Die Gegenwart - Terroar #3

Der Weg erinnerte ihn an die Straßen großer Städte. Alle paar Schritt zweigten links und rechts Gänge ab, welche zu weit reichten, als dass er sie komplett einsehen konnte. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er ohnehin geradeaus musste. Er beschleunigte seinen Schritt, als er das erste Mal in einem der Abzweigungen das Aufblitzen von Metall, das wohl von einer Kettenrüstung ausging, bemerkte. Eine weitere Konfrontation mit kampfwilligen Parven wollte er möglichst vermeiden.
Einen Pfeilschuss weiter schwärmten die ersten Verteidiger aus einem Seitengang. Er legte es nicht darauf an, gegen sie zu kämpfen, und wich einen Gang davor nach rechts aus. Seine Kräfte waren am Ende, aber das durften seine Gegner natürlich nicht wissen. Hinter sich hörte er das wütende Stampfen der Stiefel und das Rasseln schwerer Kettenhemden, als man seine Verfolgung aufnahm. Sein einziger Vorteil war, dass er weit größere Schritte machte und ihre schweren Rüstungen sie zusätzlich verlangsamten.
Das Reich des kleinen Volkes schien nur aus einer endlosen Aneinanderreihung symmetrischer Gangsysteme zu bestehen. In den Nebengängen waren Türen in die Mauer eingebaut. Ahiro mutmaßte, dass hier die Bevölkerung untergebracht wurde. Bei der nächsten Abzweigung folgte er dem Gang zu seiner Linken, um dann erneut einige Schritt weiter über die nächste Abzweigung auf den Hauptweg zurückzukehren. Seine kurze Euphorie darüber, die Gegner damit umgangen zu haben, erlosch, als weitere Parven vor ihm den Gang verstopften. Er kehrte auf dem Absatz um und lief im Zickzack durch die Nebengänge. Sie versuchten, ihn zu umzingeln. Mehrfach war vor ihm der Weg durch Ballisten und Parvenkrieger versperrt. Seine Voraussicht sagte ihm immer, in welche Gänge er gefahrlos gehen konnte und in welche nicht. Langsam fragte er sich jedoch, ob es ihn nicht weniger ermüden würde zu kämpfen, als ständig auf der Flucht zu bleiben.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er an einer weiteren Wegkreuzung von allen Seiten angegriffen wurde. Sogar von hinten stürmte eine Abteilung der gedrungenen Krieger herbei. Ahiro lief den von vorne kommenden Gegnern entgegen, um zumindest nicht von vier Seiten attackiert werden zu können. Er hob sein Schwert weit, worauf erneut der Schild aus Feuer um ihn aufleuchtete, ehe er es dem erstbesten Parven durch die Brust trieb. Die heiße Klinge durchdrang mühelos Stahl, Haut und Knochen. Ruckartig zog er sie wieder hinaus und parierte einen Angriff von rechts. Einen von der entgegengesetzten Richtung kommenden Parven trieb er mit einem kräftigen Tritt zurück, ehe er ihm den Brustkorb aufschlitzte. Mit wütenden Hieben ging er weiter durch die Massen, die sich ihm entgegenwarfen, bis ihn die Feinde in seinem Rücken erreichten. Nun musste er durch rasche, schwungvolle Angriffe sowohl Front als auch Rücken decken. Um ihn herum erschollen die Schreie der Sterbenden, die gespenstig in den weiten Korridoren widerhallten.
Der Wunsch, aufzugeben und sich ihren Hieben zu ergeben, wurde schier übermächtig. Seine Arme fühlten sich steif an, bewegten sich nur noch wie durch zähen Brei.
Er bückte sich plötzlich. Einen Parven, der ihm das Beil in den Rücken schlagen wollte, drückte er hoch, worauf dieser von einem gerade abgefeuerten Bolzen durchbohrt wurde. Kraftvoll schmetterte er den Körper zu Boden, wo er mit einem hörbaren Krachen der Wirbelsäule aufprallte. Ein weiterer erlag seinem verzweifelten Hieb, nachdem er zuvor die hölzerne Haltestange dessen Beils durchtrennt hatte. Ein Rundumhieb erledigte Gegner in seinem Rücken. Doch ein auffällig kleiner Krieger entging seiner Aufmerksamkeit und schlug ihm das Beil seitlich in sein Bein. Mit einem Aufschrei sprang er zurück und stieß dabei einige Widersacher zur Seite, die sich an seinem flammenden Schild verbrannten.
