ich die Menschen verliere, die ich liebe."


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