Die Gegenwart - Petarch #2

Endlich erreichte er sein Ziel. In der Dunkelheit wirkte die massive Festungsanlage wie ein einziger, sich in gewaltige Höhen hochschraubender Turm. Zum ersten Mal kamen in ihm kurz Zweifel auf, ob er diese Anlage erklimmen konnte. Hinter der Säule eines Torbogens versteckt, lud er seinen Rucksack ab und lehnte den Windbogen an die kalte Wand. Er musste wachsam sein. Zwar war er ein ganzes Stück weit von der Mauer entfernt, aber hier in der direkten Umgebung des Königshauses tummelten sich ungleich mehr Wachen als im Kern der Stadt.
Zwei Patrouillen zu je drei Mann liefen den vorderen Teil der Mauer auf und ab. Sie kreuzten sich jedes Mal ungefähr vor dem Tor. Bis sie erneut einen der zwei Flankiertürme erreichten und dann zurück zum Tor zogen, hatte er genug Zeit seinen Plan durchzuführen.
Nachdenklich musterte er die Zinnen der Anlage. Auf der vorderen Mantelmauer standen vier mit Fackeln ausgestattete Bogenschützen und blickten stur nach unten. In den zwei Flankierungstürmen, als auch in den Türmen, links und rechts des Tores sollten sich diese ebenso aufhalten. Aber sie mussten ihn erst einmal sehen, um ihn zu erschießen.
Grinsend schlich er sich mit gezogenem Bogen und aufgelegtem Pfeil nach vorne. Ventar war bekannt für seine geräuschlosen Schüsse. Außerdem sagte man dem Bogen nach, dass der Pfeil immer direkt auf sein Ziel zuflog, egal wie schlecht der Schütze war. Ahiro hatte ein dünnes, aber stabiles Seil an dem Schaft des Pfeils angebracht. Er zielte auf das der Stadt zugewandte Fenster des rechten Turms und feuerte. Lautlos zischte das Geschoss durch die Luft und flog durch das Fenster.
Wenn die Legenden um den Bogen recht behielten, hatte er den Wächter innerhalb des Turms mit seinem Schuss getroffen. Er hatte Glück - den restlichen Schützen, die stoisch nach vorne schauten, war bisher nichts aufgefallen. Vrynn waren nun mal dafür bekannt schlechte Wachen abzugeben. Die viele Zeitkreise währende, immer gleichbleibende Arbeit ließ ihre Aufmerksamkeit mürbe werden.
Mit mehrmaligem Ziehen prüfte er die Festigkeit des Seils, ehe e daran emporkletterte. Der Widerhaken, den er vorne angebracht hatte, war hoffentlich stark genug, sodass der Pfeil nicht aus seinem Opfer hinausfiel. Er war sich sicher, dass seine Kletterei früher oder später auch von dem schlechtesten Wächter wahrgenommen werden musste - und er behielt recht. Auf halbem Weg nach oben, stieß einer der Männer einen Warnschrei aus und zog seinen Bogen.
Nun versuchte Ahiro nicht mehr länger, sich geräuscharm fortzubewegen. Emsig, wie eine Spinne, erklomm er die Mauer. Der erste Pfeil flog messerscharf an ihm vorbei, als er gerade nach dem Sims des Turmfensters langte. Bevor er Opfer weiteren Beschusses wurde, zog er sich ins Innere des Turms. Dort wurde er sofort von einem Schützen begrüßt, der durch die offene Tür eilte. Nur leicht bewaffnet mit einem Kurzschwert, wie dieser war, beseitigte Ahiro ihn problemlos.
Im anderen Turm wurde bereits die Alarmglocke geläutet - Zeit, sich zu beeilen. Dem Nächsten, der den Turm betreten wollte, schlug er die Tür wuchtig gegen den Leib. Er prallte zurück und bildete ein Hindernis für seine nachfolgenden Kameraden. Eilig verschloss Ahiro die Tür mit einem Balken. Es gab zwei weitere Ausgänge in dem Turm. Einer führte über eine Treppe nach unten. Er nahm an, dass von dort Nahkampfeinheiten zu ihm hinaufgeschickt würden. Mithilfe eines großen Tisches blockierte er den Aufgang provisorisch, ehe er sich gegen die letzte unverschlossene Tür warf und nach draußen trat.