Es waren zu viele. Der nächste Treffer wäre sein letzter, das war ihm klar. Ahiro mobilisierte den letzten Funken an Kraft. Mit einem kräftigen Satz gelangte er wieder zu seinem Widersacher und durchstieß seine Brust mit Ignatz Klinge. Ahiro nutzte den zu Boden Fallenden als Rampe und sprang mit dem gesunden Bein über die restlichen hinweg. Sein Schwert schleifte er hinter sich her. Wütend presste er die Zähne zusammen, da ihm bei jedem Schritt ein scharfer Schmerz durch das Bein schoss. Seine Verfolger gaben ihm jedoch genügend Motivation sich, alle Schmerzen ignorierend, zu beeilen. Er schaffte es, wieder zurück in den Hauptgang zu kommen. Er nutzte de
Moment, in dem dieser völlig leer war, und rannte los. Dabei ließ er jegliche Aufmerksamkeit fallen, welche ohnehin vor allem seiner blutenden Wunde galt. All sein Tun galt dem Vorwärtspeitschen seiner Beine, die wie klobige Stöcke plump auf dem Boden auftrafen und ihn wankend vorwärtstrieben.
Er bemerkte zu spät den um die Ecke huschenden Schatten und stieß unvorbereitet mit einer Parvin zusammen. Sie schien auf der Flucht zu sein. In den Armen hielt sie ein schreiendes Kind, das sie nun daran hinderte, wieder auf die Beine zu kommen.
Hinter ihm wurde das Trappeln von Schritten lauter. Auch wenn sie ihn nicht bedrohte, so wuchs doch rasend schnell ein Hass gegen sie in seinem Innern. Sie behinderte sein Fortkommen, er musste sie dafür leiden lassen. Sie kauerte sich zusammen, schützte ihr Kind mit ihrem Körper, als er Ignatz drohend erhob. Doch irgendetwas ließ ihn zögern. Für einen Moment fühlte er sich wie in der Zeit zurückversetzt.
Ein Augenblick der Schwäche, den seine Verfolger nutzten. Jäh brach die Realität über ihn herein, als ihn ein gut zwei Meter langer Bolzen durchbohrte.
Ungläubig ließ er das Schwert fallen, der feurige Schutzmantel verschwand. Er umfasste die Spitze mit den Händen, während er krampfhaft versuchte, nicht aufzuschreien.
„Du Narr! Wozu hast du deine Hellsicht, wenn du sie nicht nutzt?", hörte er Ohrgotts vor Wut überschäumende Stimme am Rande seines Bewusstsein.
Ahiro sank auf die Knie und stützte sich schwer ab. Die Mutter vor ihm nutzte die Gelegenheit und rutschte von ihm weg. Hinter sich hörte er die mit zunehmender Nähe lauter werdenden Schritte seiner Häscher.
Es war nur eine weitere Prüfung. Er hustete, worauf sich ein kleiner Schwall Blut, auf den Boden ergoss und sich mit der Lache vereinte, die die Wunde im Bauch erschuf. Es war noch nicht vorbei. Seine zittrige Hand führte Ignatz hinter sich. Die Klinge loderte so heiß auf, dass sie nahezu weiß wurde und schmolz Stück für Stück den Bolzen, dessen Schaft schließlich polternd zu Boden fiel. Er ließ die Waffe fallen. Es war unvorstellbar, weiterzukämpfen. Wütend riss er sich in die Höhe und zog an dem Rest des Bolzens. Mit nahezu animalischer Kraft riss er ihn hinaus, bis das Geschoss polternd zu Boden fiel.
Seine behandschuhten Hände berührten vorsichtig das Loch in seinem Bauch. Kurz darauf waren sie blutgetränkt. Er machte zwei wankende Schritte vorwärts und lachte grell. Diese Wunde war sein Todesurteil. Sein Lebenssaft floss aus ihm hinaus wie Wein aus einer Flasche.
In der Ferne, ein gutes Stück vor ihm, spürte er sein Ziel. Während er in einen torkelnden Laufschritt verfiel, nagten an ihm die Zweifel, ob er es noch erreichen konnte. Er wollte es wenigstens sehen. Sein letzter Blick sollte nicht nach oben gewandt sein, derweil ihn unzählige parvische Beile zerteilten.
