Die Gegenwart - Wiedersehen #1

Asmos tippte unruhig auf dem frisch polierten Tisch herum. Um seine Position am Tischende reihten sich die wichtigsten Männer seines Staates: Gleich zu seiner Linken Hauptmann Vlorren, zur Rechten Anela, die einstige Spionin ihrer Widerstandsgruppe. Nach dem Sturz des Königs hatte sie den Oberbefehl über die Armee erhalten. Dahinter, je nach Grad der Wichtigkeit, die Ratsherren der kleineren Städte. Er hätte sich deren Anwesenheit auch sparen können – bis auf seine einstigen zwei Freunde wagte es keiner, sich zu Wort zu melden. Aber nachdem er extra zu solchen Anlässen einen großen Versammlungsraum hatte anlegen lassen, wollte er diesen nun nicht nur mit drei Mann, sich mitgerechnet, besetzt sehen.
Er nahm einen großzügigen Schluck aus dem Kelch gleich vor sich und stellte ihn geräuschvoll wieder ab. Die Speichellecker um ihn herum nutzten diese Gelegenheit sofort, um es ihm gleichzutun, weiter Zeit zu schinden. Doch etwas hatte sich gewandelt. Er sah es in ihren Gesichtern arbeiten. Die schier endlose Untertänigkeit war gewichen und hatte der Frage Platz gemacht, warum gerade er es war, der das Ende des Tischs einnahm. Wie gerne hätte er sein Amt dem Nächstbesten weitergegeben. Doch was dann? Seine einzige Ausflucht aus seinem einstigen Leben, die Hoffnung, für Frieden und Ordnung in diesem verworfenen Land zu sorgen, wäre dahin. Er würde wieder zurückgestoßen in den Trübsinn über seinen Verlust, den weder Zeit noch Gesellschaft ihm nehmen konnten.
Plötzlich schlug er so kräftig auf den Tisch, dass sich zwei der Ratsmitglieder beim Trinken verschluckten und ein abgestellter Becher umkippte und seinen Inhalt sowohl über das neue Mobiliar als auch über dessen Besitzer entleerte. Dieser wagte es nicht, aufzufahren, sondern stellte ihn einfach wieder aufrecht hin, ehe er erstarrte.
„Zwei Wochen! So lange nun sucht ihr nach diesem vermaledeiten Dieb! Und was habt ihr mir bisher gebracht? Einen uralten Bauern, dessen einst blondes Haar von grauen Strähnen durchzogen ist." Er machte eine hörbare Atempause, eher er beherrschter weitersprach. „Einen vielleicht fünfzehn Zeitkreise alten Jungen, der sich beim Schwarzbeerensammeln die Haare beschmutzt hat. Oh ja und die Krönung, eine Frau!" Das letzte Wort spuckte er geradezu aus.
Anela war sich während der Ausführungen nachdenklich durchs Gesicht gefahren, wohl, weil sie versuchte, ein Lachen zu vermeiden. Als Asmos dies als Zeichen etwas zu sagen deutete, winkte sie nur ab, worauf er genervt aufseufzte.
„Ich suche einen jungen Mann", begann er mit ruhiger Stimme, die jedoch schon recht schnell lauter wurde. „Strohblondes Haar, mit grauen und schwarzen Strähnen darin. Er trägt einen blutroten, leuchtenden Stein bei sich. Dieses Kleinod sollte euch bekannt vorkommen, denn er hat es mir gestohlen! Erzählt mir nicht, dass so jemand nicht auffällt, wenn er durch die Straßen zieht. Sind eure Wachen blind oder eure Spione komplett unfähig?"
Bei den letzten Worten warf er erneut einen Blick auf Anela, der auch einige ihrer besten Spione unterstanden. Normalerweise ließ sie sich von niemanden etwas sagen, hatte schon eine Menge Männer zum Schweigen gebracht. Aber bei dieser Anschuldigung versank sie in ihrem Sessel.