Über den östlichen Wehrgang raste er auf die überraschten dort postierten Schützen zu. Im Laufen zog er Ignatz, dessen heller Glanz die Verteidiger blendete. Schon war er an dem ersten Schützen heran und durchtrennte den leichten Lederpanzer mit einem einzigen machtvollen Schlag. Die feurige Klinge brannte sich durch seine Kleidung und zerfetzte Haut und Knochen. Ahiro sprang weiter nach vorne, machte eine Drehung, um eventuellem Pfeilbeschuss auszuweichen, und stieß sein Schwert dem nächsten in die Brust. Er nutzte dessen Körper, um eine Salve von Pfeilen abzuwehren, ehe er den leblosen Kadaver auf den darauf folgenden Kontrahenten warf und über die Zinnen auf die daneben liegende Treppe sprang. Über diese gelangte er schnell in den Innenhof. Schon rief man den Infanteristen, die in den Turm eingedrungen waren nach, dass er bereits woanders war. Aber er würde ihnen keine Zeit lassen, ihn einzuholen.
Am Fuße der Treppe angekommen, rannte er blindlings auf die zahlreichen Gebäude im Innenhof zu. In einer Lücke zwischen zwei einfachen Ziegelsteinhäusern gönnte er sich eine kurze Rast.
Die Zahl der Verteidiger schien sich nur auf eine Handvoll Krieger zu begrenzen - zumindest machte er keine weiteren aus, die nach ihm suchten. Ungewöhnlich für solch ein riesiges Bollwerk. Wahrscheinlich erwartete der junge Herrscher keinen Angriff, nachdem er den Blutstein besaß, der ihm die Loyalität seines Volks sicherte.
Ahiro überlegte einen Moment, ob er sie nicht einen nach dem anderen ausschalten sollte. Der schrille Klang der Alarmglocke ließ ihn derlei Gedanken jedoch rasch wieder vergessen. Wer wusste schon, wie viele Kämpfer aus der Stadt zu Hilfe kamen? Er schloss die Augen und packte den Griff des Dolches, der ihm um den Hals hing. Ein Andenken an Zeiten, als seine Welt noch in Ordnung war. Eine äußerst kurze Zeitspanne also. Seine zerbrochene Spitze jedoch erinnerte ihn immer wieder an sein eigenes Leben. Zu früh schon hatte er das Gute daraus verloren, war auf diesen Pfad gezwungen worden. Er unterdrückte die Gefühle, die in ihm, bei dem Gedanken an das Vergangene, aufkamen. Sie würden ihn nur verwundbar machen. Im Schutz der Häuser zog er in Richtung des Hauptgebäudes. Um ihn herum machte sich hektisches Treiben breit. Wachmänner liefen aufgeregt mit Fackeln umher, manche allein, andere in Grüppchen. Auch von den Zinnen aus suchte man fieberhaft nach ihm. Die Situation spitzte sich zu.
Er verschnaufte im Schatten eines Mauervorsprungs und sah sich um. Endlich war sein Ziel nur noch wenige Schritt entfernt. Um dorthin zu gelangen, musste er aber über einen breiten, gut einsehbaren Platz laufen. Gerade als er loshechten wollte, kamen zwei der Wachen an seinem Versteck vorbei. Er hielt mitten in der Bewegung inne, aber sie entdeckten ihn dennoch.
Bevor Ahiro es verhindern konnte, schrie einer der beiden schon nach Verstärkung, während der andere mit gezogenem Schwert auf ihn losging. Ahiro fackelte nicht lange. Er zog, um nicht unnötig aufzufallen, Terroar die Erdaxt und parierte mit der Schneide den ersten Angriff. Sein Gegner war nicht schlecht überrascht, als er die äußerst schwer wirkende Axt einhändig zurückzog und schwungvoll gegen ihn ausholte. Er machte jedoch nicht den Fehler, den Schlag abwehren zu wollen. Gerade als die Klinge wie das Beil eines Henkers herunterfuhr, sprang er zurück. Ahiro setzte ihm nach und stieß ihm den Sporn, der vorne auf der Axt angebracht war, in die Brust. Die Waffe durchdrang seinen Körper, als böte er überhaupt keinen Widerstand. Mit einem Tritt in die Magengrube schaffte er seinen Gegner beiseite.