Mit jedem Tropfen Blut, welcher sich auf den Boden ergoss, fühlte er, wie sein Atem schwerer ging, seine Muskeln an Kraft verloren. Seine Beine wurden mehr und mehr taub und zogen ihn mehr hinab, als sie ihn vorwärts bewegten. Ahiro erreichte eine drei Stufen hohe Treppe aus poliertem Marmorgestein. Kraftlos stolperte er darüber und prallte hart mit dem Kinn auf. Sein fahrig gewordener Blick huschte hinter sich, wo die ersten Parven in einigem Abstand weiter auf ihn zuhasteten.
„Du hast es fast geschafft, verdammt komm hoch!", schrie die wütende Stimme in seinem Kopf.
Er hätte Ohrgott am liebsten angeschrien, ob er nicht die klaffende Wunde in seinem Bauch bemerkt hatte. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch fähig war, zu atmen. Aber nun verweigerten seine Beine ihm jeden Befehl. Es war als hätte sich jeder letzte Tropfen Lebenssaft in seiner Brust gesammelt, um seine Atmung noch eine Weile aufrechtzuerhalten, wenn auch nicht für lange. Sein Unterleib erschien ihm gar nicht mehr existent. Als hätte eine gewaltige Axt ihn vom Rest seines Körpers abgetrennt.
„Was würde deine Mutter sagen, wenn sie dich heute hier versagen sehen würde?", herrschte Ohrgott ihn erneut an.
Für einen kurzen Moment wich der stoische Ausdruck aus Ahiros Augen. Verschwommene Bilder, von denen er nie wusste, ob sie der Realität oder irgendeinem abstrusem Albtraum entsprangen, flogen durch seinen Kopf. Er sah eine wunderschöne Frau. Man zog sie an ihrem silbrigen Haar auf einen öffentlichen Platz. Rundherum sah man die unzähligen Schaulustigen. Wesen, die sich an der blutigen Zurschaustellung ergötzten. Die Frau schrie nicht, sie weinte nicht. Ein tiefer Ausdruck der Resignation hatte sich in ihrem Gesicht breitgemacht. Der Henker hob ein klobiges Breitschwert in die Höhe. Die Klinge klebte noch voller Blut, längst vergessener Straftäter. Eine Hand schob sich vor sein Gesichtsfeld. Das Szenario verschwamm vor seinen Augen und machte einer rasanten Flucht Platz.
Ahiros Hand schnellte nach vorne und verkrallte sich in einer Ritze zwischen zwei Bodenplatten. Er zog seinen blutenden Körper gewaltsam weiter. Hinter sich zog er eine immer dünner werdende Blutspur nach. Um sich herum nahm er vage eine beträchtliche Anzahl von mannsgroßen Statuen wahr. In ihren Händen hielten sie Schwerter, wie zum Appell nach oben gerichtet. Ihre anklagenden Gesichter wiesen zur Mitte des Raums hin, wo auf einem Podest eine zweischneidige Axt thronte, welche mit der Klinge nach oben aus dem Marmor ragte.
Als er nur noch eine Handbreit davon entfernt war, kam Bewegung in die steinernen Wächter. Ahiro beachtete es gar nicht, seine Augen bemerkten die Regung, aber sein benebelter Verstand nahm es gar nicht mehr auf. Während er sich Stück für Stück den Weg nach oben bahnte, bewegten auch sie sich auf ihn zu. Hinter ihm hörte er die Parven, die gerade die Treppe erklommen. Gleich wäre es zu spät. Mit einem letzten Ruck nach vorne erreichte er die Axt. Die Wächter erhoben ihre Waffen zum Schlag. Unerwartet gerieten die Parven ins Stocken, auch die Wächter regten sich nicht mehr.
Ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht erfüllte den Raum. Sekunden später erkannte Ahiro warum: Die Axt, die komplett aus festem Granit bestand, schien zu zerbröckeln. Aber das war ein Trugschluss. Viel eher verlor sie eine sie umgebende Gesteinsschicht, worunter hell glänzendes Metall sichtbar wurde. Die doppelschneidige Klinge maß ungefähr das doppelte von Ahiros Kopf und war in einem hellen Braun gehalten. In Richtung des Stiels wurde diese Farbe mehr und mehr durch die silbrige geschmiedeten Stahls ersetzt. Eine beruhigende Melodie, die in seinem Geist widerklang ging von ihr aus. Sie breitete sich gemächlich in ihm aus, brachte sein Innerstes zum Schwingen, bis sein Herz im monotonen Takt des Liedes mitschwang.