Er ließ noch eine Minute verstreichen. Dann fuhr er sanft, beinahe liebkosend, über die Platte vor sich.
„Ich erwarte Vorschläge – sofort!", versuchte er so ruhig wie möglich zu sagen. Es war nicht nur der Verlust des Andenkens an seinen Vater, was ihn so gereizt machte. Es war die Erkenntnis, dass er einen Sohn hatte – dass die Mordversuche nie ihm gegolten hatten. Damit einhergehend kam die Erinnerung an eine Person in ihm auf, deren Existenz er in den vergangenen Zeitkreisen versucht hatte, aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Aber hatte er seine ehrgeizigen Pläne nicht gerade wegen ihr vorangetrieben? Hatte er nicht in einer Nacht voller Trauer und Niedergeschlagenheit ihre Befreiung geplant? Einzig die Furcht, dass es ihr gut ging und sie gar keiner Rettung bedurfte, hatte ihn abgehalten. Doch wenn ihrer beider Kind das Ziel der Absconden war, dann konnte es ihr nicht gut gehen. Wahrscheinlich war sie ihre Gefangene, diente der Kontrolle seines Sohns. Trotzdem wusste er auch nach all der Zeit nicht mit Sicherheit zu sagen, ob sie ihn damals bewusst hatten leben lassen oder ihn nur verfehlt hatte. Die Hoffnung, dass sie seinen Tod nur vortäuschen wollte, hatte ihn all die Zeit am Leben gehalten. Gleichzeitig hatte sie ihm jede neue Liebe verwehrt.
„Wir müssen davon ausgehen, dass es sich bei dem Täter um einen Absconden handelte", unterbrach Anela seine gedankliche Entgleisung. Auf einige verwirrte Blicke der Anwesenden hin fuhr sie erklärend fort: „Ein Volk, das versteckt in den Bergen fernab der Sonne lebt. Die meisten kennen sie nicht und die wenigen, die Kontakt zu ihnen pflegen, nutzen ihre Dienste als exzellente Assassinen. Ein Volk voller unschlagbarer Mörder", fügte sie düster hinzu. „Keiner von uns wäre zu solch einer Raffinesse in der Lage."
„Und weiter?", gab Asmos sich ungeduldig.
„Er wird schon lange außer Lande sein, geflohen auf Pfaden, die wir nicht nachvollziehen können."
„Dann müssen wir in den umliegenden Ländern um Hilfe bitten!", ereiferte sich Vlorren.
„Selbst wenn uns unsere nicht allzu wohl gesinnten Nachbarn helfen würden. Anelas Beschreibung nach würden diese ebenso wenig Erfolg haben wie wir", sagte Asmos mit tiefer Resignation. Er stützte sich genervt auf seinen Arm und spielte mit dem Knauf des Dolchs an seiner Seite.
„Aber er muss doch einmal rasten, Vorräte einkaufen, irgendetwas bei dem man ihn aufspüren kann!"
„Du scheinst mich nicht recht verstanden zu haben, Vlorren", argumentierte Anela wütend dagegen, „diese Gestalten leben in Höhlen. Sie sind es gewohnt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. Er wird in der Wildnis schlafen und seine Nahrung eigenhändig erbeuten."
„Warum eigentlich diese Mühe wegen eines Schmuckstücks?", meldete sich zum ersten Mal einer der Ratsherren zu Wort. Er war ein noch recht junges, vor Kurzem erst eingesetztes Regierungsmitglied. „Meine Gardisten müssen Tag und Nacht wach sein, haben kaum noch Zeit die Städte zu schützen, weil sie Wälder durchkämmen, Straßen absichern und Häuser durchsuchen."
Asmos musterte den Mann kritisch. Früher hätte es solcherlei Einwände gegen seine Befehle niemals gegeben. Wie lange würde seine Herrschaft noch anhalten, wenn die Loyalität seiner Untergebenen bereits jetzt ins Wanken geriet?