Der Zweite stellte sich ihm sogleich wagemutig in den Weg. Ahiro musste sich beeilen, wenn er nicht umzingelt werden wollte. Noch war keine Unterstützung in Sichtweite. Er deutete einen Frontalangriff an, wogegen sein Feind die Waffe hob. Doch statt zuzuschlagen, machte er einen weiten Schritt zur Seite und sprang an seinem Gegner vorbei. Gleich darauf schlug er ihm den Axtkopf wuchtig in den Rücken. Der Wächter sah ihn nur noch kurz perplex an. Er war wohl verwundert über die Leichtigkeit, mit der er eine so große Streitaxt führte. Ahiro drückte sie tiefer in sein Fleisch. Sie schnitt wie ein Messer durch warme Butter und trennte den Rumpf vom Rest des Körpers ab.
Nun hatte Ahiro keine Zeit mehr zu verlieren. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er zu dem Haupthaus. Einen letzten verzweifelten Widersacher stieß er aus dem Weg. Der Rest der Verteidiger war noch zu weit entfernt. Kaum war er durch die Tür geschlüpft, blockierte er sie mit der Axt von innen. Sie würden schon die Tür komplett zerstören müssen, um sie aufzubekommen. Denn die Elementarwaffe würde nicht brechen, niemals.
Er rannte den Gang entlang, bis er in einen größeren Raum gelangte. Links und rechts befanden sich Treppen. Der Teppich, der sich auf ihren Stufen emporschlängelte, war mit Brandlöchern verunstaltet. Vor ihm erstreckte sich ein Rundbogen, der in den Thronsaal führte. Die Banner, die darüber angebracht waren, waren zerrissen.
„Das sieht mir nach einer gewalttätigen Machtübernahme aus", murmelte Ahiro schmunzelnd und folgte langsam dem Weg bis zum Thron. Der hölzerne Sitz des Regenten war blutverschmiert. Der neue Herrscher hatte wohl noch keine rechte Verwendung für ihn gehabt. Auch an den Wänden des Saals zeigten sich Spuren von Kämpfen. Sogar Prunkwaffen waren ihren Halterungen entnommen. Die letzte Bastion gegen die Aufständischen hatte sich mit allem gewehrt, was ihr zur Verfügung gestanden hatte. Nachdenklich fuhr er über die Lehne des Stuhls. Es erinnerte ihn an den Plan, der seine Zukunft darstellte. Nur, dass er nicht nur einen Herrscher, sondern ein ganzes Volk vernichten musste. War er dieser Aufgabe gewachsen?
„Mit den Elementarwaffen wirst du es sein. Vertrau mir", schmeichelte sich Ohrgotts Stimme in sein Gehirn ein.
Ahiro schüttelte sich unwirsch. Er hasste es, wenn der Geist seine Gedankengänge verfolgte.
„Mach dass du ..." Er konnte den Satz nicht beenden. Plötzlich bemerkte er eine Gestalt, die ihn misstrauisch beäugte. Er musste aus dem Stock darüber gekommen sein. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schien ihn nicht zu fürchten. Vielleicht lag das an dem Stein, der hell leuchtend um seinen Hals baumelte. Ahiros Mundwinkel umspielte ein Grinsen.
„Du bist also der Grund für all die Aufregung", sagte der neue Regent schmunzelnd. „Ein Jüngling bricht in meine Feste ein, ich bin erstaunt."
Er trat ein paar Schritte auf ihn zu. Das schwache Licht des Mantels, welches ihn nun durch die großen Fenster beleuchtete, ließ seine Züge deutlicher werden. Er hatte ein kantiges Gesicht und tiefbraune Augen. Seine blonden Haare trug er ungefähr schulterlang. Sie wirkten, genau wie sein Bart, als hätte er schon lange keine Zeit mehr auf ihre Pflege verschwendet.
Irgendetwas an ihm kam Ahiro bekannt vor. Er konnte es nicht in Worte fassen, war er sich doch sicher, diesen Mann nie kennengelernt zu haben. Noch einmal musterte er ihn genauer und auch sein Gegenüber begutachtete ihn mit kritischem Blick.
„Wer bist du?", durchbrach die verwirrte Stimme des Regenten die Ruhe.