Das Lied erzählte ihm die Geschichte der Waffe. Er sah eine Blume, die erste ihrer Art. Sie wuchs tief unter der Erde. Ein einzelner fahler Lichtstrahl, der durch die Decke ihrer Höhle fiel, verhalf ihr zum Wachstum. Ahiro betrachtete die Blume genauer. Ihre Blüte erinnerte ihn an einen Regenbogen. Es schien, als hätte sie jede mögliche Farbe des Lichtspektrums des großen Mantels inne. Kaum wandte er den Kopf nach oben, da stieß sein Geist empor und er gelangte an die Oberfläche. Mächtige Erdbeben erschütterten die ganze Welt. Vulkane brachen in sich zusammen. Gesteinslawinen regneten aus hohen Gebirgen herab und bedeckten die einstigen Lavaflüsse. Als die ganze Insel wie eine einzige Geröllhalde wirkte, zersprangen die Felsen, zerstört durch die immense Hitze unter ihnen. Mit gehörigem Knallen zerfetzten massive Felsbrocken in kleinere, welche wiederum zerfielen, bis über dem Szenario eine gewaltige Staubwolke aus aufgeworfenen Gesteinsbröckchen schwebte.
Als diese nach und nach herabregneten, bildeten sie eine vielleicht zwei Zentimeter dicke Schicht über dem Geröll. Und dann geschah das Wunder: Von einer auf die andere Sekunde brachen einzelne Grashalme aus der dünnen Erdschicht. Ihnen folgten schon kurz darauf Blumen verschiedenster Art, Sträucher, Bäume. Es war, als würde Ahiro das Wachsen von Pflanzen über ganze Zeitalter, verkürzt auf wenige Sekunden sehen. Doch bevor er sich lange an der Pracht ergötzen konnte, fiel er wieder hinunter, hinunter in die tiefe Kaverne.
Die einst so prächtige Blume lag verrottet vor ihm. Ihre Überreste versanken binnen einiger Augenblicke im Boden unter ihr, so als nehme sich die Erde ihr Geschenk zurück. Er sprang erschrocken auf, als gleich darauf die Axt, die er gerade berührt hatte, aus der Erde hervorstieß. Die Vision verließ ihn und er befand sich wieder in dem schreinartigen Raum. Mit der Axt in der Hand erhob er sich. Das Lied der Erde hatte seinen Körper geheilt. Er fühlte sich kräftiger als je zuvor.
Ungläubig berührte er die Wunde an seinem Bauch, auf der sich rauer Schorf gebildet hatte. Die Melodie verklang zu einem Säuseln. Nachdenklich wog er die Axt in der Hand. Es war eindeutig von ihrer Bauart eine zweihändig zu führende Axt. Aber seltsamerweise empfand er sie als so leicht, dass er sie problemlos mit einer Hand schwingen konnte.
„Terroar, die Erdaxt. Du hast sie gefunden Ahiro", erklang es in seinen Gedanken. Ohrgott schien zum ersten Mal seit Stunden ehrlich erfreut.
Ahiro machte einen Ausfallschritt nach vorne. Wie er erwartet hatte, zerstoben die Parven vor ihm. Er hatte ihr ureigentümliches Artefakt in der Hand, den Grund, warum sie hier unter der Erde lebten: Um Terroar zu schützen. Er lächelte verschmitzt über diesen Gedanken und schritt gemächlich den Hauptgang entlang. Auf dem Weg sammelte er Ignatz ein und befestigte das Schwert an seinem Gürtel, ehe er das Reich der Parven verließ.
„Wohin gehen wir jetzt?", fragte er seinen Führer in Gedanken.
„Nach Norden - Richtung Cael Astrum, das Reich der Volith."
Ahiros Gedanken schweiften kurz ab, wanderten zurück zu der Parvenmutter, die ihr Kind mit ihrem Leben geschützt hatte. Ohrgott schien seine Gedanken lesen zu können.
„Versinke nicht in Melancholie über ihren Tod. Nutze deine Trauer darüber, um noch mehr zu hassen!"
In Ohrgotts Stimme schwang etwas Drohendes mit, was seine Forderung als unabdingbar erscheinen ließ. Aber Ahiro merkte es gar nicht richtig. Viel zu tief war er schon im Bann dieses uralten Wesens.


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