Vlorren stand abrupt auf, sodass sein Stuhl polternd hinfiel. „Zügelt Eure Zunge! Dieser Absconde oder was auch immer, hat nicht nur diesen Stein gestohlen. Er hat mehrere Menschen ermordet und das Leben unseres Königs bedroht!"
„Das mag sein, aber wir suchen nun seit zwei Wochen erfolglos nach ihm. Meine Männer zweifeln langsam an der Sinnhaftigkeit dieser Aufgabe."
„Dann sagt euren Männern gefälligst ...!"
Asmos erhob sich und legte Vlorren beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Mit sanfter Gewalt drückte er ihn zurück in seinen Stuhl. „Beruhige dich, mein Freund." Gleich darauf wandte er seine Stimme wieder an die Versammlung. „Ich kann euren Unmut und den eurer Leute verstehen, meine Herren. Jedoch geht es bei diesem Stein, wie ihr ihn nennt, nicht nur um ein Schmuckstück. Es ist ein uraltes Artefakt, das Kräfte birgt, die Erstaunliches zu bewirken vermögen."
Verhaltenes Gelächter ging durch die Menge, aber keiner wagte es, lautstark zu widersprechen. Zu Zeiten, als er den Stein noch besessen hatte, war das nie passiert. Er vermisste die subtile Macht über Menschen, welche er jetzt, da er sie nicht mehr besaß, mit jeder Sekunde schmerzlicher. Anfangs war es ihm falsch vorgekommen, doch nachdem er alles zum Wohl dieser Leute tat, empfand er ihren Eifer, seine Pläne zu unterstützen, als nützlich. Abgesehen davon hatte der Stein ihm selbst Kraft gegeben. Eine innere Stärke und das Selbstbewusstsein, welches ihn sogar den Tod seiner Mutter hatte überwinden lassen, fehlten nun. Von Tag zu Tag fühlte er sich matter, als sauge etwas die Energie aus ihm. Unbewusst hatte er den anderen den Rücken zugekehrt. Nun drehte er sich bedächtig herum. Sein ernster Blick wanderte von Anela zu Vlorren und dann über den Rest der Versammlung hinweg.
„Ihr habt noch eine Woche Zeit, bis ich eure Fähigkeit als Führungspersonen infrage stellen muss. Schöpft jegliche Möglichkeit aus. Sucht ihn meinetwegen in Medianu oder in den nördlichsten Gebirgen, segelt über das Meer – jede Ecke dieses Kontinents muss nach ihm durchkämmt werden! Die Versammlung ist hiermit beendet."
Bevor noch irgendjemand etwas dazu sagen konnte, war er aus der Tür hinaus. Die anderen sahen ihm teils bedrückt, teilweise erbost nach.
„Und für so was wurde der alte König gestürzt", murmelte der jüngste der Ratsherren, ehe er als Erster nach Asmos verschwand.
Vlorren eilte ihm sogleich nach, Anela direkt dahinter. Sie musste ihn im angrenzenden Gang festhalten, damit er dem Ratsherren nicht gleich an die Gurgel ging.
„Ihr habt ja keine Ahnung, was Asmos für dieses Land getan hat!", schrie er ihm hinterher.
Der Angesprochene lachte nur erheitert und ging weiter seines Weges.
„Wie heißt der Kerl?", wandte er sich direkt an Anela.
Sie verengte die Augen. „Das war Gardener Zann. Früher Gardist in Venideg. Nach dem Sturz des alten Königs nutzte er die Gelegenheit, seinen gegen Asmos rebellierenden Vorgänger zu entmachten."
„Woher weißt du das alles?" Vlorren verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie schief an.
„Ich war Spionin, schon vergessen?" Ihre tiefgrünen Augen blinzelten spöttisch. „Und nun befehlige ich eine kleine Armee von ihnen, ich bin bestens informiert."
„Wir spionieren unsere eigenen Leute aus?"