Für einen Moment umwölkte sich Ahiros Verstand. Er konzentrierte seinen Blick, die Konturen um ihn herum verschwammen und wurden zu wellenartigen Gebilden, die hin und her wogten. Um seinen eigenen Körper pulsierte eine tiefschwarze Masse wild zuckender Wellenbewegungen. Ohrgotts Gestalt umfloss ihn. Mit einer wütenden Handbewegung versuchte er, ihn wegzuwischen. Gleichzeitig fühlte er, wie seine Ungewissheit sich in wilde Entschlossenheit wandelte.
Mit einer wütenden Bewegung entscheidete er Ignatz. Die Klinge leuchtete auf und züngelte seinem Gegner entgegen. Sein Kontrahent zögerte keinen Moment und zog ebenfalls blank. Das Licht des Blutsteins um seinen Hals intensivierte sich.
Ahiro rannte los und schlug nach ihm. Sein Gegner wehrte den Hieb lässig ab. Die Feuerklinge schrammte Funken sprühend über die seine. Sofort wollte Ahiro mit einem Tritt nachsetzen, aber er schien seinen Zug vorherzusehen und drehte sich weg. Im Gegenzug hieb er nach ihm, drückte Ahiro zurück, bis er gegen die Wand prallte. Ahiro lächelte zufrieden, scheinbar hatte er einen würdigen Gegner gefunden. Einen, der dieselbe Voraussicht und eine ähnliche Stärke besaß. Aber seine Waffe war aus einfachem Stahl.
Mit wilden Hieben drängte er den König nach hinten, während Ahiros konzentrierter Blick nicht mehr ihn, sondern nur noch seine innerste Substanz sah. Er durchforstete alles an seinem Körper, machte aber keine vehemente Schwachstelle aus. Doch sein Schwert war oft benutzt und wies einige Scharten auf. Er zielte mit jedem Hieb auf die schwächste Stelle.
„Du willst wissen, wer ich bin?", schrie er ihm entgegen, als er einen weiteren wuchtigen Schlag ausführte.
„Ich bin das Kind der Viere, aus dem Blute zweier."
Sein Gegner versuchte, ihn mit einem Ausfallhieb zurückzudrängen, aber er wich galant aus.
„Das Kind des Verrats, Verrat am eigenen Fleisch."
Plötzlich stockte der Regent in seiner Bewegung. Ahiro nutzte das aus und attackierte ihn überraschend. Im buchstäblich letzten Moment erwachte er aus seiner Starre und hielt Ahiro seine Waffe entgegen. Doch es wirkte, als wäre plötzlich alle Moral, jeder Kampfeswille aus ihm gewichen. Mit einer Tirade aus links- und rechtsgeführten Schlägen zermürbte er ihn zusehends.
„Träger der Elemente, Untergang der Absconden!" Wie um diesen Teil der Prophezeiung zu unterstreichen, schossen weitere Flammen an Ignatz empor und ließen die Klinge glühen wie frisch geschmiedetes Eisen.
„Freund des Feinds aller."
Ahiro drehte sich und nutzte den Schwung, um ein letztes Mal die Schwachstelle der gegnerischen Waffe zu treffen. Mit einem hellen Klirren zersprang dessen Schneide. Sofort war er zur Stelle, um ihm Ignatz Knauf vor die Brust zu schlagen. Der Getroffene fiel widerstandslos zu Boden. Sein Blick war nach wie vor starr auf Ahiro gerichtet. Trotz seiner Niederlage zeigte er keine Furcht, nur maßlose Überraschung, vielleicht sogar Schrecken. Ahiro ließ sich davon nicht irritieren. Er hielt ihm die Elementarwaffe, deren Feuer wieder von ihr gewichen war, an seinen Hals. „Mein Kommen zeugt vom Tod des Volkes der Aculeten." Er machte eine merkliche Pause. „Also, sag du mir, wer ich bin."
Doch kein Wort drang über die Lippen seines Kontrahenten. Ahiro schüttelte nur den Kopf darüber. Irgendwie war er enttäuscht, wusste aber den Grund dafür nicht. Er streifte ihm den Blutstein oder auch Petarch, wie er richtig hieß, ab und nahm ihn an sich.
„Wenn du es herausfindest, sag es mir. Es würde mich interessieren."
Mit diesen Worten ließ er ihn zurück. Seine Mordlust war für heute gestillt. Und aus irgendeinem Grund wollte er ihn nicht töten.


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