Sie sah ihn an wie ein kleines Kind, das eine äußerst dumme Frage gestellt hatte. „Natürlich, gerade die." Mit einem Schmunzeln wanderte ihr Blick nach unten. „Wenn ich wollte, wüsste ich bis morgen die Länge deines Gemächts."
Er griff sich instinktiv schützend dorthin und trat ein paar Schritte zurück. „Ich werde dann wohl besser ein paar Männer nehmen und die Suche fortsetzen."
„Ich sehe zu, dass ich dir einen meiner besten unter die deinen mische", fügte sie in sarkastischem Tonfall hinzu.
„Nein!"
„Natürlich nur damit wir in Kontakt bleiben können, falls es nottut!"
Mit einem resignierenden Seufzer winkte er ab und zog von dannen. Sie sah ihm noch eine Weile nachdenklich nach und blieb auch noch stehen, als sich der Rest der Versammlung wie eine lange Prozession hinausbegab.
„Ich fürchte, wir brauchen dich eher hier, als auf der Suche nach diesem verdammten Stein", murmelte sie sorgenvoll.
Vlorrens Suchtrupp, bestehend aus zehn Männern seines Vertrauens, brauchte nicht lange. Rasch sattelte man Pferde, packte man den nötigen Proviant ein und verließ die Stadt. Er hatte nicht vor, Asmos zu enttäuschen, der ihnen damals den Sieg gebracht hatte. Aber wo sollte er noch suchen? Er war bereits jede Straße, jeden Trampelpfad abgeritten, doch keine Spur von dem mysteriösen Täter. Wenn Anela recht behielt, befand sich der Täter außerhalb von Flarrenz.
Die Grenze mit einem Trupp bewaffneter Männer zu überschreiten, könnte als Kriegserklärung gewertet werden. Zwar könnte Vlorren sein Tun begründen, doch ihre Nachbarn warteten womöglich nur auf eine solche Gelegenheit. Asmos Regentschaft war noch zu jung und verletzlich. Viele beneideten ihn um seinen plötzlichen Aufstieg, sahen ihn als nicht ebenwürdig.
Andererseits, was sollte schon passieren? Wenn er keine Ergebnisse brachte, wäre er vielleicht bald seinen Posten los. Er hatte Asmos nie so ernst gesehen. Er nickte sich selbst zu, ehe er seiner Gefolgschaft zurief: „Wir reiten nach Norden! Folgt mir!"
Vom Fenster seines Schlafgemachs aus beobachtete Asmos die ausziehenden Soldaten. Auch die Ratsherren, an erster Stelle Gardener Zann, zogen von dannen. Wütend drehte er sich um. Nebst seiner Bettstätte stand ein mannshoher Spiegel. Aus diesem blickte ihm ein Gesicht entgegen, das sich seinem gewohnten Bild mehr und mehr entzog.
Sein Haar war dunkler geworden, das Kinn kantiger. Er fuhr sich durch den mittlerweile viel stärker wachsenden Bart, der sein braungebranntes Gesicht bedeckte. Er hatte sich gedacht, vor fünf Zeitkreisen ausgewachsen gewesen zu sein, doch ein paar Zentimeter war er sogar noch größer geworden. Seit er sich das erste Mal in einen Wolf verwandelt hatte, fühlte es sich an, als gleiche sich auch seine männliche Gestalt der eines Tiers an.
Er war müde. Die Nächte hatte er fast ausnahmslos schlafend verbracht. Neben den vielen Gedanken, die ihn ständig quälten, fürchtete er, der nächste Assassine bräche in seine Burg ein, um sein Leben zu nehmen.
Gerade wollte er sich ins Bett legen, da öffnete sich unangekündigt die Tür. Irritiert sah er dem Störenfried entgegen, bis er sah, dass es sich um Anela handelte. Er bedachte sie mit abschätzendem Blick und sagte mürrisch: „Ich dachte, ich hätte klare Anweisungen gegeben, dass ich in meinen privaten Gemächern keine Störung wünsche."
Anela setzte sich, ohne seinen Einwand zu beachten, auf das frisch hergerichtete Laken und lächelte ihn milde an. „Das ist schon so lange her, ich habe es einmal als überholt angesehen. Und lass doch diese förmliche Art, wenn wir allein sind."
Mit verschränkten Armen stellte er sich direkt vor sie. „Das Wort des Königs ist sowohl endgültig als auch von dauerhafter Gültigkeit. Würde das Volk so handeln wie du, lebten wir bald in einer Anarchie."
Sie lachte ihn heiter an. „Hörst du dir überhaupt selbst zu? Was ist aus dem Mann geworden, der kraft- und mutlos vor vier Zeitkreisen vor den Toren Winbrucks zusammenbrach?"
„Er hat sich gemausert und sich zum König emporgehoben – auch zu dem deinen."
„Du wirst überheblich."
„Bist du nur dazu hergekommen? Um mich zu belehren? Dann kannst du auch gleich wieder gehen."
Sie schüttelte nachsichtig den Kopf, wie eine Mutter, die ihrem Kind einfach nicht böse sein konnte. „Ich komme, um dich zu warnen."
„Nicht auch noch du!", stöhnte er genervt auf.
„Ich will dir nicht den Sinn dieser Mission ausreden, aber ich befürchte, dass die Treue deiner Untertanen im Begriff ist, gefährlich zu wanken. Du solltest dich vor Gardener Zann in Acht nehmen. Ich glaube, er brütet etwas aus."
„Du meinst den jungen Ratsherren? Soweit ich weiß, hat er unseren Aufstand tatkräftig unterstützt."
„Er hat ihn ausgenutzt, um sich seine Position zu verschaffen. Und er könnte den momentanen Unmut nutzen, um gegen dich zu ziehen."
„Er und welche Armee?"
„Es wird kein großer Trupp vonnöten sein, wenn sich die Laune deiner Männer gegen dich wendet."
„Dann sollen sie doch kommen."
Anela hob verwirrt eine Braue. „Wofür hast du gekämpft, wenn du deine Position jetzt schon wieder preisgibst?"
„Ich habe euch geholfen, um meine persönlichen Ziele voranzubringen, nicht um als Herrscher zu leben."
„Und die wären?"
„Ich möchte eine Frau befreien, die sich mittlerweile vielleicht nicht einmal mehr an mich erinnert."
„Ein ganz schöner Aufwand, nur für eine Person. Hätte nicht erwartet, dass du eine romantische Ader besitzt. Und wann hattest du vor mich einzuweihen?"
Sie wirkte wie gewohnt kühl, fast schon teilnahmslos. Asmos wusste, dass es in ihr brodelte, aber sie hatte sich gut unter Kontrolle.
„Ich weiß, das muss sich ziemlich unreif anhören." Er fuhr sich nachdenklich durchs Haar.
„Nein, es klingt nach dem gewohnten, nur von Trieben geleiteten männlichen Sein", erwiderte sie keck. Sie stand auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Erzähl mir von ihr. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst."
Anfangs noch zögerlich dann mit wachsendem Elan berichtete er ihr über alles, was ihm widerfahren war. Wie er sie kennen und lieben lernte. Seine erfolglose Suche nach ihr bis zu dem Augenblick, da sie ihm das Messer in die Brust stieß. Anela lauschte zunächst interessiert. Als sie von der Zerstörung seiner Heimat erfuhr, wandelte sich Neugier in Entsetzen. Sie setzte sogar dazu an, ihn tröstend zu umarmen, aber er wehrte ab und erzählte eisern weiter, bis zu dem Punkt, da er vor den Toren Winbrucks ankam.
„Warum bist du dann nicht schon lange auf dem Weg zu ihr?", fragte sie, nachdem er geendet hatte und sie für sicher fünf Minuten kein Wort mehr verloren hatten.
„Wie soll ich sie finden? Ich weiß nicht, wo diese Absconden leben. Und immerhin hat sie versucht, mich zu töten. Außerdem, jetzt, wo ich diese Position innehabe, wird mir klar, dass ich nicht einfach unzählige Vrynn in den Tod schicken kann, nur um mein Ziel zu erreichen."
„Es wurden bereits aus schlichteren Gründen heraus Kriege geführt", beschwichtigte sie ihn.
„So will ich aber nicht sein."
Anela verdrehte die Augen. „Der Krieg gegen die Absconden wäre der erste, der wirklich Sinn ergäbe. Ihre Existenz ist mit dafür verantwortlich, dass sich die Vrynn nie unter einer Krone vereinigen konnten. Sei es, weil man sie beauftragte oder es in ihrem eigenen Interesse war. Ihre Meuchelmorde haben stets zu gewaltigem Blutvergießen unter uns geführt. Ihr Ende könnte der Anfang eines Friedens sein, den der Kontinent seit unzähligen Zyklen nicht erleben durfte."
Asmos verschränkte die Arme. „Dann hätte ihn jemand längst vor mir führen können."
„Eben nicht. Mal davon abgesehen, dass jedweder Herrscher gerne selbst auf ihre Dienste zurückgreift, so begäbe man sich damit doch selbst in die Gefahr, ihr Opfer zu werden."
„Willst du mich loswerden?", fragte er mit einem belustigten Funkeln in den Augen.
„Ich glaube daran, dass du dich zu wehren weißt. Immerhin hast du diesen Anschlag auch überlebt."
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Nichtsdestotrotz weiß ich nicht, ob sie mich überhaupt sehen will. Womöglich stelle ich am Ende fest, dass sie mich doch umbringen wollte, mein Überleben ein Versehen war."
„Dieses Rätsel wird ewig ungelöst bleiben, wenn du es nicht versuchst. Aber ich bezweifle, dass eine der ihren dich am Leben gelassen hätte, ohne das zu wollen."
„Ich kann aber keine Armee aufs Geratewohl in den Norden entsenden."
„Du kennst vielleicht nicht den Weg zu ihnen, aber ..."
„Aber du?"
„Nein, jemand anderes, den du kennst und der dir sicher helfen wird."
„Ich könnte mir niemanden vorstellen."
Anela lehnte sich vergnügt zurück. „Du bist ein wahrlich schlechter Sohn."
„Mein Vater!"
Sie klatschte wenig begeistert in die Hände und meinte nur trocken: „Wie schön, dein Kopf ist also nicht vollständig leer."
„Ich bin immer noch dein König!", sagte er schwach aufbegehrend.
Anela tippte ihm mit dem Finger auf die linke Brust. „Aber da drinnen sind wir Kameraden. Vergiss das nie." Damit erhob sie sich, streckte sich mit einem Gähnen und verließ den Raum. Auf der Türschwelle drehte sie sich um und sagte: „Und vergiss auch nicht, wer damals dafür war, dich als unseren König einzusetzen."
Asmos sah ihr noch lange nach, auch wenn die Tür verschlossen war. Er hatte ihr nicht einmal Danke gesagt. Das Herrschersein war ihm zu Kopf gestiegen, das wurde ihm nun bewusst.
Kameraden. Das Wort weckte ungewollte Erinnerungen in ihm. An einen alten Freund, den besten, den er je hatte und je haben würde. Er hatte ihn vergessen, den letzten, der ihm etwas bedeutet hatte. Rückwirkend bereute er es, ihn derartig im Stich gelassen zu haben. Er hatte ihn ersetzt, einfach ausgetauscht durch andere. Einer dieser neuen Vertrauten ritt gerade in die Ferne, erfüllte seine Mission. Wie lange schon hatte er nicht mehr die Dinge selbst in die Hand genommen? Seit wann verwendete er die, die ihm nahe standen wie Handlanger?


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